„Ein Klumpen von 40.000-50.000 staatenlosen ehemaligen polnischen Juden“

Vor 82 Jahren veranlasste der Staatssekretär Ernst von Weizsäcker und weitere Nazi-Schreibtischtäter im Vorfeld der Reichpogromnacht mit der sogenannten „Polenaktion“ die Abschiebung teilweise schon lange in Deutschland ansässiger polnischer Juden nach Polen.

Herschel Grynszpan am 2. Dezember 1938 auf dem Weg zu einem Pariser Gericht.© AFP

Von Theodor Joseph

Am 28. Oktober 1938, einem Freitag, wurde der 18-jährige Marcel Reich frühmorgens, noch vor 7 Uhr, von einem Schutzmann geweckt. Der Polizist kontrollierte die Ausweispapiere und händigte dem völlig überraschten jungen Mann ein Dokument aus – der Ausweisungsbefehl aus dem Deutschen Reich. Er solle sich anziehen, ordnete der Schutzmann an, und mit ihm kommen. Reich musste alles in seinem kleinen elterlichen Zimmer in der Güntzelstraße 53 in Berlin-Wilmersdorf zurücklassen. Nur fünf Mark durfte er mitnehmen – und eine Aktentasche. Was er in seine Aktentasche packen sollte, wusste er, der gerade auf dem Fichte-Gymnasium in Berlin sein Abitur abgelegt hatte, gleichwohl als Jude nicht zum Studium zugelassene junge Marcel Reich, nicht. Da er gerade Balzacs Roman „Die Frau von dreißig Jahren“ las, entschied er sich, dieses Buch mitzunehmen.

Da sich Reich nicht erklären konnte, warum er aus Deutschland ausgewiesen werden sollte, verfiel er in Kafkasche Diktion: „Jemand musste mich verleumdet haben, denn ohne dass ich etwas Böses getan hätte, bin ich verhaftet worden“. Und eher er sich versah, fand er sich inmitten von zehn, zwanzig Leidensgenossen auf dem Wilmersdorfer Polizeirevier wieder.

 

Herschel Grynszpan

„Lieber Hermann, Du hast gewiss von unserem großen Unglück gehört“, schrieb die Schwester ihrem in Paris lebenden Bruder. „Am Donnerstagabend [27.10.1938] um 9 Uhr ist ein Schupo zu uns gekommen und hat uns erklärt, dass wir uns unter Mitnahme der Pässe zum Polizeirevier begeben sollten. So wie wir waren, sind wir alle in Begleitung des Schupos zum Polizeirevier gegangen. Dort fand sich schon fast unser ganzes Stadtviertel zusammen... Man hat uns noch nicht gesagt, um was es sich handelte. Aber wir haben gesehen, dass es mit uns aus war.“ Die mitgesandten Grüße und Küsse stammten von Berta Grynszpan, und ihr derzeitiger Aufenthaltsort lautete: „Zbąszyń 2, Baracke Grynszpan“. Der Adressat war ihr jüngerer Bruder Herschel, genannt Hermann, der in Paris lebte.

Was war geschehen? An jenem Abend des 27. Oktober 1938 wurden der Flickschneider Sendel Grynszpan, seine Frau Riwka und ihre Kinder Berta und Markus aus ihrer Wohnung in der Hannoverschen Altstadt zur Polizeiwache geschleppt und eingesperrt. Mit ihnen ein paar Hundert andere Juden. Alle waren Ostjuden – die älteren hatten meist schon zur Zarenzeit (Russisch-)Polen der ständigen blutigen Pogrome wegen verlassen. Die Familie Grynszpan lebte seit dem Jahre 1911 in Hannover, alle drei Kinder waren hier geboren.

Ähnlich wie in Hannover wurden auch in anderen deutschen Städten polnische Juden zusammengetrieben. Die Aktion kam überraschend und traf die Juden unvorbereitet. Jeder erhielt einen Ausweisungsbefehl in die Hand gedrückt. Die erste Massendeportation Nazi-Deutschlands nahm ihren Verlauf.

