Warum konnte die große Mehrheit der dänischen Juden vor der Schoah bewahrt werden?
Wer Yad Vashem besucht hat, kennt die Liste der „Gerechten unter den Völkern“, die als Einzelpersonen Juden vor der Schoah gerettet haben. Als gesamte Nation jedoch wird einzig das dänische Volk auf dieser Liste der Gerechten geehrt – wegen seiner Weigerung sich dem Nazi-Horror gegen die Juden anzuschließen.
Boot mit Juden bei der Überfahrt von Falster nach Ystad in Schweden, 1943 © AFP
Dänemark stellte einen Sonderfall dar. Die Wehrmacht besetzte das Land am 9. April 1940: eine klare Verletzung des Völkerrechts. Hitlers Ziel war es, den Nachschub seiner Truppen nach Norwegen zu sichern. Das Königreich versuchte, Blutvergießen zu vermeiden und so viel wie möglich von seiner Souveränität zu erhalten. Kopenhagen entging der angedrohten Bombardierung, weil sich Krone und Regierung fügten.
Die Haltung des Königs
Im Gegensatz zu den Monarchen der Niederlande und Norwegens blieb König Christian X. (1870-1947) im Lande. Nach einer Unterredung mit Ministerpräsident Thoralf Stauning schrieb er in sein Tagebuch: „Ich warf ein, dass von den Deutschen, eingedenk ihres bisherigen Verhaltens, die Forderung einer Vertreibung der hier lebenden Juden zu erwarten sei, mich ein solcher Anspruch jedoch absolut abstoßen würde. Der Ministerpräsident war gleicher Meinung und merkte noch an, dass diese Frage schon einmal von den Führern in Berlin aufs Tapet gebracht worden sei, der [dänische] Nationalbankpräsident sie jedoch mit den Worten abgeschmettert habe: ,In Dänemark gibt es keine Judenfrage‘. Ich teilte ihm noch meine Beobachtung mit, dass die Deutschen immer einen Rückzieher machen, wenn wir entschlossen auftreten“.
Mehrere Monate später notierte der König, er betrachte „unsere Juden als dänische Bürger“. Die Deutschen dürften sie nicht anrühren.
Noch immer lebt die Legende, der König habe sich aus Solidarität bei seinen täglichen Ausritten in Kopenhagen den gelben Stern angeheftet. Das stimmt so nicht. Aber er hatte es erwogen: Christian erklärte gegenüber Finanzminister Vilhelm Buhl, der Forderung nach einer Kennzeichnung von Juden zu widerstehen: „Falls dieses Ansinnen vorgebracht wird, ist es die einzig richtige Haltung für uns alle, den Davidstern zu tragen. Der Finanzminister hielt das in der Tat für einen Ausweg“. Tatsächlich konnte der Sterntragezwang verhindert werden. Gegenüber einem deutschen Offizier soll Christian außerdem betont haben, als ranghöchster Soldat persönlich die Hakenkreuzflagge vom Dach des Folketing (Parlament) zu holen, falls sie dort gehisst werden sollte.
Die Dänen konnten sogar unter NS-Besatzung eine freie Wahl abhalten
Es gelang der Regierung, im Amt zu bleiben und dem Deutschen Reich so wenige Zugeständnisse wie möglich zu machen. Wesentlich war, dass die Dänen auf bewaffneten Widerstand verzichteten, also mit der Faust in der Tasche versuchten, wie gewohnt zu leben. Es konnten im März 1943 sogar turnusmäßig Wahlen zum Folketing stattfinden, bei denen die dänischen Nationalsozialisten gerade einmal zwei Prozent der Stimmen auf sich vereinigten. Das Wahlergebnis bedeutete einen Vertrauensbeweis für die bestehende Große Koalition aus Sozialdemokraten und Konservativen.
Dabei blieb es zunächst, als mit Werner Best ein langjähriger SD- und Gestapo-Mann neuer „Reichsbevollmächtigter“ wurde. Dieser merkte schnell, dass Stabilität im Lande den NS-Interessen mehr diente als ein eskalierender Kriegszustand.
