Die zögerliche Entnazifizierung Deutschlands von den 50er Jahren bis heute
Eine Chronik der meist verschleppten und weitestgehend unzureichenden Bewältigung der Nazi-Vergangenheit in der Bundesrepublik.
Besucher im Berliner Museum "Topographie des Terrors"© John MACDOUGALL , AFP
12 Jahre dauerte in Deutschland das sogenannte Tausendjährige Reich. Zwölf Jahre, in denen mit Terror und neu installierten Netzwerken Machtstrukturen aufgebaut und Menschen in sogenannten Konzentrationslagern gefoltert und ermordet wurden. Menschen, die oftmals willkürlich aus religiösen, politischen oder anderen Gründen nicht in die neu erfundene „Volksgemeinschaft“ passten. Zwölf Jahre, die ausreichten, um Menschen, die zuvor in unbefriedigenden Verhältnissen gelebt hatten, mit den entsprechenden sozialen Programmen zu Wohlstand und Macht zu verhelfen. Dazu gehörten Programme wie „KdF“, das Ferien mit dem wohlklingenden Namen „Kraft durch Freude“ versprach, Jugendorganisationen wie die Hitlerjugend oder der „Bund Deutscher Mädel“, das Müttergenesungswerk und andere Annehmlichkeiten – darunter auch die „Arisierung“, die Aneignung jüdischen Eigentums.
Jene, die sich auf die Seite der Nationalsozialisten stellten, konnten mit Vorteilen rechnen. Dieses Vorgehen hatte den Vorteil, den Zusammenhalt der Gemeinschaft zu fördern, indem eine ganze Gruppe, in erster Linie Juden, die es teilweise durch die in Preußen gewährten Freiheiten zu erheblichem Wohlstand und Vermögen in Deutschland gebracht hatten, ausgegrenzt und zum Feind stilisiert wurde. Die Massenvernichtung dieser Menschen war eines der Programme, das mit großer Konsequenz verfolgt wurde und nur auf wenig Widerstand, aber – sicher auch auf einer antisemitischen Tradition aufbauend – durchaus auf breite Zustimmung stieß.
Es ist wichtig, diese Struktur zu verstehen, um sich bewusst machen zu können, was nach dem verlorenen Krieg am 8. Mai 1945 in Deutschland geschah. Deutschland war militärisch besiegt worden. Ein kleiner Teil der Elite war tot: Hitler und Goebbels hatten sich bereits Ende April in Berlin umgebracht. Anderen Verantwortlichen wurde vom 20. November 1945 an in Nürnberg der Prozess gemacht. Die Urteile gegen die Hauptkriegsverbrecher erfolgten am 30. September und 1. Oktober 1946; Reichsmarschall Göring entzog sich dem Todesurteil durch Selbstmord.
Heinrich Himmler, zuletzt Reichsinnenminister und Befehlshaber des Ersatzheeres, beging am 23. Mai 1945 Selbstmord. Zuvor hatte er sich zwar einen neuen Ausweis mit falschem Namen beschaffen können, war aber bei einer Kontrolle der britischen Militärpolizei aufgefallen. Alleine die Tatsache, dass es auch einem zuvor in Regierungsverantwortung stehenden Minister nach Kriegsende gelingen konnte, sich falsche Papiere zu beschaffen, zeigt, dass es funktionierende Netzwerke gab – so verschwanden ja auch Adolf Eichmann und Josef Mengele zusammen mit vielen anderen weniger bekannten bekennenden Nationalsozialisten aus Deutschland.
DRK, Vatikan und Filbinger
Die teilweise unrühmliche Rolle des Deutschen Roten Kreuzes nach 1945 als Fluchthelfer für Nazis ist hinlänglich bekannt und sollte – trotz aller guten Taten – nicht vergessen werden: Da es als Hilfsorganisation fest in die Strukturen des NS-Staats eingebunden war, verhalf es wahrscheinlich Tausenden von Nazis zur Flucht. Auch die Rolle des Vatikans ist in diesem Zusammenhang unrühmlich – eine Tatsache, die den Deutschen durch den kürzlich verstorbenen Dramatiker Rolf Hochhuth in seinem Theaterstück „Der Stellvertreter“ ins Bewusstsein gerufen wurde. Auch in einem weiteren Fall stellte Hochhuth Öffentlichkeit her, indem er den Ministerpräsidenten Baden-Württembergs Hans Filbinger als „furchtbaren Juristen“ bezeichnete. Filbinger prozessierte, zuerst 1972 gegen den „Spiegel“ und 1978 gegen Rolf Hochhuth, weil der ihn „Hitlers Marinerichter“ genannt hatte. Im Laufe dieses Prozesses stellte Hochhuth fest, dass in Deutschland kein Richter der NS-Zeit für Unrechtsurteile bestraft worden war. Bekannt wurde Filbingers Rechtfertigung „Was damals Rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein!“ – am Ende trat Filbinger allerdings zurück und gab auch sein Amt als stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU auf.