 

Die polnische Regierung wollte die Juden loswerden

Einige Wochen vorher hatte die polnische Regierung, kaum weniger antisemitisch als die deutsche, angeordnet, alle im Ausland lebenden polnischen Staatsangehörigen müssten bis zum 29. Oktober 1938 ihre Pässe von den Konsulaten kontrollieren lassen. Diese politische Maßnahme war bestimmt von der Furcht, eine große Zahl polnischer Juden, die seit Jahren in Deutschland lebten, könnten sich aufgrund der antijüdischen Politik in Deutschland veranlasst sehen, nach Polen zurückzukehren. Das beschlossene Gesetz sah vor, dass jeder polnische Bürger, dessen Pass nicht bis zum 29. Oktober 1938 verlängert war, das Recht auf Rückkehr nach Polen verlor – eine Maßnahme, mit der die polnische Obristenregierung ihr „Judenproblem“ lösen wollte. Da man deutscherseits befürchten musste, dass die Pässe nicht verlängert würden, beschloss die Reichsregierung kurzerhand, sich der unerwünschten ostjüdischen Minderheit durch Abschiebung zu entledigen. Ohne Warschau vorher zu verständigen, wurden Tausende Juden am 28. Oktober 1938 unter unvorstellbar schikanösen Begleitumständen zur polnischen Grenze verschleppt und abgeschoben. Dies war sozusagen die vorweggenommene deutsche Antwort auf die Änderung des polnischen Passgesetzes.

Der Duisburger Rabbiner Manass Neumark hat in einem Brief an Sohn und Tochter die „Polenaktion“, wie es euphemistisch hieß, nahezu emotionslos festgehalten. „Hier waren inzwischen unruhevolle Zeiten, wie Ihr ja wohl gehört habt“, beschreibt Neumark die Verschleppungsmaßnahme vom 28. Oktober 1938. „Vorigen Freitag mussten wir von Duisburg ca. 160 Personen verabschieden, und konnten sie bei der Kürze der Zeit nur unzureichend mit Nahrung und Kleidung ausstatten. Sie sind bei Bentschen über die polnische Grenze gekommen und warten dort in Sammellagern ... den Ausgang der Verhandlungen über ihre etwaige Rückkehr ab“.

Ausweisung jüdischer Polen aus Nürnberg am 28. Oktober 1938

25 Kilometer rheinaufwärts hielt Neumarks Rabbinerkollege Max Eschelbacher in Düsseldorf die Ereignisse in einem Bericht fest. „Kein Alter war verschont“, schildert er den Beginn der Verhaftungsaktion in der Nacht vom 27. auf den 28.Oktober und fährt fort: „Das Kind von K., bei dessen Milah ich zwei Monate zuvor gewesen war, war ebenso verhaftet worden, wie der bald achtzig Jahre alte Simon W. Auf kein Leiden wurde Rücksicht genommen. R.-Mettmann sind beide Beine amputiert. Trotzdem wurde er in seinem Fahrstuhl zum Präsidium gebracht“. Dem Gemeinderabbiner Eschelbacher war erlaubt worden, die Verhafteten im Gefängnis zu besuchen. Manche Gesichter, vom Entsetzen verzerrt, konnte er kaum erkennen. Er sah eine junge Frau, die reglos in einer immer größer werdenden Blutlache stand und sich nicht mehr helfen konnte.

 

Abschiebung am Schabbat

Die Abschiebung selbst geschah am 28. Oktober 1938 – mit Vorbedacht an einem Schabbat. Die Bahnsteige, von denen die Sonderzüge abgingen, waren abgesperrt; nicht nur Reisende, auch Bauarbeiter wurden ferngehalten. Bei Abfahrt hatte der Schabbes bereits begonnen, und es war klar, dass gläubige Juden kein Geld anrühren würden und auch keine Einkäufe mehr machen konnten. Der Leipziger Polizeipräsident meldete dem Innenminister folgenden zynisch-makabren Vollzug: „Der Abtransport ist im Wesentlichen reibungslos und bis auf einen Todesfall (Frau), Ohnmachtsanfälle und Nervenzusammenbrüche, ohne besondere Zwischenfälle erfolgt“.

