Die fünf Gerechten

Nur fünf US-Amerikaner sind in der Gedenkstätte Yad VaShem als „Gerechte unter den Völkern“ verewigt. Wer waren diese Menschen?

Die Eheleute Sharp in der Tschechoslowakei© Brown University Library, Martha and Waitstill Sharp Collection, Providence, RI.

Von David Shimanovskij

Von den 26.153 „Gerechten unter den Völkern“ sind nur fünf Staatsangehörige der USA mit diesem Titel geehrt worden. Wenn man die damalige Situation und die Position von Franklin Roosevelt kurz vor und während des Zweiten Weltkrieges betrachtet, kann man verstehen, weshalb so wenige Amerikaner Juden vor Nazis retteten. Der Antisemitismus gedieh, unter anderem unter den Staatsbeamten. Er wurde durch die Angst vor dem Krieg, die zunehmende Arbeitslosigkeit, durch die Flut von jüdischen Flüchtlingen aus Europa und das Fehlen von Informationen über die judenfeindlichen Handlungen der Nazis noch gefördert. Sogar ein Teil der amerikanischen Juden befürwortete die Neutralitätspolitik gegenüber Nazideutschland und die Einwanderungsgesetze, die die Einreise von jüdischen Flüchtlingen aus Europa begrenzten. Nichtsdestotrotz fanden 132.000 Juden Zuflucht in den Vereinigten Staaten und die Anzahl der Amerikaner, die zu ihrer Rettung beigetragen haben, hat sich höher als die vom „Institut für Holocaust-Forschung“ in Jerusalem genannte herausgestellt.

Früher als alle anderen Amerikaner sind die Eheleute Sharp den Opfern des Naziterrors zu Hilfe geeilt. Sie gehörten der unitarischen Kirche an, die die Trinitätslehre und die Lehre vom Jüngsten Gericht ablehnt, Jesus als jüdischen Propheten und das Recht der Juden auf Sündenerlass anerkennt. Waitstill Hastings Sharp, der Sohn eines Schriftstellers und Gelehrten, studierte an den Universitäten in Boston und Harvard, promovierte in Rechtswissenschaften, leitete die religiöse Bildung in der „Amerikanischen Unitarischen Union“ (American Unitarian Association - AUA) und war Pastor. Er heiratete die Sozialarbeiterin Martha Ingham Dickie, Tochter von Baptisten, die zu seiner treuen Gefährtin bei der antifaschistischen Propaganda und der Rettung von Vertriebenen während des Kriegs wurde.

 

Arbeit in der Tschechoslowakei und in Portugal

1939 sendete AUA die Familie Sharp in die Tschechoslowakei zur Umsetzung des Programms für humanitäre Hilfe für Juden, die vor den nazistischen Verfolgungen aus Deutschland und Österreich geflohen sind. Dort registrierten sie Flüchtlinge, besorgten ihnen Stipendien und Arbeit im Ausland, begleiteten sie nach London, Paris und Genf. Unter der deutschen Okkupation unterstützen die Sharps die Ausreise von Dutzenden jüdischen Kindern nach Großbritannien und setzten ihre Tätigkeit auch illegal fort, nachdem die Gestapo ihr Büro geschlossen hatte. Sie fuhren einen Tag bevor ein Haftbefehl gegen sie ausgestellt wurde, aus Prag fort. Im Frühjahr 1940 bot AUA den Sharps an, eine ähnliche Filiale in Paris zu öffnen. Nachdem jedoch Frankreich durch die Wehrmacht eingenommen wurde, musste das Büro nach Lissabon verlegt werden. Dort wurde dann das Komitee des unitarischen Dienstes etabliert. In Zusammenarbeit mit verschiedenen demokratischen Organisationen und Personen in Marseille gelang es der Familie Sharp viele Intellektuelle und politische Immigranten aus Nazideutschland, Vichy-Frankreich und Franco-Spanien über das neutrale Portugal in die USA, Lateinamerika und Nordafrika zu überführen. So verhalfen sie zusammen mit der „Union der christlichen Jugend“ und der Gruppe von Varian Fry (mehr dazu später) unter anderem Lion Feuchtwanger mit seiner Ehefrau, dem österreichischen Schriftsteller Franz Werfel und dem Nobelpreisträger für Chemie, Otto Meyerhof, zur Flucht.

