Westdeutsche Politiker, ihre Image-Angst und der Holocaust

Zahlreich westdeutsche Politgrößen, die zum Teil selbst Nationalsozialisten gewesen waren, empfanden sich weniger als Schuldige, sondern vielmehr als „Opfer“ der Holocaust-Aufarbeitung und des Holocaust-Gedenkens in Nachkriegsdeutschland und den USA. Jacob Eder hat ein neues Buch zur Erinnerungskultur an den Judenmord seit den 70er Jahren veröffentlicht.

Von Dr. Joseph Heid

Der Holocaust bildet seit Bekanntwerden des ganzen Ausmaßes dieses Großverbrechens durch den NS-Staat einen zentralen Referenzpunkt US-amerikanischer Politik und Kultur. Ab Ende der 1970er bis Mitte der 1990er Jahre entwickelte sich das Holocaust-Gedenken in den Vereinigten Staaten zu einem festen Bestandteil des „American life“. Der amerikanische Historiker Jacob S. Eder fragt danach, wie Deutsche das öffentliche Gedenken und die Erinnerung der Amerikaner an den Judenmord wahrgenommen haben und wie sie wechselseitig darauf reagierten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg legten die Amerikaner Wert darauf zu wissen, wie die Deutschen es mit ihrer Vergangenheit hielten. Adenauers zögerliche Haltung in dieser Frage, wirft aber vor allem ein ernüchterndes Bild auf die Haltung des deutschen Volkes insgesamt, dass mit den eigenen Verbrechen nichts zu tun haben und an die Vergangenheit nicht mehr erinnert werden wollte. Das gewichtige Wort des amerikanischen Hochkommissars John McCloy, die Welt werde die Veränderungen in Deutschland am künftigen Umgang der Deutschen mit den Juden messen und die „Judenfrage“ sei für die Deutschen der „Prüfstein der Demokratie“, war mit Adenauers erster Regierungserklärung bereits in den Wind geschrieben.

 

Helmut Kohl wollte die Anerkennung der Amerikaner

Helmut Kohl, der bei seinem Amtsantritt als Bundeskanzler 1982 eine neue Leitkultur und eine geistig-moralische Wende einleiten wollte, drängte in einem Brief an Rabbi Marvin Hier, den Vorsitzenden und Gründer des Simon Wiesenthal Centers in Los Angeles im Februar 1990 darauf, dass in den USA endlich intensiver darüber gesprochen werden sollte, was nach 1945 in Deutschland an Positivem geschehen sei und beklagte die „Informationsdefizite“ seitens der Amerikaner hinsichtlich der Errungenschaften westdeutscher Demokratiebemühungen, die er „einfach erschreckend“ fände.

Kohl plädierte hinsichtlich der Vergangenheitspolitik nachdrücklich für eine Art „Geschichtsbalance“, wobei die öffentliche Beschäftigung mit den deutschen Verbrechen der NS-Zeit nicht alles überschatten sollte. Das Narrativ sollte lauten, die Westdeutschen hätten aus der Geschichte gelernt und sich nach 1949 gleichsam rehabilitiert. Kurz: Die Bundesregierung war bemüht, dauerhaft für ein positives Deutschlandbild in den USA zu sorgen.

Eder vertritt die These, dass sich eine Reihe von vornehmlich westdeutschen Akteuren – die zum Teil selbst Nationalsozialisten gewesen waren – als „Opfer“ des Holocaust-Gedenkens in den USA empfanden. Er verortet Kanzler Kohl im Zentrum dieses Kreises aus Politik, Diplomatie und dem entsprechenden Umfeld in privaten Organisationen und Stiftungen. Eder schreibt der deutschen Geschichtspolitik revisionistische Tendenzen zu mit dem Wunsch, dass die Bundesrepublik endlich aus dem Schatten der Vergangenheit heraustreten und die Fixierung auf den Holocaust hinter sich lassen müsse.

Während Kanzler Helmut Schmidt zu der Einschätzung kam, dass das amerikanische Holocaust-Gedenken keine bedeutenden Gegenmaßnahmen von deutscher Seite erfordere, pochte Kohl, die Präsenz des Holocaust-Themas in den USA fürchtend, darauf, dass die Bundesrepublik von den westlichen Verbündeten als ebenbürtige, „normale“ Nation und gleichwertiger Partner anerkannt werde. Kurz: Kohl bewerte das wachsende Interesse der Amerikaner an den NS-Verbrechen als Bedrohung für das Ansehen der Bundesrepublik und als ein Hindernis für die deutsch-amerikanischen Beziehungen.

Die Angst, im Ausland könne sich das Bild des „hässlichen Deutschen“ verstetigen, begann sich im politischen Deutschland festzusetzen. Das führt Eder dazu, den Begriff „Holocaust-Angst“, dessen Ursprünge in den späten 1970er Jahren – und tief eingebettet in die spezifische Dynamik des Kalten Krieges – liegen, einzuführen.