Im Sommer 1943 regte sich erstmals Widerstand in Form von Streiks und Sabotage. Best verhängte den Ausnahmezustand und forderte die Regierung auf, für Ruhe zu sorgen. Die Minister weigerten sich und traten konsequenterweise zurück. Jetzt war die Deportation der Juden nur noch eine Frage der Zeit. Mehrere tausend Personen waren in Gefahr.König Christian X. bei einem Ausritt an seinem Geburtstag in Kopenhagen, 26. September 1940
Duckwitz und die Flucht über die Ostsee
In der deutschen Botschaft arbeitete ein Diplomat, der 1932 der NSDAP beigetreten war und das Goldene Parteiabzeichen besaß: Georg Ferdinand Duckwitz. Sein Schwerpunkt war das Ressort Schifffahrt, aber er unterhielt auch gute Kontakte zu Politikern und zum Königshaus. Bis 1943 hatte sich Duckwitz innerlich vom Nationalsozialismus gelöst. Im September 1943 erfuhr er den Termin für die Deportation: die Nacht vom 2. auf den 3. Oktober. Er reiste nach Schweden, um den Ministerpräsidenten Per Albin Hansson zu informieren und für Hilfsaktionen zu gewinnen. Duckwitz verständigte einen dänischen Freund, den sozialdemokratischen Spitzenpolitiker Hans Hedtoft, außerdem kannte er viele Reeder. An Jom Kippur konnte die Nachricht in den Synagogen verbreitet werden.
Der dänisch-jüdische Überlebende Salle Fischermann würdigte 60 Jahre später die Gemeinschaftsleistung der Retter für ihre Landsleute:
„Spontan ergriffen viele, viele Dänen die Initiative – alle halfen mit, wo sie nur konnten, Verstecke oder Fluchtwege zu organisieren: in Krankenwagen, ja sogar in Müllwagen, alles, was fahren konnte. Auch Krankenhäuser und Kirchen waren wichtige Verstecke. Die Dänen haben sogar Geld gesammelt, um die Fischer für die gefährliche Fluchtüberfahrt zu bezahlen. Sie hatten ja während dieser Zeit keine Einnahmen. Selbst die dann Deportierten vergaßen sie nicht und sammelten Geld für Hilfspakete, die sie in die Lager schickten. Ich möchte behaupten, dass wir nur dadurch überlebt haben.“ Darüber hinaus ließen die Dänen das Eigentum ihrer verschleppten Nachbarn unangetastet – was im Europa jener Zeit keineswegs selbstverständlich war.
Dänen aller Berufs- und Altersgruppen beteiligten sich. Gerade noch rechtzeitig konnten in wenigen Tagen die allermeisten Juden mit Fischkuttern und Booten über Öresund, Bornholmsgat und Kattegat nach Schweden gebracht werden. Die Fischer fühlten sich dabei in erheblicher Gefahr und verlangten entsprechende Preise, doch ließen sie niemanden zurück. Polizei und dänische Küstenwache sahen gezielt weg, weil sie vom gesellschaftlichen Konsens geprägt waren: Ablehnung der Deportation unschuldiger Bürger. Die Wehrmacht griff kaum ein, um die Kooperation mit den dänischen Behörden nicht zu gefährden. Selbst Best schien die Flucht zu dulden, wohl wissend, dass ein Kriegszustand mit dem dänischen Volk niemandem nutzen konnte. Schweden sorgte für ärztliche Untersuchungen und Unterkunft.
7.742 Juden und 686 nicht-jüdische Familienangehörige entgingen der Schoah – das ist die große Ausnahme in der Holocaust-Geschichte. Dennoch ergriff die Gestapo 481 Juden, die zumeist nach Theresienstadt (statt Auschwitz) verbracht wurden und zum größten Teil überlebten (weil sich der dänische Staat für sie einsetzte). Daneben verhaftete die Gestapo 53 Fluchthelfer, die sie an dänische Gerichte (!) übergab.
Duckwitz (1904-1973) vertrat nach 1945 westdeutsche Handelskammern in Kopenhagen und war dort von 1955 bis 1958 Botschafter, später Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Yad Vashem ehrte ihn 1971 als Gerechten unter den Völkern.
Die Einstellung der Dänen
Welche Lehren können aus dem doppelten Sonderfall Dänemark gezogen werden? Der antitotalitäre Konsens, den der dänische Philologe Hartvig Frisch in seinem Buch Pest over Europa: Bolschevisme, Faschisme, Nazisme (1933) formulierte, bewahrte das Land vor einem Umkippen in den Links- und Rechtsextremismus. Das dänische Volk, gleichermaßen demokratisch und patriotisch gesinnt, hielt zusammen, es lebte seine Werte und Tugenden. Es lehnte jede Mitwirkung an Ausgrenzung und Verfolgung seiner jüdischen Mitbürger und der ins Land geflohenen Juden ab.
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