Durch das Verschwinden der Haupttäter war in den 50er Jahren eine Ausgangslage geschaffen worden, die für die überlebenden Mitläufer oder „gewendeten“ Anhänger des „tausendjährigen Reiches“ eine bequeme Ausrede schuf: Alles Übel und Böse, das die Zeit der Herrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland angerichtet hatte, wurde bei den Toten und in erster Linie natürlich bei Hitler gesucht. Das Leben sollte weitergehen. In gewisser Hinsicht war das auch notwendig – Deutschland war nicht von der Landkarte verschwunden, und die Menschen erst recht nicht. Die Dreistigkeit und das Selbstbewusstsein, das einen Politiker wie Filbinger dazu trieb, jahrelang sein Verhalten im NS-Staat zu verteidigen, zeugen allerdings davon, dass eine Aufarbeitung der Vergangenheit in vielen Kreisen nicht wirklich erfolgt war. So ist es erfreulich, dass es andere und starke Stimmen gab, die immer wieder demokratische Diskussionsprozesse anregten.
Einig waren sich sowohl die Siegermächte als auch diejenigen, die unter den Nationalsozialisten gelitten hatten, darüber, dass verhindert werden musste, Deutschland wieder zu einer Nation werden zu lassen, die einen Weltkrieg vom Zaun brechen konnte. Die Diskussion über die Art und Weise, wie dies geschehen sollte, wurde aber unter eher widrigen Umständen geführt: Nur die Amerikaner hatten nach dem Krieg Kapazitäten, sich bis ins Detail Gedanken darüber zu machen. So wurde vieles dem Zufall, der Bequemlichkeit, oder auch den Bemühungen der einstigen Strippenzieher überlassen, die gerne weitergemacht hätten wie bisher. Und denen dies – wie sich manchmal erst viele Jahre später herausstellte – auch an vielen Stellen gelang. Auch in der DDR hatten NS-Funktionsträger Unterschlupf gefunden und konnten wieder Karriere machen. Voraussetzung war nur, sich an das neue System anzupassen. Henry Leide hat das in seinem 2005 erschienen Buch „NS-Verbrecher und Staatssicherheit“ sehr detailliert und mit Beispielen belegt dargestellt – zum Unmut der Betroffenen. Nur ein Bruchteil der Verbrechen wurde in der DDR gesühnt, die NS-Vergangenheit war Herrschaftswissen, das im Kalten Krieg gegen die Bundesrepublik Deutschland verwendet wurde, um politische Propaganda zu machen.
Unterschiedliche Entnazifizierung in den Besatzungszonen und zwei Bestseller
Je nachdem, in welcher Besatzungszone sich die deutschen Bürger wiederfanden, wurden sie also unterschiedlichen Entnazifizierungssystemen ausgesetzt. Am drastischsten gingen die Amerikaner und die Briten vor: Sie konfrontierten die Bevölkerung mit den von ihnen verübten Gräueltaten. Über den Erfolg dieser Methode wird nach wie vor gestritten. Es scheint nicht unplausibel, dass diese Methode dazu beigetragen hat, den Mythos „Wir haben von all dem nichts gewusst“ in die Welt zu setzen. Es ist davon auszugehen, dass die meisten sehr wohl wussten, was geschehen war – dem System selbst war die Ausübung von Terror ja immanent, und Abschreckung gehörte dazu. In Berlin kam es sogar vor, dass Auschwitzüberlebende ihren einstigen Peinigern gegenüberstanden, die nun Gutachten über die entstandenen Gesundheitsschäden erstellen sollten.
