„Hier habe ich gestern noch getanzt“

Das Jahr 1938, die Reichspogromnacht und ihre Folgen aus Erinnerungen und Perspektive jüdischer Zeitzeugen

Von Theodor Joseph

Das „Vergangene gegenwärtig“ zu machen, dies haben sich die Leo-Baeck-Institute, die sich in ihren drei Teilinstituten in New York, London und Jerusalem mit der Geschichte und Kultur des deutschsprachigen Judentums beschäftigen, zur wissenschaftlichen Aufgabe gemacht.

Diesen Anspruch haben sie in ihrem „1938er-Projekt“, das nunmehr in einer Schule machenden zweisprachigen (deutsch/englisch) Publikation unter dem Titel „In Echtzeit“ vorliegt, eindrucksvoll erfüllt. Das Buch basiert auf Archivalien und Dokumenten aus dem Jahre 1938, beginnend mit dem 1. Januar dieses besonderen Jahres 1938 – insgesamt 365 persönliche Geschichten. Es sind dies authentische Dokumente – Texte und Bilder – die den Horror, der am 9./10. November im Pogrom kulminierte, aber auch Hoffnungen aus jüdischer Perspektive während der nationalsozialistischen Verfolgung, belegen.

Zu Beginn des Jahres 1938 schätzte ein Großteil der noch in Deutschland verbliebenen 400.000 Juden ihre Lage dergestalt ein, dass ein gewisses Weiterleben noch möglich sei, unter den obwaltenden Umständen eingeschränkt zwar, doch nicht lebensbedrohend. Gleichwohl nahm der Druck auf die Juden zu: Im März marschierte die Wehrmacht in Wien ein, begleitet von einer antijüdischen Gewaltwelle in einem Ausmaß, das man bis dahin selbst nicht in Deutschland erlebt hatte. Bilder von straßenreinigenden Juden und johlenden Menschenmengen lösten in der jüdischen Bevölkerung Entsetzen aus. Bis Mai 1938 hatten bereits 7.000 jüdische Geschäfte neue Besitzer, waren „arisiert“, Häuser beschlagnahmt, ein Raubzug ohne Vergleich. Adolf Eichmann richtete in Wien eine, wie es euphemistisch hieß, „Auswanderzentrale“ ein, um die österreichischen Juden außer Landes zu treiben. Die Flüchtlingskonferenz in Évian blieb ergebnislos. In dem Maße, in dem der Auswanderungsdruck zunahm, schlossen die europäischen und überseeischen Staaten ihr Grenzen vor den jüdischen Flüchtlingen. Erschwerend kam hinzu, dass NS-Deutschland Pässe der Juden mit einem „J“ kennzeichnete, was den Ausreisewilligen die Einwanderung in andere Staaten nahezu unmöglich machte.

 

Die „Polenaktion“ und Herschel Grynszpan

Was im „angeschlossenen“ Österreich seit dem Frühjahr 1938 praktiziert wurde, setzte sich im „Altreich“ fort. Ziel war es, die Juden auszuplündern und aus Deutschland zu vertreiben.

Und dann wurde es radikal: Am 28. Oktober 1938 ließ das NS-Regime Tausende in Deutschland lebende sogenannte Ostjuden in schikanösen Umständen verschleppen, an die deutsch-polnische Grenze bringen, um sie dann mit Gewalt nach Polen zu jagen. Unter den Deportierten befand sich auch die Familie Grynszpan aus Hannover, die den in Paris lebenden Sohn Herschel Grynszpan über das brutale Vorgehen der Nazis informierte, was diesen veranlasste, den Diplomaten in der deutschen Botschaft in Paris, Ernst vom Rath, zu erschießen. Dieses Attentat war gleichsam der Startschuss für den von den Nationalsozialisten von langer Hand geplanten Pogrom, der dann am 9./10. November 1938 reichsweit losbrach.

War die „Polenaktion“ im Oktober 1938 sozusagen der „Probelauf“ für die nachfolgenden Deportationen, so war der sich daran anschließende vorbereitete und inszenierte Pogrom der Wendepunkt in der Verfolgungsgeschichte NS-Deutschlands. Nachdem die entfesselte Gewalt in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 keine nennenswerte widerständige Bewegung innerhalb der Bevölkerung zu Tage gebracht hatte, war den Verantwortlichen in Berlin klar, dass ihnen ein Freibrief für weitere Maßnahmen gewährt war. Die deutsche Bevölkerung war mehrheitlich einverstanden mit dem Vorgehen gegen Juden, duldete es ohne nennenswerten Widerspruch oder gar Empörung.