Was den Deportierten an Leid zugefügt wurde – sie besaßen oft nicht mehr als die dünnen Kleider, die sie auf dem Leibe trugen – lässt sich schwer beschreiben. In – verschlossenen – Eisenbahnzügen und Lastwagen wurden die Juden zum Grenzbahnhof Bentschen westlich von Posen verschleppt. Dort wurde ihnen alles Geld bis auf zehn Mark abgenommen, dann jagte man sie zu Fuß die letzten sieben Kilometer bis zur Grenze und, um dem Befehl mehr Nachdruck zu verleihen, wurde in die Luft geschossen. „Die SS-Leute hinter uns her mit Peitschen“, erinnerte sich der alte Sendel Grynszpan 1961 im Jerusalemer Eichmann-Prozess, „wer nicht mitlief, wurde geschlagen, bis das Blut floss. Der Regen hat getrommelt, alte Frauen und Männer, kranke Kinder waren unter uns, der Jammer war groß“. Viele Juden wurden so erschreckt, dass sie ihre wenigen Habseligkeiten fallen ließen und flüchteten. Ein Bericht schildert, wie die Abgeschobenen von der SS in den Fluss, der die Grenze bildete, getrieben wurden, wie dann polnische Grenzwachen ihnen nachsetzten und nach stundenlangem Umherirren schließlich über die Grenze hinweg Auseinandersetzungen zwischen den polnischen Grenzern und der SS über die Frage begannen, wohin diese Juden gehörten.

Die überraschten polnischen Grenzposten verweigerten den Vertriebenen den Zutritt auf polnisches Territorium, so dass die Menschen einen Tag lang hungernd und frierend im schneidenden Herbstregen durch das Niemandsland irrten. Sie lebten von den wenigen mitgenommenen Lebensmitteln und der Hilfe, die vom jüdischen Komitee in Warschau und vom amerikanischen Joint kam. Der polnische Historiker Emanuel Ringelblum organisierte die Hilfsaktion für die Flüchtlinge. In einem Brief schildert er die Zeit seiner Arbeit in Zbąszyń so: „Ich habe weder die Kraft noch die Geduld, im Einzelnen zu erzählen, was in Zbąszyń vorgefallen ist. Jedenfalls hat es nach meiner Ansicht nie eine so grausame, so mitleidlose Deportation gegeben...“

 

Pistolenschüsse in der Botschaft

Die Familie Grynszpan wurde mit anderen Leidensgenossen zunächst in einem mit Kot bedeckten Pferdestall gepfercht. „Wir haben keinen Pfennig“, klagte Berta ihrem Bruder Herschel, der zwei Jahre zuvor zu seinem Onkel nach Paris gezogen war.

Als der 17-jährige Herschel Grynszpan die Postkarte seiner Schwester Berta aus Zbąszyń erhielt, stand sein Entschluss fest: Er kaufte sich einen Revolver und begab sich am 7. November 1938 zur deutschen Botschaft in Paris. Grynspzan, der vorgab, dem deutschen Botschafter ein wichtiges Dokument übergeben zu müssen, wurde ohne weiteres zum Legationssekretär Ernst vom Rath, dessen Familie aus Duisburg stammt, geführt. Mit den Worten: „Sie sind ein dreckiger Boche, und nun übergebe ich Ihnen im Namen von 12.000 verfolgter Juden das Dokument“, zog er den Revolver, an dem noch der rote Faden des Preisetikettes hing und feuerte mehrere Schüsse ab. Vom Rath, in Brust und Unterleib getroffen, brach zusammen. Herschel Grynszpan ließ sich widerstandslos festnehmen. Der Polizei nannte er nur ein Tatmotiv: Rache für seine Glaubensbrüder.

 

Die Polen brachten deutsche Juden zur Grenze

Polen reagierte am 29. Oktober 1938 seinerseits mit der Ausweisung deutscher Reichsbürger. Auf die Erklärung der deutschen Seite, dass die Ausweisung „arischer“ Reichsbürger eine Verschärfung des Konflikts bedeuten würde, beschränkte sich Polen darauf, deutsche Juden zur Reichsgrenze zu bringen. Nachdem sogar die Gestapo die Zustände an der Grenze für „unhaltbar“ erklärt hatte und Polen und Deutschland sich darüber verständigt hatten, von der weiteren Abschiebung der beiderseitigen Staatsangehörigen vorläufig abzusehen sowie bald mit Verhandlungen in der Frage zu beginnen, wurde die Ausweisungsaktion am 29. Oktober 1938 eingestellt.