 

Welche Rolle spielte der Kalte Krieg?

Seit den späten 70er Jahren überlagerten sich drei Entwicklungen, die die Westdeutschen dazu zwangen, sich dem erhöhten internationalen Interesse an den deutschen Verbrechen der NS-Zeit zu stellen, und die dazu führten, dass konkrete politische Maßnahmen ergriffen wurden: erstens der konservative Diskurs über die bundesdeutsche Identität und die Suche nach einer „usable past“ vor dem Hintergrund des Holocaust; zweitens neue Dynamiken der deutsch-amerikanischen Beziehungen im Kontext des Kalten Krieges und drittens der Wandel in der amerikanischen Holocaust-Erinnerungskultur. Aus dieser Perspektive sollten die Jahre zwischen 1933 und 1945 und der darin eingebundene Judenmord als „bloße Fehltritte“ in einer ansonsten „gesunden Vergangenheit“ erscheinen.

Die Holocaust-Angst, gewissermaßen Teil der Alltagsroutine deutscher Diplomaten, erreichte mit der Wahl Kohls zum Bundeskanzler Ende 1982 ein neues Niveau. Kohl und seine engsten Berater nahmen sich persönlich dieses Themas an und betrachteten die Beziehungen zu jüdischen Organisationen in den Vereinigten Staaten in diesem Kontext als besondere Herausforderung. Eder wirft einen fokussierten Blick auf die Debatten in Westdeutschland, sowie auf die Repräsentanten der BRD in den USA bezüglich der Frage, wie man glaubte, im Ausland gesehen zu werden – und wie man dort gesehen werden wollte.

Indem die bisherige deutsche Forschungsliteratur ihr Augenmerk darauf richtete, wie deutsche Entscheidungsträger sich bemühten, historische Narrative aus politischen Motiven zu kontrollieren, zu formen und neu zu schaffen, versteht sich Eders Studie als umfassende Erörterung einer übernationalen Geschichtspolitik und als etwas, was er „transnationales Memory-Management“ nennt. Er zeigt damit, wie politische Eliten institutionelle, finanzielle und intellektuelle Ressourcen einsetzen, um Geschichte zu deuten – oder umzudeuten. Anders als die herkömmliche Politik- oder Diplomatie-Geschichte betrachtet Eder nicht allein die staatliche Ebene, sondern berücksichtigt auch Wissenschaftler, Intellektuelle, Lobbyisten, Geschäftsleute, Privatpersonen sowie die öffentliche Meinung, etwa die Medien, die ebenfalls zur Ausformung der deutschen Politik beitrugen.

Wenngleich deutsche Akteure bemüht waren, öffentlich rassistische oder gar antisemitische Äußerungen zu vermeiden, kamen doch immer wieder einschlägige Stereotypen zum Vorschein, sobald keine jüdischen Gesprächspartner zugegen waren. So war es üblich, in der internen Kommunikation den Einfluss einer „jüdischen Lobby“ oder vom „jüdischen Geld“ in den USA zu kritisieren, man mutmaßte über kollektive Charakterzüge von Juden (sie seien besonders „emotional“), oder man verwendete abfällige Formulierungen (sprach von „Holocaust-Eiferer“) und benutzte Codewörter, wenn es um Juden ging und sprach von der „Ostküste“. Demgegenüber standen Bekundungen zu Bedauern und Scham, wurde einer Versöhnung mit den NS-Opfern das Wort geredet. Ganz offenbar, schreibt Eder, schlossen sich ernsthafte Anstrengungen zur Aussöhnung mit jüdischen Opfern und das Fortbestehen antisemitischer Stereotype nicht gegenseitig aus.

Das Stereotyp vom Glauben an einen überproportional großen Einfluss „jüdischer Macht“ in den USA als zentraler Punkt der Holocaust-Angst war auch bei Kanzler Kohl ausgeprägt. Und damit stand er in der Tradition seines Amtsvorgängers Konrad Adenauer, der den amerikanischen Juden ebenfalls einen überdimensionalen Einfluss zugeschrieben hatte. Umgekehrt machten viele Holocaust-Überlebende in den USA kein Hehl aus ihrer skeptischen Haltung gegenüber der Bundesrepublik und deren Vergangenheit.

Eder zeichnet ein positives Fazit vom Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit: Die Post-Holocaust-Generation habe cum grano salis lernen müssen, auf nationaler, aber insbesondere auch auf internationaler Ebene mit den Folgen und Nachwirkungen des Judenmords umzugehen – ein Prozess, der in der Bundesrepublik Deutschland alles in allem zu einer Anerkennung der historischen Verantwortung für den Holocaust geführt hat, die zu einem Bestandteil nationalen Selbstverständnisses wurde.

 

Jacob S. Eder: Holocaust-Angst. Die Bundesrepublik, die USA und die Erinnerung an den Judenmord seit den siebziger Jahren,

Wallstein Verlag, Göttingen 2019,

432 S.,

42 Euro.

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