Warum Israels Sozialisten verdient gescheitert sind

Dass die seinerzeit mächtige sozialistische Partei heute in Israel derart chancenlos ist, kam nicht über Nacht. Eine lange Kette politischer Instinktlosigkeiten führte zum Quasi-Aus der Partei.

Ehud Barak mit seinem Vorgänger im Amt des Ministerpräsidenten, Jitzak Rabin.© TOLGA AKMEN, AFP

Von Elisabeth Lahusen und Ulrich Sahm

Israel war eine sozialistische Gründung: 1948, als David Ben Gurion den jüdischen Staat gründete, war seine Mapai-Partei (Mifleget Poalei Erez Jisrael), die sozialistische Arbeiterpartei, die mächtigste politische Kraft in Israel. Sie hatte sich schon in den 1930er Jahren als moderatere Splittergruppe der marxistisch-zionistischen russischen Partei Poalei Tzion gebildet. Eng verbunden war sie mit der Histadrut, der Mutter aller Gewerkschaften, die schon im Dezember 1920, und damit fast 30 Jahre vor der israelischen Staatsgründung, von David Ben Gurion in Haifa gegründet worden war.

Die zionistisch-sozialistische Histadrut war weit mehr als nur eine Gewerkschaft. Es gibt kaum einen Sektor im Leben des jüdischen Staates, der nicht seine Wurzeln in der Histadrut hätte: Die größte Krankenkasse des Landes („Kupat Cholim“), Altenheime, Erholungsheime, kooperative Unternehmen, Kultur- und Medien-Einrichtungen sowie der Sportverband Hapoel, aus dem zahlreiche, später unabhängige Sportvereine hervorgingen. Die Histadrut gründete auch mit der Hilfe der Zionistischen Weltorganisation WZO ihre eigene Bank, die Bank HaPoalim. Diese Bank wurde am 30. November 1921 als „The Workers Bank Ltd.“ in Tel Aviv gegründet. Die Histadrut behielt bis 1983 die Kontrolle über die Bank. Sie war maßgeblich für Siedlungswirtschaft und Infrastruktur und machte später die Mapai zur herrschenden Kraft in der Bewegung des Zionismus. Aus ihr gingen auch haSchomer und Hagana hervor, die ersten bewaffneten jüdischen Gruppen, deren Aufgabe darin bestand, die Bevölkerung und den Besitz der jüdischen Siedlungen gegen Angriffe und Raub zu verteidigen.

Der jüdische Staat hatte den Ruf einer erfolgreichen sozialistischen Gründung. Wer vom Ausland aus nach Israel schaute, sah auf das Leben im Kibbuz. Mapai existierte bis 1968, dann verband sie sich mit zwei anderen Parteien zur neuen israelischen Arbeitspartei Awoda. Bis 1977 gehörten alle Premierminister der Mapai bzw. der Awoda an. Und was heute kaum noch bekannt ist: Lange Zeit regierten Israels Sozialisten gemeinsam mit den religiösen Parteien.

1977 kam mit dem Wahlsieg des rechtsgerichteten Menachem Begin die „Wende“. Heute wird die ehemalige Arbeitspartei in der Knesset, dem Parlament, nur noch als „Fraktion“ mit lediglich 3 Abgeordneten gelistet: Merav Michaeli, Amir Peretz und Itzik Shmuli. Was sind die Gründe für den Niedergang jener Partei, die bis vor wenigen Jahren auch eine wichtige Stimme bei der „Sozialistischen Internationale“ hatte und die in deutschen Medien dargestellt wird, als würde sie bis heute in der Politik Israels eine Rolle spielen?

 

Das Proletariat macht sich selbstständig

In Westeuropa war der Niedergang des Sozialismus ein Teil der Sozialdemokratisierung der Politik: Das Heer der besitzlosen „Arbeiter“ aus der Zeit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert war ausgestorben. Die Arbeitnehmer der Moderne wollen lieber für ihr eigenes Haus sparen, als sich von linken Intellektuellen das Leben im Kollektiv vorschreiben zu lassen. Die letzten Versuche sie doch dafür zu begeistern, wie die des jungen Joschka Fischer 1971 bei der Adam Opel AG in Rüsselsheim, sind mangels Interesses der Arbeiterschaft gescheitert.

Israels Anfänge waren noch stark von der Kibbuz- Bewegung geprägt, die um 1910 von einer zionistischen Gruppe aus Weißrussland begründet wurde. Bis zur Staatsgründung sicherten die Kibbuzim den Lebensunterhalt, aber auch die Grenzen der ständig gefährdeten jüdischen Gemeinschaft. Und als sich der kleine jüdische Staat 1948 gründete, war er selbstverständlich links. Doch schon Anfang der 1950er Jahre wandelte sich die Stimmung, als rund eine Million vertriebene Juden aus den arabischen/islamischen Ländern in Israel Zuflucht suchte. Aus Sicht der israelischen Sozialisten mit ihrem typisch europäischen Hintergrund galten diese Orientalen als „ungebildet“ und „politisch unreif“, als ein ärmliches Proletariat ohne Klassenbewusstsein. Eine Integration der Orientalen kam für diese Sozialisten nicht in Frage. Sie wurden in der Peripherie angesiedelt, in den Entwicklungsstädten, fern ab der wichtigen Zentren Tel Aviv, Jerusalem und Haifa. Die Arbeitspartei verbündete sich dagegen lieber mit den reichen Eliten im Norden von Tel Aviv.

