Herzl – Eine europäische Geschichte

Die französische Graphic Novel von Camille Toledo und Alexander Pavlenko über den Begründer des Zionismus ist nun auch auf Deutsch erschienen.

Von Filip Gaspar

Während der zweiten Aufführung von Richard Wagners Oper „Tannhäuser“ in Paris 1895 könnte einigen Zuschauern eine sich merkwürdig verhaltende Person im Publikum aufgefallen sein, die so stark mitgerissen wurde, dass sie am ganzen Körper begann zu zittern, Schweißausbrüche bekam und schließlich die Vorstellung überstürzt verließ. Dieser Mann war der Frankreich-Korrespondent der Wiener Zeitung „Neue Freie Presse“, Theodor Herzl – der zum Vordenker des modernen Nationalstaates Israels werden sollte.

Die 2018 in Frankreich publizierte Graphic novel „Herzl – Eine europäische Geschichte“ ist nun auch in deutscher Übersetzung im „Jüdischen Verlag bei Suhrkamp“ erschienen.

Den beiden Verfassern, Camille de Toledo und Alexander Pavlenko, beide selbst Juden, ist es zu verdanken, dass die Biographie von Theodor Herzl in einer solch originellen Form erzählt wird, und nicht nur eine weitere konventionelle Biographie erschienen ist.

 

Zwei Parallelgeschichten: Säkular vs. Orthodox

Um die Lebensgeschichte des Visionärs Herzls nachzuzeichnen, bedienen sie sich eines Kniffes. Parallel zu Herzl wird die Geschichte von Ilya Brodsky erzählt. Brodsky ist auf den ersten Blick das genaue Gegenteil von Herzl. Herzls Figur steht für das assimilierte Judentum der Habsburgermonarchie, wenig religiös, deutschsprachig, wohlhabend und alles daran setzend dazu zu gehören. Auf der anderen Seite die fiktive Figur von Ilya Brodsky, der für das Ostjudentum steht. Brodsky wächst in einem russischen Schtetl auf, wo Jiddisch gesprochen wird, die Greise im Dorf „sich tagsüber Beleidigungen an den Kopf warfen oder sich umarmten“ und nachts die Thora studierten. In Folge der russischen Pogrome verliert er seine Eltern, verstummt durch diesen Schock und flieht mit seiner älteren Schwester Olga zuerst nach Wien und dann später nach London. In Wien findet Brodsky eine Anstellung als Botenjunge für ein Fotostudio, in dem die Familie Herzl Porträts anfertigen lässt. Bei der Auslieferung kommt er in die Villa der Familie Herzl und begegnet Theodor. Aus einer flüchtigen Begegnung wird eine schicksalsweisende. Zumindest für Brodsky, der eine Art Obsession für Herzls Leben entwickelt und aus dessen Sicht wird auch das Leben und Wirken Herzls dargestellt, oft im Vergleich zum eigenen.

 

Selbstmord

Doch zurück zum Anfang. Die Erzählung setzt mit dem Selbstmord von Brodsky im Jahre 1932 im Londoner Exil ein. Während das Blut aus seinem Kopf bereits auf Schreibtisch zu trocknen beginnt, berichtet er aus dem Jenseits und wie es dazu kam, dass er sich mit den Schriften Herzls und dessen Ideen befasste. Neben dem Schreibtisch, der vollgestellt ist mit Briefen und einer Schreibmaschine, befinden sich vollgepackte Bücherregale mit Werken in mehreren Sprachen von Autoren wie Trotzki, Agnon, Mendele und natürlich darf auch „Der Judenstaat“ von Theodor Herzl nicht fehlen. Die mehreren Sprachen und auch Schriften bezeugen Brodskys langen Lebensweg, der jetzt in einer verregneten Londoner Nacht endet. Überhaupt begegnen dem Leser immer wieder strömender Regen, Schnee und dunkle Nächte in der Geschichte.

Alexander Pavlenko, der für die Illustrationen verantwortlich ist, steckte viel Herzblut in sein Werk, da er zu Beginn der 1990er selbst wegen des sowjetischen Antisemitismus nach Deutschland gezogen ist. Nicht zu übersehen ist, dass der Zeichner Pavlenko ein Filmliebhaber ist. Die Zeichnungen erinnern mehr an Linolschnitte bzw. an alte Fotographien, die mit der Zeit einen gelblichen Ton annahmen. Somit wird eine künstliche Distanz zwischen den Lesern und der Geschichte geschaffen. Man findet auch andere filmische Verfahren wieder. So werden Brodsky und seine Schwester Olga aus der Masse der Flüchtlinge herausgehoben, Dialoge werden in Schuss-Gegenschuss-Montagen dargestellt. Die Erzählung selbst nutzt verschiedene Zeitebenen und jongliert manchmal von einem Bild ins Nächste mit diesen, ohne dass dies den Lesefluss stören würde. Wichtige und schicksalsbestimmende Ereignisse aus Herzls Leben werden manchmal nur oberflächlich beschrieben.