Der Verkehr einer großen Zahl von Zügen auf einigen Bahnstrecken erforderte eine reibungslose, verwaltungstechnische Kooperation von Auswärtigem Amt, Polizei, Gestapo und Bahnbehörden. Auf diese Weise wurde die Ausweisung der polnischen Juden im Oktober 1938 zur infrastrukturellen Erfahrung mit der Organisation technischer Details für die systematischen Deportationen ab 1941.

Von November 1938 bis August 1939 wurden nach und nach etwa 8.000 vertriebene Juden in der polnischen Grenzstadt Zbąszyń und andere grenznahe Ortschaften festgehalten und in einem Flüchtlingslager im Niemandsland in behelfsmäßigen Baracken und Ställen interniert. 10.000 Personen wurden nach Polen hineingelassen. Im November 1938 wurden Verhandlungen zwischen Polen und Deutschen bezüglich der Vertriebenen aufgenommen, nachdem Polen als Gegenreaktion die Ausweisung deutscher Reichsbürger aus Posen und Pommerellen angeordnet hatte. Staatssekretär Ernst von Weizsäcker, der deutscherseits die Verhandlungen führte, bestand darauf, dass Deutschland nicht akzeptieren könne, dass ihm im Wege der Ausbürgerung „ein Klumpen von 40.000-50.000 staatenlosen ehemaligen polnischen Juden in den Schoß“ falle. Für ihn war selbstverständlich, dass Warschau zur „Übernahme von polnischem Eigentum“, womit er die Juden meinte, verpflichtet sei: Vereinbart wurde die Rückkehr der Deportierten in Gruppen von höchstens 100 Personen für einen begrenzten Zeitraum nach Deutschland, um ihre Angelegenheiten zu regeln und ihre Geschäfte aufzulösen. Die Einnahmen aus diesen Geschäftsauflösungen mussten auf Sperrkonten eingezahlt werden, von denen de facto nichts abgehoben werden konnte. Die polnische Regierung ihrerseits gestattete den Familien der Abgeschobenen ebenfalls die Einreise nach Polen.

 

Nun wollten die Nazis nicht mehr abschieben

Im Zuge einer zweiten, kleineren Vertreibungsaktion aus Deutschland im Juli 1939 wurden weitere 4.000 Ostjuden zwangsweise repatriiert. Ihre Hoffnung, nach Deutschland zurückzukehren, hat sich nicht erfüllt. Für die meisten der Betroffenen Ostjuden war der Aufenthalt zwischen den Grenzen ein letzter Aufschub auf einem Weg ohne Wiederkehr.

Im Herbst 1938 wollten die Nationalsozialisten die polnischen Juden aus Deutschland verjagen. Doch nicht einmal ein Jahr danach lebte die Mehrzahl aller polnischen Juden wieder im deutschen Machtbereich. Unter welchen Umständen auch immer sie vertrieben worden waren – jetzt saßen sie in der Falle, aus der es so gut wie kein Entkommen mehr gab. Es war dies ein unerwünschter Zuwachs für das NS-Regime, dem bekannt war, dass es durch keine Auswanderung sich dieser Menschen entledigen konnte und wollte. Anfang 1939 hatte Hitler für den Kriegsfall die Vernichtung der Juden im Reichstag prophezeit.

Am Mittwoch, den 16. November 1938, kehrten die sterblichen Überreste des Botschaftsrats Ernst vom Rath heim ins Reich. In Düsseldorf wurde der Sarg des Diplomaten in der Rheinhalle aufgebahrt, ausgeschlagen mit schwarzem Tuch und nationalsozialistischer Fahne. Ganz vorne lag der große, einfache Laubkranz des Führers mit einem schwarz-weiß-roten Band. Im Laufe des Donnerstagmorgens zogen Tausende Menschen an der Bahre vorbei und hoben den rechten Arm zum letzten Gruß.