 

Kinder nach Palästina

Allen bürokratischen Hürden zu trotz ist es Martha gelungen 27 jüdische Kinder und 10 Erwachsene in die USA zu schicken. 1943 gründete sie zusammen mit ihren Freunden das Projekt „Kinder nach Palästina“. Mit Unterstützung der jüdischen Frauenorganisation Hadassa (nach dem ersten Namen der biblischen Esther) sammelte sie Geld für die verwaisten jüdischen Jugendlichen Europas für deren Neuanfang in Israel. Ein Jahr später kehrte sie nach Lissabon zurück und übernahm die Stelle des Direktors der europäischen Filiale von AUA unter dem verschärften Regime von Salazar. Martha Sharp besuchte Palästina auch nach dem Krieg und unterstützte die Jugend-Aliya ins Land der Väter. Sie kämpfte für die Einwanderung der Juden aus Marokko und Irak nach Erez Israel und kooperierte weiterhin mit Hadassa. 1954 ließen sich die Sharps scheiden und haben beide jeweils neue Familien gegründet. Martha heiratete den Erfinder David Cogan. 2006 wurden beide Sharps post mortem als „Gerechte unter den Völkern“ anerkannt. Über ihre hingebungsvolle Tätigkeit ist mit Hilfe deren Enkelkinder ein Dokumentarfilm „Der Kampf gegen die Nazis“ gedreht, und das Buch „Rettung und Flug“ geschrieben worden.

 

Die Liste von Varian Fry

Der erste amerikanische „Gerechte unter den Völkern“ wurde 1955 der Journalist Varian Fry, der eine Gruppe zur Judenrettung in Marseille anführte. Unter den jüdischen Intellektuellen, die vor der Gestapo in den Süden Frankreichs geflohen sind und bei denen es Fry gelungen ist, sie mit gefälschten amerikanischen Visa in sichere Orte zu überführen, sind so bekannte Persönlichkeiten wie die Maler Victor Brauner und Jean Arp, die Schriftsteller Hans Habe, Arthur Koestler und Valeriu Marcu, die Pianistin Wanda Landowska, der Mathematiker Jacques Hadamard, der Soziologe Siegfried Kracauer, der Philosoph Claude Lévi-Strauss, der Historiker Golo Mann, der Jurist Boris Mirkine-Guetzevitch, der Literaturwissenschaftler Alfred Polgar, die Politikerin Rosi Wolfstein, der Verleger Ferdinand Springer und andere gewesen.

Bei seinen sehr riskanten Operationen halfen Fry auch andere Amerikaner, über die man ausführlicher berichten sollte. Einer seiner Hauptgefährten war Miriam Davenport Ebel, Malerin und Bildhauerin, die auf der Sorbonne studierte. Im Mai 1940 floh sie aus Paris nach Toulouse, wo sie den Dichter Walter Mehring und drei andere Juden kennenlernte, die verzweifelt nach einer Ausreisemöglichkeit in die USA suchten. Nachdem Miriam Davenport Varian Fry in Marseille getroffen hatte, mietete sie auf sein Anraten hin eine große Villa, wo sie Verfolgte mit ihren Familien versteckt hielt (u.a. Victor Serge, Sohn des russischen Revolutionärs Kibalchich, den Surrealisten André Breton und andere). Später zog Miriam zu ihrem schwerkranken Verlobten nach Ljubljana. Danach konnte sie nicht mehr nach Frankreich zurückkehren und musste zurück in die USA fliegen. Aber auch dort schaltete sie sich aktiv in die Arbeit des Internationalen Rettungskomitees, der den vor dem Holocaust Geflüchteten half. Sie promovierte in Philosophie und unterrichtete an einer Universität.

 

Reiche Tochter bezahlt

Ihre Freundin Mary Jayne Gold, eine reiche schöne Erbin aus einer Protestantenfamilie, verbrachte ihr Leben vor dem Krieg mit Reisen durch Europa am Steuer des eigenen Flugzeugs. Nach der Besatzung von Paris durch die Deutschen hat sich Gold entschieden, in die USA zurückzukehren und mietete eine Kajüte auf einem Schiff. Bei der Zugfahrt entsetzte sie die Szene wie die Nazis ein weinendes jüdisches Mädchen aus dem Wagon hinausschleppten. Dann sah sie in Marseille bei der amerikanischen Botschaft Massen von Flüchtlingen, die versuchten Ausreisevisen zu erhalten. Und so begann Mary Jayne die Mission von Varian Fry zur Rettung von Kulturschaffenden aus der „Liste der 200“, aber auch von illegalen Auswanderern, zu finanzieren.