 

Umzug nach Wien und Arbeit in Paris

So erfahren wir, dass die Familie Herzl nach dem Tod von Tivadars Schwester von Pest nach Wien umsiedelt. Doch bevor aus Buda und Pest Budapest wird, germanisiert Tivadar erst einmal seinen ungarischen Vornamen zu Theodor. Wie viele seiner Zeitgenossen reift in den Wiener Kaffeehäusern in ihm der Wunsch, ein erfolgreicher Schriftsteller zu werden. Bevor es allerdings dazu kommt, tritt er seine Stelle als Korrespondent für die „Neue Freie Presse“ in Paris an. Herzl erkennt dort, dass nur ein Nationalstaat das Leiden der Juden beenden kann, und beginnt seine Vision von einem solchen Judenstaat zu formulieren.

Währenddessen treibt sich Brodsky, den mittlerweile seine Schwester Richtung New York verlassen hat, in London in sozialistischen Zirkeln herum. Dort ist auch ein gewisser Karl Marx anzutreffen, der unter den anderen Genossen den Ruf eines besserwisserischen Denkers hat. Überhaupt begegnet man ständig ganz nebenbei historischen Persönlichkeiten jener Zeit, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Sigmund Freud, den Herzl wegen seiner Leiden aufsucht. Der offen antisemitische Wiener Bürgermeister Karl Lueger, Max Nordau und Arthur Schnitzler, um hier nur ein paar zu nennen. Am Ende des Buches findet sich ein Index mit Kurzbiographien der wichtigsten im Werk auftretenden Leute.

Die Legende, dass Herzls Bestreben, sich für einen jüdischen Staat einzusetzen, erst durch die Dreyfus-Affäre ins Rollen gebracht wurde, wird thematisiert.

Auch wenn Herzl der personifizierte jüdische Assimilant ist, erkennt er, dass nur die Verwirklichung eines eigenen Staats für alle Juden diese vor Verfolgung und Diskriminierung schützen könnte. Da helfen auch die Versuche wohlhabender Juden wie Baron de Rothschild, der Ländereien für vertriebene und arme Juden aufgekauft hat, um ihnen die Ansiedlung zu ermöglichen, nicht. Denn einzig eine nationale Lösung wird den Juden Erlösung bringen.

 

Erschöpft für die eigene Sache

Positiv anzumerken ist, dass die Graphic Novel keine Wertung von Herzls „Judenstaat“ und seiner Ansichten vornimmt, sondern den Fokus einzig und allein auf Herzl selbst legt.

Brodskys und Herzls Leben weisen einige Parallelen auf. Beide kommen nicht über den Verlust der eigenen Schwester hinweg. Die eine ist in Pest verstorben, die andere kann nicht sesshaft werden und lässt ihren kleinen Bruder Ilya in London alleine zurück. Brodsky und Herzl wird einiges abverlangt, sowohl physisch als auch psychisch. Herzl haucht sein Leben vollkommen erschöpft durch den Kampf für seine Sache aus, wohingegen der sich ein Leben lang heimatlos fühlende Brodsky Selbstmord begeht. Die Gründung des Staates Israels, und damit einer sicheren Heimat für sich und alle Juden, sollten sie beide nicht mehr erleben dürfen.

Im Klappentext steht, dass diese Geschichte mit der Stimme von Ilya Brodsky das Wunschbild eines Landes für die entwerfen will, die alles verloren haben und in Europa Zuflucht suchen. Daher wahrscheinlich auch das „Eine europäische Geschichte“ im Titel. Man kann dankbar sein, dass sich diese pathetischen Worte nur auf den Klappentext beschränken und nicht den Weg in die Erzählung selbst gefunden haben. Sie hätten Herzls unbeschreiblich großer Verdienste für die Juden nicht gerecht werden können.

 

Camille Toledo und Alexander Pavlenko:

„Herzl – Eine europäische Geschichte“.

Graphic Novel. Jüdischer Verlag bei Suhrkamp,

Frankfurt am Main 2020, 252 S., 25 €

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