Ungarn – Frankreich – Israel – Lübeck – und wieder Israel

Ein neuer Kinder-Comic beschreibt die verworrene Flucht der heute 88-jährigen Jüdin Esther Shakine aus Ungarn nach Palästina.

Von Tina Adcock

Die als Designerin, Malerin und Illustratorin arbeitende Esther Shakine thematisiert in ihrem neu erschienen Buch „Exodus“ ihre eigene Lebensgeschichte. Sie durchlebt darin, in der Gestalt der fünfjährigen Protagonistin, Ticka, noch einmal ihre gefährliche Fluchterfahrung aus Ungarn zur Zeit des Nationalsozialismus in das britische Mandatsgebiet Palästina.

„Exodus“ ist nicht das einzige Werk der 1932 in Ungarn geborenen Autorin. Sie verfasst und gestaltet Kinderbücher der unterschiedlichsten Art. Auf den ersten Blick scheint es ungewöhnlich, dass ein Buch, dass sich mit der Flucht eines jüdischen Mädchens beschäftigt, in Form eines Comics erscheint. Doch Shakine wollte sich mit ihrem Werk einer der schwierigsten Herausforderung überhaupt zu stellen. – Wie erklärt man einem Kind das Leiden und die Schrecken, die das jüdische Volk durch die Schoah erfahren musste? Bereits die Verarbeitung des Buchs ist dem Verlag Klinkhardt & Biermann sehr gelungen. Da es sich um ein Kinderbuch handelt, ist der grobe, kartonartige Umschlag, von dem sich das Titelbild und die Schrift leicht abheben, eine gute Wahl, da Kinder zumeist nicht gerade zimperlich mit Büchern umgehen und durch das Fühlerlebnis die Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes ertasten zu können.

Die Zeichnungen sind überwiegend in Schwarz-Weiß gehalten, lediglich jene, in denen starke Gefühle, wie Freude, Angst und Leid ausgedrückt werden, sind durch das Hinzufügen von Farben kenntlich gemacht. Das erste Bild im Buch, bei dem Ticka mit ihrem Fahrrad und ihren strahlenden Eltern zu sehen ist, dient als Beispiel dafür. Es ist eine fröhliche Zeichnung und in der dazugehörigen Bildunterschrift erzählt Ticka von ihren Eltern und dem roten Fahrrad, das sie von ihrem Vater geschenkt bekommen hat. Auf dem Bild sind sie, ihre Eltern und ihr Fahrrad durch helle Farben gekennzeichnet, da es sich um eine positive Erinnerung handelt. Die Bilder auf der darauffolgenden Seite sind wieder in Schwarz-Weiß gehalten, bis auf den gelben Stern, von dem ihre Mutter in der dazugehörigen Bildunterschrift sagt: „[…] Da gibt es böse Menschen, das sind die Nazis, und die haben jetzt das Sagen in der Stadt. Sie zwingen uns, diesen Stern zu tragen.“

Um die negative Veränderung ihres Alltags zu betonen, sind auf derselben Seite Zeichnungen von Kindern zu sehen, die in einer eingefügten Sprechblase über ihren Köpfen „Judenkind!“ und „Mit so einer spielen wir nicht!“ rufen, sowie ein Bild, das den Eingang zu einem Park mit einem Spielplatz zeigt und das dazugehörige Schild „Für Juden und Hunde verboten.“ Ihr Alltag war wegen des gelben Sterns nur noch grau, dies wird durch die Bilder noch eindrucksvoller kommuniziert. Auf den darauffolgenden beiden Seiten berichtet Ticka davon, wie Polizisten eines Nachts das Haus ihrer Familie in ihrer Heimatstadt in Ungarn stürmten. Ihre Mutter versteckte sie im Kleiderschrank, doch ihre Eltern mussten den Beamten folgen. Sowohl der Krach, den das Anklopfen der Polizisten an der Tür verursachte, sowie die Anweisung der Mutter an Ticka, die Wunde des Vaters, der von einem der Männer geschlagen wurde, und das weit aufgerissene Maul der Katze, die vor den Polizisten floh, sind in einem kräftigen Rot gehalten, das sich von der sonst grauen Szenerie bedrohlich abhebt. Dieses Schema zieht sich durch die gesamte Grafik-Novelle und vermittelt den Schrecken und die Bedrohlichkeit der Situationen, die das fünfjährige Mädchen durchleben muss.