1977 erkannte dann ausgerechnet der hochgebildete Pole Menachem Begin das Wählerpotential der vernachlässigten Orientalen. Begin war vor der Staatsgründung als Untergrundkämpfer geachtet und gefürchtet. Er hatte zwar anschließend eine zivile politische Laufbahn eingeschlagen, aber schon 1970 die Regierung verlassen, um gegen die Land-für-Frieden-Politik zu protestieren. 1973 schloss er sich mit anderen Parteien aus dem linken, rechten und religiösen Lager zusammen und gründete als Gegengewicht zu den herrschenden Arbeiterparteien den konservativen Likud-Block. Als Führer des Likud hielt der alte Kämpfer nun politische Reden mit einem für nüchterne europäische Ohren unerträglichen Pathos. Und immer wieder ließ er Bibelverse oder religiöse Motive in seine Ansprachen einfließen. Genau das traf aber den Geschmack der den ältesten Traditionen tief verbundenen Juden aus der arabischen Welt, die von Marokko über Ägypten bis Irak zum Teil über zweieinhalb Jahrtausende ihren Glauben gepflegt hatten und nun, nach ihrer gewaltsamen Vertreibung aus den arabischen Staaten, in Israel eine Mehrheit bildeten.

Und so bewirkte Begin bei den Wahlen 1977 die berühmt gewordene „Wende“. Plötzlich hatten die Sozialisten nichts mehr zu bestimmen.

 

Der Friedensprozess scheitert

1993 gelang den Sozialisten ein Comeback mit Jitzhak Rabin als Ministerpräsident. Der startete mit Schimon Peres den „Friedensprozess“ mit den Arabern aus dem ehemaligen Mandatsgebiet Palästina, den „Palästinensern“. Die Aussicht, endlich in Frieden mit den arabischen Nachbarn leben zu können, hat damals viele Israelis beflügelt. Gemeinsam mit Israels damaligem Außenminister Schimon Peres erhielten Rabin und Arafat am 14. Oktober 1994 für diesen Schritt den Friedensnobelpreis. Dieser sogenannte Osloer Prozess hätte in die von den Europäern befürwortete „Zweistaatenlösung“ münden sollen, endete aber letztlich nur in einer „palästinensischen“ Selbstverwaltung in genau abgesteckten „Autonomiegebieten“ im Gazastreifen und im Westjordanland. Denn „nach Oslo“ kam alles anders als erwartet und erhofft. Anstatt den Israelis die Hand zum Frieden zu reichen, ließ Arafat mit seinen bewaffneten Kämpfern nach seiner Rückkehr aus dem Exil in Tunis auf israelischen Straßen das Blut fließen. „Palästinensische“ Selbstmordattentäter sprengten sich an israelischen Straßenkreuzungen und in Bussen in die Luft. Eine Terrorserie erschütterte das Land. Die Enttäuschung der Israelis mündete in wütende und teils gewalttätige Proteste gegen die Regierung Rabins, bis dieser am 4. November 1994, nach einer „Friedensdemonstration“, von Jigal Amir, einem rechtsradikalen Israeli, ermordet wurde. Das ganze Land trauerte um seinen Ministerpräsidenten. Rabin war zu einer Ikone geworden. Dennoch wurde die Abneigung der Menschen gegen die für den blutigen „Frieden“ mit den „Palästinensern“ verantwortlich zeichnende Arbeitspartei in der Folgezeit eher noch stärker.

Auf Rabin folgten im Amt als Regierungschef Schimon Peres und ab Juli 1999 Ehud Barak. Zwischendurch unterlag Peres im Wahlkampf dem rechten Likud-Parteiführer Benjamin Netanjahu. Entscheidend für die Niederlage war damals ein inakzeptabler Spruch von Peres, der nach einem Selbstmordanschlag in einem Jerusalemer Bus von den israelischen Toten als „Opfer für den Frieden“ gesprochen hatte. Typisch für die Stimmung im Volke war daraufhin das Schild eines rechten Demonstranten mit dem Satz: „Wir wollen Krieg. Das kostet weniger Menschenleben als dieser Frieden“.