Als Mittel zur Entnazifizierung waren im amerikanischen Sektor 13 Millionen Fragebögen verteilt worden, mit denen überprüft werden sollte, wer das Naziregime aktiv unterstützt hatte. Ein bürokratisches und zweifelhaftes Unterfangen, das Ernst von Salomon in seinem im März 1951 erschienenen Roman „Der Fragebogen“ aufgriff, indem er die 131 Fragen ausführlich beantwortete. Salomon selbst distanzierte sich von Antisemitismus und Rassismus und schilderte die Zeit zwischen 1933 und 1945 als eine Art innere Emigration. Er traf mit seinem Roman den Nerv der Zeit, das Buch war ein viel gelesener Bestseller. Auch das Tagebuch der Anne Frank fand einen guten Absatz – zwischen 1950 und 1958 wurden 700.000 Exemplare verkauft. So bildete sich ein neues Bewusstsein mit verschobener Erinnerung.
Zahl der Prozesse nahm rapide ab
Eine Phase einer komplexeren Auseinandersetzung begann in den 60er Jahren. Bereits 1950 hatten die Alliierten die Beschränkungen der westdeutschen Justiz in Bezug auf die Verfolgung von NS-Verbrechen aufgehoben. Damit kam die strafrechtliche Verfolgung dieser Delikte quasi zum Erliegen. Bis 1950 hatte es etwa 5.000 Urteile gegeben, davon 1.523 im Jahr 1949. 1955 lag die Zahl bei 21. Dabei gingen Schätzungen davon aus, dass etwa 100.000 Personen aktiv an den Massenmorden beteiligt gewesen waren – eine Anzahl, der mit rechtsstaatlichen Grundsätzen, also dem Nachweis der individuellen Schuld jedes Einzelnen, nicht beizukommen war. Aber auch politisch passte die Verfolgung nicht ins Klima. Die Wende kam erst 1958 anlässlich des Prozesses gegen Mitglieder eines früheren Einsatzkommandos in Litauen, das mindestens 4.000 Juden ermordet hatte. Als Folge der Aufmerksamkeit, die dieser Prozess im In- und Ausland erhielt, wurde die „Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ in Ludwigsburg geschaffen, deren Aufgabe die systematische Untersuchung von NS-Verbrechen, die außerhalb des Territoriums der Bundesrepublik Deutschland begangen worden waren, war. Seit 1964/65 wurde das Aufgabengebiet auf Übernahme aller NS-Verbrechen erweitert. Die Errichtung der Zentralstelle führte zu einer dritten Phase der Verfolgung, in der die Zahl der Verurteilten schnell wieder wuchs: Zwischen 1961 und 1965 waren es doppelt so viel wie zwischen 1951 und 1960.
Einen Beitrag hierzu leistete der erste Auschwitz-Prozess, der am 20. Dezember 1963 begann und mit der Urteilsverkündung am 19. August 1965 endete. Verhängt wurden sechs lebenslange Freiheitsstrafen, zehn Freiheitsstrafen zwischen dreieinhalb und vierzehn Jahren sowie eine zehnjährige Jugendstrafe. Drei Angeklagte wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Ohne die tatkräftige Initiative des 1949 nach Deutschland zurückgekehrten Juristen Fritz Bauer, der sich konsequent dem Aufbau einer demokratischen Justiz und der strafrechtlichen Verfolgung nationalsozialistischen Unrechts sowie der Reform des Straf- und Strafvollzugsrechts widmete, wäre dies nicht möglich gewesen. Die Auschwitzprozesse gingen auch nach seinem Tod weiter, die Prozesse in Frankfurt dauerten insgesamt von 1963-1981. Bereits am 1. Juni 1962 war der für die Judendeportationen zuständige ehemalige Referatsleiter beim Reichssicherheitshauptamt Adolf Eichmann nach einem öffentlichen Prozess in Israel hingerichtet worden. Zu seiner Aufspürung hatte Bauer ebenfalls beigetragen, die Festnahme in Argentinien und Entführung nach Israel erregten internationales Aufsehen.