 

„Von nun an eine kleine Christin“

Auf den darauffolgenden Seiten beschreibt Ticka das Verlassen des Hauses, bei der der Nachbar lediglich durch den Türschlitz spähte, und ihr nicht half, und die Unterbringung in dem Waisenhaus des Klosters durch den mit der Familie befreundeten Priester. Sie berichtet davon, dass er ihr den gelben Stern abnahm, ein Kreuz umhängte und ihr erklärte, dass sie von nun an „eine kleine Christin“ wäre. Durch ihre auktoriale Erzählperspektive fügt sie hinzu, dass der Krieg bereits seit drei Jahren tobt und ein grausamer Mann namens Hitler, der alle Juden hasst, danach strebt die Welt zu erobern und Juden in Ghettos zusammenpfercht, wo sie unter schrecklichen Zuständen litten und starben.

Wegen der immer weiter zunehmenden Bombenangriffe sollte das Waisenhaus evakuiert werden. Ticka erkannte die Stiefel des Polizisten wieder, und floh. Die Szenerie und das Chaos wird durch ein Bild von ihrer Flucht unterstrichen, bei dem man Ticka vor dem Polizisten durch die Stadt fliehen sieht, auf die Flugzeuge Bomben abwerfen, und lediglich das kleine Mädchen in Gelb und die Zerstörung der Stadt in demselben dramatischen Rotton dargestellt werden, der auch schon zuvor das Chaos und die Angst im Werk zum Ausdruck brachte. Ticka versteckte sich solange unter der Treppe eines der Häuser, bis sich der Lärm gelegt hatte und sie Essen roch, das russische Soldaten kochten. Sie reichten ihr und drei anderen jüdischen Kindern, die vor ihrem Schicksal fliehen konnten, einen Napf Suppe und ein Stück Brot. Ticka schloss sich mit den drei Jungen zusammen, lebte eine Weile mit ihnen in einem Auto und bekam dreimal täglich Nahrung von den russischen Soldaten.

 

Keine Rückkehr möglich

Eines Tages beschloss sie in ihr altes Zuhause zurückzukehren, was jedoch bereits von anderen Leuten bewohnt war, die sie mit schroffen Worten zurückwiesen: „Das ist jetzt unser Haus, Du gehörst hier nicht mehr hin. Verschwinde!“ Im weiteren Verlauf beschreibt Ticka, dass ihr und den anderen Kindern mittlerweile bewusst war, dass ihre Eltern an einen Ort namens Konzentrationslager gebracht wurden. Die vormals erwähnte Anwesenheit der Roten Armee und die nun via Zügen zurückkehrenden ehemaligen KZ-Insassen beschreiben das Ende des Krieges, aber nicht das Ende des Leidens. Als die Kinder zu den Zügen laufen und laut die Namen ihrer Eltern rufen, bekommen sie folgende Antwort: „Sie sind tot… alle tot.“ Ungläubig und zugleich ängstlich ob des Anblicks der abgemagerten Rückkehrer, beschließen sie weiter an den Zügen zu warten, bis ein Soldat, Dan, mit dem Emblem der „Jüdischen Brigade“ erscheint. Dan erzählt ihnen von einem Land der Juden und er bringt sie zu einem jüdischen Waisenhaus.

Ticka erzählt auf den folgenden Seiten von ihrem neuen Alltag, Sportaktivitäten und der Prügelei um Essen. Nach einem harten Winter wurde den Kindern mitgeteilt, dass die Reise nach Israel nun beginnen würde. Da die ungarische Regierung die Ausreise nicht erlaubte, mussten sie sich als taubstimme Kinder aus Italien ausgeben. Zusätzlich zu der Beschreibung der anstrengenden Reise ist eine Art Karte abgebildet, die einige Zwischenstopps darstellt. Je weiter sich die Kinder der finalen Station, der französischen Stadt Sète, nähern, desto farbiger werden die Darstellungen. Dort angekommen bestiegen sie ein Schiff namens „President Warfield“, zusammen mit anderen Leuten jeder Altersklasse und jedes Zustands.

