An niemanden liefert Bundeskanzlerin Merkel so viele Waffen wie an Präsident Erdogan

Die Beziehungen der Türkei zu dem Großteil der europäischen Länder waren in jüngerer Vergangenheit unbeständig und wenig freundschaftlich. Aber zu einem europäischen Land unterhält Ankara schon seit Langem sehr warme und stabile strategische Beziehungen: Deutschland. Die türkisch-deutschen Beziehungen sind heute trotz Erdogans Unrechtsherrschaft wieder annähernd so eng wie zu Zeiten des Ersten Weltkriegs.

Bundeskanzlerin Merkel zu Besuch in der deutsch-türkischen Universität in Istanbul, zusammen mit Präsident Erdogan, 
der in einer Regierungskoalition mit der Nazi-Partei der „Grauen Wölfe” ist.© Murat KULA / TURKISH PRESIDENTIAL PRESS SERVICE / AFP

Von Rauf Baker

1961 unterzeichneten Deutschland und die Türkei einen Pakt, der ein Gastarbeiterprogramm schuf, um die Nachfrage nach ungelernten Arbeitskräften in der boomenden deutschen Wirtschaft zu befriedigen. Heute leben rund 4 Millionen Menschen türkischer Abstammung in Deutschland. Sie sind die größte Migrantengemeinschaft des Landes.

Mit dem Machtantritt von Bundeskanzlerin Angela Merkel vor 15 Jahren erfuhren die bilateralen Beziehungen einen beispiellosen Aufschwung, der mit der Übernahme der türkischen Ministerpräsidentschaft durch Recep Tayyip Erdoğan im Jahr 2003 einherging. Erdoğan verwandelte das türkische Regierungssystem in ein präsidiales und hält seit 2014 das Amt des Präsidenten. Merkel und Erdoğan gingen eine politische Partnerschaft auf der internationalen Bühne ein, die so weit ging, dass Merkel Erdoğan im Wesentlichen zu einem Protegé machte.

Als Ankara den Energiestreit im östlichen Mittelmeerraum eskalierte, vermittelte Deutschland zwischen der Türkei und den EU-Mitgliedern Griechenland und Zypern. Es ist ein seltenes Ereignis, wenn ein EU-Land einen Konflikt zwischen Mitgliedern des Bündnisses und einem Nichtmitglied schlichtet.

Während der jüngsten Zusammenstöße in Berg-Karabach verurteilte Berlin die provokative Haltung von Erdoğan scharfzüngig. Tatsächlich schuf Merkel für Erdoğan so etwas wie einen diplomatischen Schirm innerhalb der EU, in der Hoffnung, schließlich den Ko-Vorsitz der Minsker Gruppe zu erhalten.

Selbst als Erdoğan in Nordsyrien einmarschierte, tat Merkel nichts Konkretes, um ihn aufzuhalten. Tatsächlich unterstützte sie diesen Schritt implizit, indem sie ihn als eine Methode zur Eindämmung des Flüchtlingszustroms nach Europa interpretierte. Ihre Logik war, dass ein solcher Zustrom nicht stattfinden würde, wenn es Erdoğan gestattet würde, die von der Türkei kontrollierten Gebiete in einen so genannten „sicheren Hafen“ für Syrer zu verwandeln.

 

Berlin einer der wichtigsten Geschäftspartner Ankaras

Zahlenmäßig belief sich das bilaterale Handelsvolumen zwischen der Türkei und Deutschland im Jahr 2019 auf 30,4 Milliarden Euro, wobei Berlin einer der wichtigsten Geschäftspartner Ankaras ist. Mehr als 7.500 deutsche Unternehmen sind in der Türkei tätig, darunter die Europipe GmbH – das Unternehmen, welches die Turkstream-Gaspipelines mit Rohren versorgt hat.

Auf dem Höhepunkt der europäischen Migrantenkrise im Jahr 2015, als Erdoğan fast eine Million Flüchtlinge allein nach Deutschland schickte, verkaufte der deutsche Automobilkonzern Volkswagen mehr als 107.400 Fahrzeuge in die Türkei – die höchste Stückzahl seit 2002, dem Jahr, in dem Erdoğan die Parlamentswahlen gewann. Ein weiterer deutscher Autogigant, Mercedes, unterhält in Istanbul eine Busproduktionsstätte, die inzwischen voll in Betrieb ist.

