Die neuen westlichen Kultur-Taliban, ihre vorübergehenden Erfolge – und woran sie scheitern werden

In angelsächsischen und in deutschsprachigen Ländern finden sich lagerübergreifend immer mehr Intellektuelle gegen die „Cancel Culture“-Bewegung zusammen. Sie haben verstanden: Wer die freie Debatte wieder groß machen will, muss die Enthistorisierungs- und Entkulturisierungs-Versuche der „Moralprediger ohne Moral“ entschieden zurückweisen.

Eine Frau fotografiert im Bostoner Christoph-Kolumbus-Park eine Statue von Christoph Kolumbus, der man den Kopf abgeschlagen hat.
© Foto: Staatsarchiv Tscheljabinsker Gebiet

Von Alexander Wendt

Es gibt zwei Aufrufe, die einander ähneln. Einer erschien vor einigen Wochen in dem Magazin „Harper’s“, einer vor wenigen Tagen auf der Seite des gerade gegründeten „Intellectual Deep Web Europe“. In beiden Appellen finden sich Autoren und Wissenschaftler von der linken bis zur rechten Mitte zusammen, die unter normalen Bedingungen wahrscheinlich kein Manifest unterschrieben hätten.

Wenn die Front breiter wird als gewöhnlich, geht es meist um essentielle Dinge. An dem deutschsprachigen Appell, so viel gleich zu Beginn, ist der Autor dieses Textes beteiligt.

Beide Aufrufe verteidigen den freien Austausch von Meinungen, also eine Praxis, die im Westen entstand und dort bis vor ein paar Jahren nicht ernsthaft gefährdet schien.

Werfen wir erst einen kurzen Blick auf den gegenwärtigen Zustand, bevor es um die Aufrufe selbst geht.

Der amerikanische Datenanalyst David Shor, bis Mai 2020 einer der führenden Köpfe des Umfrageinstituts Civis, gehört zu den Hochtalentierten in seiner Branche. Schon als Zwanzigjähriger arbeitete er 2012 zu dem Team von Nate Silver, einem Statistiker, der damals mit seinem Modell den Ausgang der Wahl in 50 Bundesstaaten korrekt vorhersagte.

Nach dem Beginn der „Black Lives Matter“-Demonstrationen in den USA und den ersten Ausschreitungen retweetete Shor eine Untersuchung der Wahl- und Umfrageergebnisse seit 1968, in der der (farbige) Princeton-Wissenschaftler Omar Wasow nachwies, dass friedliche Straßenproteste die öffentliche Meinung zugunsten der Demokraten verschoben hatten, im Gegensatz zu gewalttätigen Übergriffen, die eher das Gegenteil bewirkten. Seine Absicht kommentierte sich von selbst; Shor gehört zum linksliberalen Lager, er wünscht sich erklärtermaßen den Sieg Bidens im November.

Als er seine Studie per Twitter veröffentlichte, fielen sofort Aktivisten über ihn her, die ihm vorwarfen, er als Weißer dürfe über die BLM-Bewegung nicht urteilen, auch nicht indirekt durch eine Analyse historischer Wahldaten, seine Veröffentlichung sei beleidigend. Die Daten selbst stellte niemand in Frage.

Shor entschuldigte sich öffentlich. Das nutzte ihm vor dem Twitter-Gericht nichts, die linken Aktivisten forderten seine Entlassung. Dazu kam es innerhalb weniger Tage. Civis feuerte seinen führenden Datenanalysten.

Ihm ging es ähnlich wie Gordon Klein, einem Dozenten an der Anderson School Of Management, die zur UCLA gehört: mehrere schwarze Studenten hatten ihn aufgefordert, ihnen bei der Abschlussprüfung Sonderkonditionen („Accommondations“) einzuräumen, die mittlerweile an etlichen Hochschulen tatsächlich gewährt werden, um den emotionalen Stress und die Traumatisierungen auszugleichen, die farbige Studenten nach ihrem eigenen Bekunden durch den Tod von Georg Floyd und die folgenden Proteste erlitten hätten.