Nachdem Hitler in Düsseldorf eingetroffen war, begab er sich sofort in die Rheinhalle, wo ihn die Anwesenden stürmisch begrüßten. Mit Außenminister Joachim von Ribbentrop hielt er einen Augenblick vor dem Sarg inne und nahm anschließend Platz in der ersten Reihe. Das Orchester spielte Beethovens „Eroica“. Als zuständiger Minister hielt Ribbentrop die Trauerrede, die in dem Satz gipfelte: „Wir haben die Herausforderung verstanden und wissen, wie wir darauf antworten müssen“. Das war unmissverständlich formuliert, und jeder wusste, was gemeint war.

Was die deutschen Juden nach dem Attentat auf vom Rath erwartete, konnten sie bereits am 8. November 1938, als deutsche und französische Ärzte noch um das Leben des Diplomaten rangen, im Parteiorgan „Völkischer Beobachter“ lesen: „Es ist klar, daß das deutsche Volk aus dieser neuen Tat Folgerungen ziehen wird. Es ist ein unmöglicher Zustand, daß in unseren Grenzen Hunderttausende von Juden noch ganze Ladenstraßen beherrschen, Vergnügungsstätten bevölkern und als (ausländische)[!] Hausbesitzer das Geld deutscher Mieter einstecken, während ihre Rassegenossen draußen zum Krieg gegen Deutschland auffordern und deutsche Beamte niederschießen“.

 

Die Weltöffentlichkeit war weitgehend gleichgültig

Die sogenannte Polen-Aktion vom Oktober 1938 war ein Paradigma für die nachfolgenden nationalsozialistischen Maßnahmen gegen die Juden. Sie war die erste große Deportationsmaßnahme NS-Deutschlands, die die Koordinierung von Polizei, Reichsbahn, Diplomatie und Finanzbehörden erforderte. Gleichzeitig lieferte die Vertreibung der Ostjuden im Jahre 1938 technische und administrative Erfahrungen für die späteren Deportationen. Sie war auch paradigmatisch in dem Sinn, dass Polen nicht gewillt war, das Grenzlager Zbąszyń aufzulösen, was Deutschland zum Anlass nahm, eine andere Nation, nämlich Polen, mitverantwortlich für seine Judenpolitik zu machen. Dazu kam, dass die internationale Öffentlichkeit – wie auf der wenige Monate zuvor ergebnislos verlaufenen Flüchtlingskonferenz in Évian geschehen – den bedrohten Juden gleichgültig gegenüberstand.

Auf dem Sammelplatz der Polizeidienststelle am Sophie-Charlotte-Platz mussten am 28. Oktober 1938 Hunderte von Juden, die, wie er, polnische Staatsangehörige waren, warten. Jetzt begriff Marcel Reich, dass seine Vermutung falsch gewesen war – tatsächlich hatte niemand ihn verleumdet. Er gehörte einer Gruppe an, die zur Deportation verurteilt war, zu den Juden, zur Gruppe der Ostjuden. Tags darauf brachte man ihn – und alle anderen Festgehaltenen – zu einem Nebengleis des Schlesischen Bahnhofs in Berlin, wo ein langer Zug wartete. Die Fahrt ging Richtung Osten, zur polnischen Grenze.

Was sollte er mit seiner armseligen Aktentasche und dem Balzac-Roman in einem fremden Land machen, fragte sich Marcel Reich, ein Land, dessen Sprache er zwar verstand, doch nur mühselig sprechen konnte? Doch da war noch etwas, was er auf die Reise mitgenommen hatte und dass ihm niemand nehmen konnte: Er hatte aus dem Land, aus dem er nun vertrieben war, die Sprache mitgenommen, die deutsche, und die Literatur, die deutsche. Die deutsche Literatur war ihm stets das portative Vaterland geblieben. So war Marcel Reich, der später ein „Ranicki“ an seinen Namen fügte, gegen seinen Willen nach Polen gekommen, in sein Geburtsland, das nun sein Exil wurde. Ein Schicksal, das er mit weiteren 17.000 Leidensgenossen fortan teilte.

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