30.000 jüdische Männer wurden im Zusammenhang mit dem Novemberpogrom verhaftet und in die bestehenden Konzentrationslager verschleppt und später unter bestimmten Auflagen – die „freiwillige“ Auswanderung betreffend – wieder aus der Internierung entlassen. Allen Widrigkeiten zum Trotz gelang es bis 1939 ca. 175.000 deutschen Juden, das Land zu verlassen, teils ausgestattet mit einem Affidavit, teils illegal. Allein Großbritannien erklärte sich bereit, etwa 10.000 unbegleitete jüdische Kinder aus Deutschland aufzunehmen. Die meisten von ihnen sahen ihre zurückgebliebenen Eltern nie wieder. Und als die Wehrmacht im September 1939 Polen überfiel, war der Weg zur „Endlösung“ frei – es folgten Ghettoisierung, der große Judenmord, der in Auschwitz, Treblinka, Bełźec, Sobibor und anderen Mordstätten vollzogen wurde.

Was „Echtzeit“ von anderen Publikationen zum Jahresthema 1938 unterscheidet, ist die Präsentation in einzelne Segmente – wie Alltag, Verfolgung, Terror, Ungewissheit, Rettung von Kindern, Vertreibung u.a.m. – die durch Fotos, Briefe, Erinnerungsberichte in einer graphischen Form gelayoutet dargeboten wird, die den Leser unmittelbar anspricht – und berührt. Demzufolge präsentiert sich das Buch als Bildband mit dem Charakter eines Handbuchs, dessen Ästhetik gewissermaßen im Widerspruch zum historischen Geschehen steht. Abgerundet wird der Band mit einem Essay über den 9. November als Schicksalstag in der deutschen Geschichte aus der Feder von Michael Brenner.

Im Kapitel „Alltag“ ist eine bunte faksimilierte Postkarte aus Nizza abgedruckt, datiert mit dem 31. Januar 1938, adressiert an „Frl. Rosel Lehrberger in Frankfurt a. M.“. Abgebildet ist die Promenade von Mont-Boron mit seiner Restaurationsplattform der Seebrücke. Auf dem oberen Rand ein handschriftliches Kreuz mit der Notiz: „Hier habe ich gestern Nachmittag getanzt“. Das wirkt wie der ungeschminkte Ausdruck einer heilen Welt zu Beginn des Jahres 1938, die es so zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gab. Im Kapitel über die Rettung der jüdischen Kinder ist eine kreisrunde Pappkartonscheibe mit der Aufschrift „Kindertransport des Hilfsvereins der Juden in Deutschland e. V.“ abgebildet, die die Kinder zu ihrer Identitätsbestimmung mit einer Kordel um den Hals trugen, und das den handschriftlichen Zusatz „Nr. 16 England: Hanni Friedler aus Magedeburg, Heideweg(?) 99“, trägt. Gibt es größere Gegensätze deutsch-jüdischer Existenz im Schicksalsjahr 1938?

 

Helmut Schmidt belebte die Erinnerung

Brenner erinnert in seinem Essay daran, dass die Jahrestage der November 1948, 1958 und 1968 ohne groß beachtete Gedenkveranstaltungen vorübergingen und es Bundeskanzler Helmut Schmidt war, der erstmals am 9. November 1978 in der Kölner Synagoge der Ereignisse vierzig Jahre zuvor gedachte und in das Bewusstsein der Bevölkerung rückte. Zehn Jahre später kam es dann zu einem Eklat, als Bundestagspräsident Philipp Jenninger in seiner ungeschickt vorgetragenen Rede zum Novemberpogrom im Bundestag große Irritationen auslöste. Jenninger musste demissionieren.

Man mag es einen historischen Zufall nennen, dass sich an einem 9. November viermal besondere nationale Ereignisse vollzogen, die prägend für Deutschland waren: 1918, die Novemberrevolution, Abdankung des Kaisers und Deutschlands erster demokratischer Versuch; 1923, Hitlers Putsch in München und sein erster Versuch, die Macht zu ergreifen; 1938, der Pogrom, der Beginn der Barbarei; 1989, der Fall der Berliner Mauer. Der 9. November markiert damit symbolisch nicht nur den Beginn der ersten deutschen Republik, die dann fünf Jahre später nachhaltig bedroht wurde, kulminierte fünfzehn Jahre später in einem antijüdischen Gewaltakt sondergleichen, um dann 1989 friedlich in die Wiedervereinigung Deutschlands zu münden. Gleichwohl scheint es einen inneren Zusammenhang zwischen diesen vier Ereignissen zu geben. Der 9. November ist und bleibt ein bemerkenswertes deutsches Datum.

 

In Echtzeit. Das Jahr 1938 aus jüdischer Perspektive/Posts from the Past. 1938 from a Jewish perspective, Leo Baeck Institute – New York/Berlin for the Study of German-Jewish History and Culture, Hentrich & Hentrich Verlag, Berlin/Leipzig 2020, 191 S., 24,90 Euro.

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