Klein fragte per Mail sarkastisch zurück, wie er denn mit Studenten mit einem farbigen und einem weißen Elternteil verfahren sollte. Eine halbe Sonderkondition? Vor allem fragte er, wie sich die Aufforderung nach besonderer Behandlung mit dem Gleichheitsideal von Martin Luther King vertragen würde:

„Eine letzte Sache noch, die mich beschäftigt: Erinnerst du dich daran, dass Martin Luther King bekanntlich sagte, niemand sollte nach seiner Hautfarbe bewertet werden? Glaubst du nicht, dass deine Bitte (um Sonderkonditionen) seiner Mahnung zuwiderläuft?”

Die Hochschule feuerte Klein sofort, nachdem Studenten sich über seine „rassistischen Bemerkungen“ erregt hatten.

Weder bekam er Gelegenheit, sich zu rechtfertigen, noch mussten seine Ankläger darlegen, was in ihren Augen an seiner rhetorischen Frage eigentlich falsch war. Anklage, Urteil und Vollstreckungsbescheid waren praktisch identisch.

 

Cancel Culture wird geleugnet

Den Fall von Shor hatte der Publizist und Politikwissenschaftler Yascha Mounk, derzeit an der Johns Hopkins University in Washington, kürzlich in einem Beitrag für die „Zeit“ erwähnt, um zu illustrieren, dass so etwas wie Cancel Culture tatsächlich existiert. Denn zu der Debatte um den Hinauswurf von Falschmeinern, die Verhinderung von Veranstaltungen und den Druck auf Verlage gehört auch die regelmäßig von Wahrmeinern vorgetragene Behauptung, eine Cancel Culture gebe es in Wirklichkeit nicht, es handle sich um eine Erfindung beziehungsweise einen Kampfbegriff von nicht näher definierten Rechten.

Im deutschsprachigen Raum existiert dazu eine Art Liturgie mit drei bequem nacherzählbaren Fällen, die verschiedene Medien als Beweisführung gegen Cancel Culture fast wortgleich abspulen:

Gegen die zunächst vom „Nochtspeicher” in Hamburg ausgeladene Kabarettistin Lisa Eckhart habe es ja keine ernsthaften Gewaltdrohungen gegeben, sondern nur das Gerücht, es könnte bei ihrem Auftritt zu spontanen linken Zornbekundungen kommen, die Ausladung sei auch wieder zurückgenommen worden, außerdem habe Eckhart dutzende Interviews zu der Angelegenheit geben können.

Zweitens sei die auf Druck von Twitter-Aktivisten von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zuerst gelöschte Videobotschaft des Kabarettisten Dieter Nuhr – ein kurzes Plädoyer für die Vorläufigkeit von wissenschaftlichen Erkenntnissen, versehen mit einem kleinen Seitenhieb gegen Greta Thunberg – später wieder online gestellt worden. Also wieder keine Cancel Culture.

 

In dubio pro reo: Stokowski und Lobo knickten ein

Und drittens die Autobiografie von Woody Allen „Ganz nebenbei“, gegen deren Publikation bei Rowohlt eine Reihe von Autoren des Verlags – Margarete Stokowski, Sascha Lobo und andere – mobil gemacht hatten mit der Begründung, wegen der (in Wirklichkeit juristisch nie belegten) Missbrauchsvorwürfe gegen Allen dürfe das Buch dort nicht erscheinen: Rowohlt ließ sich nicht erpressen, sondern veröffentlichte. (Übrigens kündigte dann doch keiner der erfolglosen Abkanzlerautoren seinen Vertrag mit Rowohlt, sie waren also bereit, weit zu gehen, aber nicht an ihre materielle Schmerzgrenze).

Die drei Geschichten dienen also als standardisierter Beweis dafür, dass Cancel Culture nirgends ernsthaft droht.

Es handelt sich wie gesagt um bequem nacherzählbare Fälle. Weniger passende lassen Verbreiter dieses Abwehrnarrativs lieber weg.

Etwa den des Leipziger Malers Axel Krause, der schon 2018 seinen Galerievertrag verlor, weil er auf Facebook die Migrationspolitik der Bundesregierung kritisierte, und im August 2020 von der Teilnahme an einer Ausstellung wieder ausgeladen wurde – weil dem Versicherer das Risiko von Anschlägen auf die Bilderschau zu hoch erschien.