 

Friedensnobelpreisträger Arafat bestellt Sprengjacken

Am 6. Juni 1999 schaffte es mit Ehud Barak noch einmal ein „Sozialist“ mit einem Friedensversprechen in das Amt des Ministerpräsidenten. Barak hatte zugesagt, die israelischen Truppen aus der „Sicherheitszone“ im Südlibanon herauszuholen. Im Mai 2000 war es soweit, Barak ließ die Truppen abziehen – sogar entgegen den Wünschen der EU. Denn es war klar, dass dann die Syrer den ganzen Libanon besetzen und der Bürgerkrieg in Beirut erneut ausbrechen würde.

Die blutige Quittung für den Rückzug erhielt Israel vor der eigenen Haustür ab September 2000, sowie 2006 mit einem weiteren Krieg im Libanon. Der Grund dafür war simpel: Jassir Arafat interpretierte den Rückzug der Israelis aus dem Libanon als Sieg der Hisbollah und Niederlage des jüdischen Staates. Er war der Ansicht, dass Israel die täglichen Toten unter den Besatzungstruppen im Südlibanon nicht ertragen hätte und sich deshalb dort zurückgezogen habe. Arafat glaubte daher, dass er mit dem gezielten Mord an Israelis genauso die Besatzung in den sogenannten „Palästinensischen Gebieten“, also in Gaza und im Westjordanland, beenden könnte. Er betraute seinen engen Berater Marwan Barghouti mit den Vorbereitungen für einen entsprechenden „Krieg“ gegen Israel. Ministerpräsident Barak behauptete später, nichts von entsprechenden Vorbereitungen der „Palästinenser“ bemerkt zu haben, weshalb nach weiteren gescheiterten Vermittlungsbemühungen der Amerikaner in „Camp David“ in den USA Ende September 2000 ganz „überraschend“ die von Arafat befohlene „El Aksa-Intifada“ ausbrach. Fast täglich sprengten sich „palästinensische“ Selbstmordattentäter in Bussen in Tel Aviv und Haifa sowie in Supermärkten, Kindergärten und Restaurants. Sie rissen hunderte Menschen in den Tod. Viele Israelis überlebten den Terror nur schwer verletzt. Das Blutvergießen wurde immer schlimmer. Und der Verursacher dieser Massaker war ausgerechnet der Friedensnobelpreisträger, den alle Welt gefeiert hatte: In den Kellern des 2002 eroberten Hauptquartiers Arafats entdeckten die Israelis Quittungen für die Herstellung von Sprengjacken für Selbstmordattentäter, die der PLO-Chef selbst unterzeichnet hatte.

Diese Massenmorde in Israel brachen Barak und seiner sozialistischen Arbeitspartei Ende 2000 das politische Genick. Ihre populistischen Friedensutopien hatten zu viele Menschenleben gekostet. In direkten Wahlen wurde der rabiate Rechtspolitiker Ariel Scharon ins Regierungsamt gewählt. Der Rest ist schnell erzählt. Nach einer Zwischenzeit mit der liberalen Kadima unter Ehud Olmert ist seit 2009 ununterbrochen Benjamin Netanjahu am Ruder. Die Arbeitspartei hat sich nicht mehr erholt, und erreichte aktuell den Einzug ins Parlament mit nur noch drei Abgeordneten von insgesamt 120 Parlamentariern. Und jetzt, nachdem sie sich dem Bündnis von Benny Gantz angeschlossen hat, verlor sie nach weiteren internen Machtkämpfen und der Wahl wenig beeindruckender Parteichefs sogar ihren Status als eigenständige Partei. Am Ende hat sich der klägliche Rest der israelischen Linken praktisch selber ins Abseits gedrängt, indem sie am Ende auch noch den Weg freigemacht hat für die Empfehlung an den Staatspräsidenten, erneut Benjamin Netanjahu zum nächsten Premierminister zu ernennen.

Bitter war für die Awoda auch, dass sich die Sozialistische Internationale (SI) offen auf die Seite der weltweit agierenden Boykottbefürworter gestellt hat, die den jüdischen Staat delegitimieren. Weil die SI sich der BDS-Kampagne angeschlossen hatte, verließ die israelische Arbeitspartei 2018 den Dachverband. Die Linke Israels war damit auch international isoliert. Aber auch die SI selbst hat nur noch geringen Einfluss, seitdem 2013 international über 100 linke Parteien in die durch die deutsche SPD gegründete „Progressive Allianz“ wechselten.

Ohne eine überzeugende Sicherheitspolitik sind in dem bedrohten jüdischen Staat keine Wahlen zu gewinnen. Aus Sicht vieler Israelis hat deshalb die ehrwürdige Arbeitspartei jegliche moralische oder ethische Berechtigung verloren, erneut eine entscheidende Rolle in Israel zu spielen. Der Gerichtsprozess gegen den amtierenden Premierminister des Likud und die Anklage gegen Netanjahu wegen Korruption und Bestechlichkeit ist auch ein Versuch der israelischen Linken, nach langen Jahren beschämender Niederlagen wenigstens einen moralischen Sieg zu erringen. Dagegen steht die Furcht vieler Israelis, dass einmal mehr der Sieg einer glücklosen Linken das Land einen hohen Preis kosten könnte.

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