 

An Bord der „President Warfield“

Anschließend berichtet Ticka von den schwierigen Zuständen an Bord, wie Platzmangel und das Verbot an Deck zu gehen, aus Angst von den Briten entdeckt zu werden. Diese finden sie jedoch schon bald und forderten sie auf umzukehren, da sie die jüdische Einwanderung in ihr Mandatsgebiet verhindern wollten. Als Antwort hisste das Schiff jedoch die israelische Flagge und die Banderole mit dem neuen Namen des Schiffes: „Exodus 1947“. Nicht nur das Zweite Buch Mose trägt jenen Namen, sondern er bezeichnet auch den Auszug aus Ägypten, in dem die Juden als Sklaven einst vom Pharao unterdrückt wurden, und die Reise nach Israel, dem Land, in dem Milch und Honig fließen. Auf den darauffolgenden Seiten verdeutlichen zum größten Teil farbige Bilder den Kampf der Menschen auf der „Exodus“ gegen die sechs britischen Zerstörer. Als sich drei der Schiffe näherten, Tränengas abfeuerten und die britischen Soldaten versuchten das Boot zu entern, bewarfen sie die Menschen an Bord mit Kartoffeln und Konservendosen. Anschließend wurde das Feuer eröffnet, bei denen ein Kind ums Leben kam. Wegen des starken Beschusses musste sich die „Exodus“ ergeben, was dazu führte, dass alle Passagiere auf die britischen Schiffe überführt wurden und schließlich am Hafen von Haifa anlegten. Als die Passagiere der „Exodus“ schlussendlich an Land gehen konnten und ihr Ziel, Israel, theoretisch erreicht hatten, wurden sie von bewaffneten britischen Soldaten abgeführt, und die Toten und Kranken abtransportiert.

Anschließend erfolgte eine demütigende Desinfektion der Menschen mittels DDT-Pulver. Danach wurden alle Passagiere auf drei Schiffe verladen, die sie zurück nach Frankreich brachten. Die Freude, endlich das Gelobte Land erreicht zu haben, währte demnach nur kurz. Als die Passagiere sich jedoch weigerten in Frankreich an Land zu gehen, brachten die britischen Schiffe sie nach Hamburg, wo sie zum Aussteigen gezwungen wurden. Ticka berichtet, dass sie in einem Lager mit Holzbaracken untergebracht wurden, hierbei handelt es sich um Internierungslager in Lübeck.

 

Ohne Eltern in Israel

Nachdem Proteste laut wurden, wurde den ehemaligen Passagieren der „Exodus“ doch noch erlaubt, nach Israel auszuwandern. Unsere Protagonistin, Ticka, reiste schlussendlich auf der „Andorra Panama“ im Mai 1948 in das Land ihrer Väter und sie lichteten den Anker an genau jenem Tag, an dem die Briten das Land verließen. Sie wuchs in dem Kibbuz „Sdom Yam“ auf. Die letzten Sätze des Buches lauten: „Ich hatte das Gefühl, dass ich endlich angekommen war. Ich setzte mich in den warmen Sand. Ich war glücklich. Aber … ein wenig war mir zum Weinen zumute. Ich wünschte mir so sehr, dass Mama und Papa bei mir wären …“

Das Buch ist mit einer Altersempfehlung von 8 Jahren bedenkenlos für Kinder dieses Alters zu empfehlen. Sowohl die gewählte Sprache als auch die Darstellungen vermitteln zwar durchaus den Ernst der Lage, aber in einer kindgerechten Form. Mit dem Fortgang der Geschichte nimmt auch die Farbgebung der Bilder zu, die die damalige Schreckensherrschaft in Ungarn und die trotz allem hoffnungsvolle Reise nach Israel auch dadurch eindrücklich darstellen. In einer Rezension von Shakines Werk wird bemängelt, dass die Seiten in Schwarz gehalten sind. Juna Grossmann schreibt dazu auf irgendwiejuedisch.com: „Muss denn immer alles Schwarz oder Grau sein, was mit der Shoa zu tun hat?“

Gerade bei einem Werk, das Kinder als Zielgruppe hat, ist die Farbgebung durchaus ein wichtiges Element, wie man in dem gesamten Werk meiner Meinung nach sehr gut umgesetzt hat. Die Schoah ist nun einmal nicht mit einer frohen Farbgebung zu vereinbaren, da dunkle Farben immer mit etwas Düsterem und Unheilvollen assoziiert werden. Die Autorin und Künstlerin kennzeichnet durch die intensivere Farbgebung im weiteren Verlauf der Geschichte genau die positive Wendung in ihrem Werk, nämlich die Rettung durch die Hagana und die finale Ankunft in Israel.

 

Baruch HaShem!

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