80er Jahre
Eine weitere Phase der Aufarbeitung begann in den 80er Jahren. Exemplarisch dafür stehen das Haus der Wannseekonferenz, das 1988 wieder zur Nutzung als Gedenkstätte rekonstruiert und 1992 eröffnet wurde. Der bereits 1966 von dem Historiker und Auschwitz-Überlebenden Joseph Wulff gegründete „Verein zur Erforschung des Nationalsozialismus“ hatte dieses Ziel lange Jahre verfolgt. 1987 initiierte eine Gruppe von Historikern das Ausstellungsprojekt „Topographie des Terrors“, die am 28. Januar 1992 vom Berliner Senat als eigenständige Stiftung gegründet wurde. Auch hier steht endlich die Beschäftigung mit den Tätern im Vordergrund. Ingo Müller veröffentlichte 1987 sein Buch „Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz“. 1998 begann eine Gruppe mit dem Titel „To Reflect and Trust“ auf Initiative des israelischen Psychologen Dan Bar-On Treffen zwischen Kindern von Tätern und Opfern zu organisieren, allerdings mit nur partikularen Erfolgen. Im Juli 2005 rief das Auswärtige Amt eine Historikerkommission zur Aufarbeitung der Rolle des eigenen Ministeriums ins Leben. Erst am 11. Januar 2012 setzte das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz eine Kommission ein, die sich mit der Aufarbeitung der eigenen NS-Vergangenheit befasst.
Allerdings wird auch das Opfernarrativ immer wieder gerne bemüht. So dient noch heute Anne Frank als exemplarisches und mahnendes Beispiel für das nationalsozialistische Unrechtsregime. Am 12. Juni 1998 wurde in Berlin ein gemeinnütziger Verein gegründet, der in Deutschland als Partnerorganisation des am 3. Mai 1960 gegründeten Anne-Frank-Hauses in Amsterdam tätig ist. Über die Geschichte der Täter decken diese Initiativen einen Mantel des Schweigens, stattdessen sind die Ziele des Zentrums „erinnern und engagieren“ auf Anne Frank fixiert und stellen damit das Opfer in den Mittelpunkt. Das Engagement gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus ist sicher lobenswert. Den Ursachen geht es aber nicht auf den Grund.
Günter Grass und Israel
Allen Versuchen der Aufarbeitung zum Trotz blieben alte Vorurteile und antisemitische Stereotype unter der Oberfläche oft bestehen, auch wenn man sich den Anschein der Läuterung gibt. Wir erinnern uns an Günter Grass, der, nationalsozialistisch sozialisiert, das zweifelhafte Gedicht „Was gesagt werden muss“ verfasste, das am 4. April 2012 unter anderem in der „Süddeutschen Zeitung“ erschien und diesen Geist sehr deutlich widerspiegelt: So ist die Projizierung auf Israel als größten Bedroher des Weltfriedens ein gängiges Muster der Schuldumkehr in Deutschland, das als purer Antisemitismus gewertet werden muss. Unter die Oberfläche gekehrt brechen sich alte Muster immer wieder Bahn.
Auch die ambivalente Politik unseres gegenwärtigen Außenministers („Ich bin wegen Auschwitz in die Politik gegangen“) gegenüber I Israel steht in guter Tradition eines irritierenden und gefährlichen Schwarzweißdenkens, das diesem Muster entspringt.
Die alte Generation der NS-Verbrecher gibt es inzwischen nicht mehr. Es hat viele Versuche gegeben, die Geschichte Deutschlands aufzuarbeiten und zu einem besseren zu wenden. Es hat viele Einsichtige gegeben, die sich mit den Verbrechen auseinander gesetzt haben – aber es mussten viele Jahre ins Land gehen, bis die Beschaffung eines „Persilschein“, wie die Bestätigung der Entnazifizierung durch die Alliierten genannt wurde, nicht mehr notwendig war und eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit beginnen konnte. Und es gibt sogar immer noch Nachfahren von Tätern, die davon überzeugt sind, dass ihre Väter nichts Unrechtes getan haben. Dazu gehört Cordula Schacht, Tochter des ehemaligen Reichswirtschaftsministers Hjalmar Schacht, der seine Karriere als Berater und Privatbankier in den 50er Jahren fortsetzen konnte. Seinen Reichtum gründete er auch auf günstig erstandenen jüdischen Besitz. Cordula Schacht selbst betrachtet sich als Nachlassverwalterin Joseph Goebbels. Ein bei ihr im Rahmen der Provenienzforschung aufgespürtes Gemälde aus dem ehemaligen Besitz der Familie Mosse betrachtet sie als im Rahmen einer „Auktion“ rechtmäßig erworbenes Familienerbstück. Es erstaunt, aber es gibt sie immer noch, die Unverbesserlichen in Deutschland. Die einen stehen zur Vergangenheit, die anderen projizieren ihre Schuld unter dem Motto „Nie wieder Auschwitz“ auf ein Land im Nahen Osten, dessen Existenz sie für gefährlich halten.
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