Auch die Zusammenarbeit im Waffenhandel war in den letzten Jahren bedeutend. Ankara ist heute weltweit die Nummer eins unter den Importeuren deutscher Waffen. Im vergangenen Jahr importierte die Türkei Waffen im Wert von mehr als einer Viertelmilliarde Euro aus Deutschland – der höchste Wert seit 2005, als Merkel an die Macht kam.

Deutschland spielt auch eine besonders wichtige Rolle im Drohnenprogramm der Türkei, die bei den Kämpfen in Libyen, Syrien und Berg-Karabach die Speerspitze der türkischen Armee bildete. Die auf Drohnen installierten Raketensprengköpfe werden vom deutschen Rüstungskonzern TDW entwickelt. In einem offiziellen Bericht räumte die Bundesregierung ein, dass sie der Türkei 33 Genehmigungen für den Export von Gütern erteilt habe, die als für den Einsatz auf militärischen Drohnen geeignet ausgewiesen sind. Die Raketen selbst werden von dem türkischen Staatsunternehmen Roketsan hergestellt, das eng mit der Erdoğan Familie verbunden ist.

Es sind nicht nur die Deutschen, die Einfluss geltend machen können. Die Tiefe der Beziehungen ist bis zu einem gewissen Grad wechselseitig, auch wenn die Waage deutlich zu Gunsten Berlins geneigt ist. Die riesige türkische Diaspora Deutschlands gilt als viertgrößter Wahlkreis in der Türkei (1,5 Millionen Deutsch-Türken sind wahlberechtigt, mehr als zwei Drittel von ihnen haben bei den letzten Wahlen für Erdoğan gestimmt).

Die Türkisch-Islamische Union für Religionsangelegenheiten, DİTİB, ist das wichtigste Instrument von Erdoğan, denn sie verwaltet rund 3.000 Moscheen – ein Drittel aller Moscheen in Deutschland. Die Organisation erhält jährlich Hunderttausende von Euro von der deutschen Regierung und betreibt die größte Moschee Deutschlands. Erdoğan nahm persönlich an der Eröffnungsfeier dieser Moschee in Köln im Jahr 2018 teil.

Während sich die deutsch-türkischen Beziehungen weitgehend auf die Beziehung zwischen Erdoğan und Merkel stützen, wird er nicht unbegrenzt auf sie zählen können. Sie wird in genau einem Jahr aus dem Amt scheiden. Im politischen Establishment in Berlin hat sich der Tonfall in Richtung Ankara spürbar gewandelt, und dies könnte zu einer Änderung der deutschen Politik führen – vor allem, wenn Erdoğan die Deutschen weiterhin mit Streitigkeiten in aller Welt provoziert.

 

Das Flüchtlingsabkommen

Merkels Strategie schickte Erdoğan die gefährliche Botschaft, dass er sich ohne Konsequenzen so verhalten könne, wie er wolle – und mehr noch, sie zeigte ihm, dass Deutschland und damit auch Europa bereit sei sich politischer Erpressung zu beugen. Es war Merkel, die das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei im Jahr 2016 in die Wege leitete, um den Zustrom von Migranten nach Europa zu stoppen – ein Abkommen, dem Ankara im Tausch gegen finanzielle Vorteile zustimmte.

Es sind nicht die politischen Abenteuer von Erdoğan, die ihn letztlich intern und extern teuer zu stehen kommen werden, sondern vielmehr die stockende türkische Wirtschaft und der freie Fall der türkischen Lira. Die finanziellen Probleme der Türkei übersteigen die deutschen Möglichkeiten zur Hilfeleistung, selbst mit Merkels Bemühungen, Erdoğan eine helfende Hand zu reichen, bevor sie sich aus dem politischen Leben zurückzieht. Der letzte Versuch von Merkel, ihrem türkischen Schützling aus der Klemme zu helfen, wird ein Versuch sein, das Abkommen über die Zollunion EU-Türkei zu ändern, um Ankara mehr Erleichterungen und wirtschaftliche Vorteile zu gewähren.

 

Rauf Baker ist ein Journalist und Wissenschaftler mit Fachkenntnissen zu Europa und dem Nahen Osten. Auf Englisch zuerst erschienen bei Begin-Sadat Center for Strategic Studies. Übersetzung Audiatur-Online.

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