Oder den Rauswurf des Chefs der hessischen Filmförderung Hans Joachim Mendig, dessen Vergehen darin bestand, dass er sich mit dem AfD-Vorsitzenden Jörg Meuthen aus Neugierde zu einem Mittagessen getroffen hatte.

Einen Punkt – keinen wirklichen Punkt, eher Fußnote – haben die Es-gibt-keine-Cancel-Culture-Erzähler hierzulande für sich: Im angelsächsischen Raum geht die Praxis des argumentationsfreien Ausschließens, Feuerns und Beschweigens viel weiter als in Deutschland. Das zeigt sich übrigens auch an Woody Allens Autobiografie: Während Rowohlt bei der Veröffentlichung blieb, strich sein amerikanischer Verlag Hachette das Buch nach dem Druck des Twitter-Mobs kurzfristig aus seinem Programm. Es sprang zwar mit Arcade Publishing ein anderer Verlag in die Lücke. Allerdings verändern und verengen sich Verhältnisse, wenn ein großes Haus wie Hachette – so wie Universitäten und Unternehmen – dem Druck der Twittertaliban nachgibt.

Ein weniger berühmter und wirtschaftlich weniger interessanter Autor als Allen muss jetzt damit rechnen, nach einer ähnlichen Anklage überhaupt keinen Verleger mehr zu finden. Und genau darin besteht das Ziel der Übung: Ein kleiner gutorganisierter Wächterrat bestimmt mehr und mehr die Regeln, und deren Regeln laufen grundsätzlich auf beweislose Anklagen, Begrenzung und Ausschluss hinaus. Auf bestimmten Themenfeldern liegen mittlerweile so dichte Minengürtel, dass Leute aus drucksensiblen Milieus sie vorsichtshalber nicht mehr betreten. Jedem Hochschulangestellten, jedem Mitarbeiter von Unternehmen, die sich dem Wächterrat unterworfen haben, kann es etwa bei der geringsten selbst indirekten Kritik an „Black Lives Matter“ so gehen wie David Shor oder Gordon Klein.

 

Britische Polizei hat Angst vor Rassismus-Vorwürfen

In Großbritannien entwickelte sich der Komplex der so genannten „Sex Grooming Gangs“ zu einer ähnlich gefährlichen Sperrzone. Von den Gangs muslimischer Männer– meist mit pakistanischen Wurzeln – waren in Rotherham und anderswo tausende überwiegend minderjährige Mädchen abhängig gemacht und missbraucht worden.

Polizei und Behörden verschlossen davor lange die Augen aus Angst, als „rassistisch“ gebrandmarkt zu werden. Als die Labour-Abgeordnete Sarah Champion aus Rotherham 2017 in einem Zeitungsbeitrag forderte, über die Verachtung der muslimischen Täter für ihre weißen Opfer zu diskutieren, verlor sie ihre Position im Labour-Schattenkabinett. Bis heute wird sie von identitären Linken als „Rassistin“ angefeindet.

Vor kurzem gab es eine heftige Debatte, ob das (Tory-geführte) Innenministerium seine Untersuchung über die Sex Grooming Gangs überhaupt veröffentlichen sollte.

In dem Unterwerfungsfeldzug der Meinungswächter – das ist vielleicht der wichtigste und immer noch ungenügend verstandene Punkt – geht es darum, nach und nach ganze Themen für die Debatte zu sperren. Und erst in zweiter Linie um den Angriff auf einzelne Personen. Die individuellen Attacken sind Mittel, nicht das eigentliche Ziel. Der Streit um Debattenfreiheit ist keine Fehde unter Intellektuellen. Zu den Opfern des systematischen und korrekten Beschweigens gehören in erster Linie Leute wie die Missbrauchsopfer von Rotherham, die ganz andere Verluste zu ertragen hatten als ein gefeuerter Universitätsdozent.

Verglichen mit der Lage in den USA und Großbritannien ist die Cancel Culture in Deutschland tatsächlich noch ein Entwicklungsprojekt. Sie wirkt sich noch nicht so toxisch aus wie in ihrem Ursprungsland, auch wegen des deutschen Arbeitsrechts, das es nach derzeitigem Stand nicht erlaubt, einen Universitätsmitarbeiter zu feuern, weil sich Studenten verletzt fühlen.

Der Punkt ist: Sollte der Kampf gegen die Cancel Culture in Deutschland, der Schweiz und Österreich deshalb erst einmal nur mit halber Kraft geführt werden? Das wäre so, als würden Hausbewohner das Übergreifen eines Brandes von nebenan nur beobachten und sich darauf verständigen, dass erst gelöscht wird, wenn das eigene Dach komplett in Flammen steht. Der linksliberale Yascha Mounk sieht die Situation für die USA mittlerweile genauso wie sein liberal-konservativer Kollege Niall Ferguson:

 

Die Gefahr wurde lange unterschätzt

Erst galt die Forderung nach „safe spaces“ und Diskussionseinschränkungen als eher skurriles Anliegen einer Minderheit in Universitäten. Inzwischen beherrscht sie viele Universitäten komplett. Jetzt greift die Cancel-Ideologie weit darüber hinaus in immer größere Gebiete der Gesellschaft wie ein Feuersturm, der das alte Ökosystem vernichtet, in dem hunderte Meinungen nebeneinander blühen konnten. Mounk warnte deshalb seine deutschen Leser in dem „Zeit“-Artikel, den gleichen Fehler zu begehen wie viele in Amerika, die den Vernichtungsfuror der Wächterräte lange unterschätzten. Das linksliberale Lager unterschätze ihn so lange, bis es Leute aus dem eigenen Milieu wie Shor traf. Das Magazin „Atlantic“ schrieb über Shor und andere: „Hört auf, die Unschuldigen zu feuern“. Was die Autoren übersehen: In einem talibanesken System gibt es keine Unschuldigen.

Mounks Name steht unter dem Aufruf von 153 Intellektuellen des englischsprachigen Raums in „Harper’s“, die sich für Grundregeln der freien Debatte einsetzen. Unter dem Appell von „Harper’s“ sammeln sich Intellektuelle mit linksliberalen bis konservativen Ansichten, etwa die Schriftstellerin Joanne K. Rowling, der Politikwissenschaftler Noam Chomsky, der Autor Malcolm Gladwell und der liberal-konservative Philosoph Francis Fukuyama.

Der Aufruf gegen Gesinnungsdruck und für ein Ökosystem von Meinungen von Autoren und Wissenschaftlern aus Deutschland, der Schweiz und Österreich ähnelt dem Text von „Harpers’s“ darin, dass sich dort nicht nur die üblichen Verdächtigen finden, sondern öffentliche Personen, die ansonsten in vielen Dingen miteinander streiten. Darum geht es ja gerade. Den deutschsprachigen Aufruf publizierte die Plattform „Intellectual Deep Web Europe“, die sich an den (ironischen) Begriff „Intellectual Dark Web“ anlehnt, eine Plattform für den von politischer Korrektness freien Meinungsaustausch, die von den Autoren Jordan B. Peterson, Sam Harris und anderen als Reaktion auf den wachsenden Gesinnungsdruck in Universitäten und etablierten Medien gegründet worden war.

Initiatoren des deutschsprachigen und weiter unten dokumentierten Aufrufs sind der Autor und Redakteur Milosz Matuschek (Der Schweizer Monat, Neue Züricher Zeitung) und der Publizist Gunnar Kaiser.

Zu den Erstunterzeichnern gehören Autoren wie Alexander Kluge, Monika Maron, Asfa-Wossen Asserate, Ralf Bönt, Cora Stephan, Dieter Nuhr und Günter Wallraff, der Philosoph Robert Pfaller, Wissenschaftler wie der Jurist Reinhard Merkel, der Historiker Jörg Baberowski, der Medientheoretiker Norbert Bolz, die Migrationsforscherin Sandra Kostner und die Ethnologin Susanne Schröter, Journalisten, Redakteure und Autoren mehrerer Medien, unter anderem Götz Aly (Berliner Zeitung), Michèle Binswanger (Tagesanzeiger), Frank Lübberding und Philip Plickert (FAZ), Harald Martenstein (Zeit, Tagesspiegel), Alexander Kissler (NZZ), Alexander Grau (Cicero) und Ferdinand Knauß (Tichys Einblick), der Autor dieses Textes wie gesagt auch.

Ein zentraler Satz des Aufrufs stammt von Jean Paul:

„Freiheit ist ein Gut, dessen Dasein weniger Vergnügen bringt als seine Abwesenheit Schmerzen.“

 

Keine Erpressung, keine Sprechverbote, keine Kontaktschuld

Die Unterzeichner des Appells bekennen sich zu Standards für die öffentliche Debatte, die den Raum offenhalten sollen.

Erstens wenden sie sich gegen jede Form der Cancel Culture, also Druck auf Veranstalter, Multiplikatoren oder Plattformbetreiber. Wohlgemerkt: schon gegen erpresserischen Druck, nicht erst gegen vollendete Ausladungen, Absagen und Löschungen.

Zweitens solidarisieren sie sich mit denen, die unter einen Gesinnungsdruck gesetzten werden.

Drittens setzen sie eine Regel: Der öffentliche Raum und die Themen darin gehören allen. Niemand besitzt das Recht, Zugangsbeschränkungen auszurufen, etwa die, dass nur Farbige über Rassismus sprechen dürfen, oder dass deren Meinungen von vorn herein schwerer wiegen.

Und viertens lehnen die Unterzeichner das Prinzip der Kontaktschuld ab. Meinungen übertragen sich nicht durch Nähe auf einem Podium oder in einem Verlagsprogramm.

Was die 153 von „Harper’s“ und die Erstunterzeichner des deutschsprachigen Appells zusammenbringt, sind drei Phänomene, die im blinden Fleck der Wächterräte liegen, nämlich Spiel, Spaß und Spannung. Überall dort, wo Aufpasser ganze Themenfelder abriegeln und Debattenteilnehmer bei Strafe der Verfemung dazu zwingen, jeden Satz auf heikle Formulierungen abzuklopfen, stirbt als erstes der Witz (früher einmal ein Synonym für Geist) und zweitens jede Überraschung.

Die Debattensimulation unter der Fuchtel der Korrektness erinnert an die Deklamationsabende im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, die dort unter der Bezeichnung Talkshow laufen, an so genannte Diskurse an der Berliner Volksbühne oder die Kolumnen in der Meinungsabteilung von „Spiegel Online“. Buchstäblich jede Wendung dort lässt sich voraussehen, jedenfalls für den, der überhaupt noch zuschaut. Auftritte von Kasper, Krokodil und Schutzmann wirken dagegen vergleichsweise anarchisch.

Erstaunlich viele Autoren und Wissenschaftler in der öffentlichen Arena mit ansonsten unterschiedlichsten Ansichten merken, dass sie ein Quantum Witz und Spiel brauchen, weil sie sich sonst zu Tode langweilen. Und ihr Publikum auch. Mehr Gemeinsamkeit braucht es gar nicht.

Apropos zu Tode langweilen: Der Rundfunk Berlin-Brandenburg sendete etwas zu dem deutschsprachigen Appell, allerdings achtete die Redaktion darauf, außer der Überschrift des Aufrufs nichts zu zitieren. Sie fasste noch nicht einmal seinen Inhalt zusammen, sondern suggerierte, es stünde darin, „dass man seine Meinung nicht äußern dürfe“. Das klingt dann so:

„Gerade am Wochenende war es zu sehen: Menschen dürfen in Deutschland sehr lautstark öffentlich ihre Meinung sagen. Dennoch ist die Ansicht offenbar weit verbreitet, dass man in Deutschland oder auch in anderen Ländern seine Meinung nicht äußern dürfe. Politische Korrektheit wird als Gängelung empfunden. Heute ist ein Appell im Internet veröffentlich worden, ’Appell für freie Debattenräume’, so der Titel.“

 

Übereinander statt miteinander sprechen

Warum auch nicht? Wer den „Sturm auf den Reichstag“ erfindet, kann notfalls auch einen ganzen Aufruf für das RBB-Publikum neu dichten und die uralte Strohpuppe des Abgedrifteten, der, höhö, sagt, dass er nichts sagen darf, auf die Gebührenfunkrampe zotteln. Dort sitzt sie dann zusammen mit Anatol Stefanowitsch, „Sprachwissenschaftler an der FU Berlin und Autor des Buches ‚Eine Frage der Moral – Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen’“. Er spricht mit einem RBB-Redakteur statt mit einem Unterzeichner des Aufrufs. Stefanowitsch weiß auch so, was Alexander Kluge, Asfa-Wossen Asserate, Monika Maron, Jörg Baberowski und andere „überwiegend männliche“ Unterzeichner des Aufrufs treibt, nämlich „die Angst vor dem Bedeutungsverlust“.

 

Ernsthaft: Wer hört bei diesen selbsttherapeutischen Gesprächen noch zu?

Das Besondere der beiden Aufrufe liegt darin, dass im Feld der Unterzeichner wirkliche Vielfalt herrscht. Sowohl aus den „Harper’s“ als auch den Namen aus Deutschland, Schweiz und Österreich ließe sich sofort eine anregende und möglicherweise auch unkalkulierbare Diskussionsrunde zusammenstellen. Auch eine Tafelrunde. Oder die Autorenriege eines Mediums, für das ein Publikum freiwillig Geld ausgeben würde.

 

Alles war schon mal da: Savonarola, Calvin und Robespierre

In der Geschichte gab es mehrere Moral- und Tugendregime, die den Kreis des Erlaubten immer enger und den der Sünder immer weiterzogen. Girolamo Savonarolas Herrschaft der Eiferer in Florenz (inklusive Kindersturmtrupps, die Fanciulli), Johannes Calvins Diktatur in Genf, Robespierres Jakobinerzeit. Alle dauerten erstaunlich kurz, denn alle übten ihre Macht durch ständige Verschärfung von Anklage und Urteilen aus, wodurch sie unablässig die Zahl ihrer Gegner vergrößerten. An einem bestimmten Punkt setzten sich Leute zusammen, die wahrscheinlich unter normalen Bedingungen nicht zusammengefunden hätten, um durchzukalkulieren, was sie riskieren, wenn sie sich verweigern, und was sie verlieren, wenn sie sich unterwerfen. Immer kamen sie zu dem gleichen Ergebnis. Insbesondere für Savonarola und Robespierre ging die Geschichte auch persönlich nicht gut aus.

In den USA, dem Mutterland der neuen Savonarolas, gibt es einige Anzeichen, dass ihre Ära diesen Punkt erreicht hat. Der „Harper’s“-Appell gehört dazu. Mit der Supermarktkette „Trader Joe’s“ entschied sich gerade ein großes Unternehmen (nach kurzem Schwanken), seine angeblich „rassistischen“ Logos auf den Packungen von asiatischem, lateinamerikanischem und französischem Essen nicht wie von Aktivisten gefordert zu entfernen, sondern beizubehalten. Auch deshalb, weil die Hauptaktivistin, eine blonde weiße Kalifornierin, keine verletzten und beleidigten Kunden mit asiatischen und Latino-Wurzeln auftreiben konnte. Die Jobvermittlungs-Seite „Unwoke“ umwirbt Firmen, die Fachkräfte suchen, während sie von narzisstischen Aktivisten verschont bleiben möchten.

In Großbritannien gewann die Labour-Abgeordnete Sarah Champion ihren Wahlkreis Rotherham wieder, obwohl es Labour im Dezember 2019 nicht leicht hatte. Sie blieb, der frühere Parteichef Jeremy Corbyn, der sie als „Rassistin“ abkanzelte, endete ziemlich ruhmlos.

Die Hölle lässt sich ziemlich einfach ausmalen: Eine Talkshow im deutschen Gebührenfernsehen mit Savonarola, Calvin, Robespierre, Corbyn und irgendeinem ausgelosten Aktivisten m/w/d, dessen Namen sich keiner merken muss.

Es wäre sogar die Hölle für die Teilnehmer selbst.

Savonarola sieht übrigens auf sämtlichen Porträts (es gibt etliche) so aus, als würde er sein Ende schon kennen.

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