Sie versteckte viele Menschen bei sich, besorgte ihnen Pässe, indem sie Beamte bestach, schuf Verbindungen zu Schmugglern. Dabei half ihr ein ehemalige Legionär, der Gangster Raymond Couraud, der ihr Liebhaber wurde. In 13 Monaten ist es der Gruppe von Varian Fry gelungen tausende Juden und Nichtjuden vor Todesgefahr zu schützen. Im Nachhinein nannte Fry selbst die Liste derer, die gerettet worden sind, „die Gold-Liste“, denn die einmalige Operation ist zum großen Teil nur dank ihrer finanziellen Unterstützung gelungen. Ihr Freund, der Regisseur Pierre Sauvage, sagte: „Für Miss Gold spielte nur ein Jahr ihres Lebens eine Rolle – das in Marseille… Eine sehr scharfsinnige Frau. An einem Wendepunkt der Geschichte verstand sie, wohin ihr Herz sie rief.“

 

Marc Chagall und Hannah Arendt

Bei der Umsetzung des humanitären Programms von Varian Fry beteiligte sich energisch auch der junge Wissenschaftler mit jüdischen Wurzeln, Albert Otto Hirschmann, der Bruder einer Untergrund-Antifaschistin. Vor dem Krieg studierte er Wirtschaft an europäischen Universitäten und promovierte anschließend. Er beteiligte sich am spanischen Bürgerkrieg auf der Seite der Republikaner, kämpfte in der französischen Armee gegen die Wehrmacht und rettete dann zusammen mit Fry jüdische Flüchtlinge. 1941 immigrierte er in die USA, war Professor an einer Reihe von Universitäten, Finanzberater in verschiedenen Einrichtungen und Firmen.

Varian Fry© AFPr

Schließlich spielte der Vize-Konsul der USA in Marseille, Hiram Bingham, die entscheidende Rolle beim Ausstellen der Visa für jüdische Flüchtlinge. Er umging das Verbot des Außenministeriums, suchte Juden in Lagern, versteckte sie in ihrem Haus, stellte ihnen alle notwendigen Papiere kostenlos aus. Bingham persönlich unterstützte die Ausreise von Marc Chagall, Hannah Arendt und anderen namhaften Persönlichkeiten. Ohne seine Beteiligung wäre es Fry wohl nicht gelungen mehr als 2.500 europäische Juden vor dem sicheren Tod zu retten. 1941 versetzte die US-Regierung den nichtloyalen Diplomaten nach Portugal und dann nach Argentinien, wo er später geholfen hat nazistische Kriegsverbrecher ausfindig zu machen. Nach seinem Tod übergaben seine Witwe und sein Sohn seine Marseiller Unterlagen an das Holocaust-Museum der USA. Nach seinem Tod wurde er vielfach ausgezeichnet, unter andere mit der „Helden-Medaille“ des Simon-Wiesenthal-Centers.

Lois Gunden wurde 2013 die vierte US-Staatsbürgerin, die mit dem Titel „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet wurden. Acht Jahre nach ihrem Tod erhielt ihre Nichte die Medaille und die Ehrenurkunde in Jerusalem. 1941 machte sich die Französischlehrerin aus Indiana auf, um beim Mennonitischen Zentralkomitee (Mennoniten: evangelische pazifistische Christen, die die Bibel als Quelle des Glaubens und die Autonomie der Persönlichkeit als Grundlage betrachten) im Süden Frankreichs zu dienen. An der Küste eröffnete Lois ein Waisenhaus, das zum sicheren Hafen für Kinder von spanischen und jüdischen Flüchtlingen wurde, die sie im Geheimen aus dem benachbarten Lager hinausschmuggelte, nachdem sie deren Eltern davon überzeugt hatte, dass sie sich um die Kinder kümmern und sie vor den Nazis beschützen wird. Im Januar 1943 verhaftete die Gestapo Lois Gunden als „Vertreter eines Feindstaates“ und ließ sie 1944 im Rahmen eines Gefangenenaustausches frei. Nach der Befreiung von Frankreich durch die Alliierten kehrte sie nach Hause zurück, wo sie am College und der Universität unterrichtete, einen Witwer heiratete und seine Tochter adoptierte.

 

„Wir alle sind Juden“

Der letzte Amerikaner in der Liste der „Gerechten unter den Völkern“ ist Roddie W. Edmonds, der 2015 mit diesem Titel geehrt wurde. Der Sohn eines Protestanten aus Tennessee, der früh seine Mutter verlor, beendete nur vier Schulklassen und ging dann schon arbeiten. Im März 1941 wurde er in die Armee eingezogen und diente sich zum Master Sergeant hoch. 1944 beteiligte er sich bei der Landung der amerikanischen Streitkräfte in der Normandie und geriet bei den verbitterten Kämpfen in den Ardennen gemeinsam mit der zukünftigen Berühmtheit, dem deutschstämmigen Schriftsteller Kurt Vonnegut, in deutsche Kriegsgefangenschaft. Die Deutschen verlegten sie in das Kriegsgefangenlager in Ziegenhain. Als ranghöchster Unteroffizier wurde Edmonds zum Verantwortlichen für die Disziplin unter den gefangenen Amerikanern erklärt, unter denen sich fast 200 Juden befanden.

Am 27. Januar 1945 befahl der Kommandant des Lagers allen Juden sich auf dem Platz aufzustellen. Roddie Edmonds verstand, welche Konsequenzen das haben wird. Er befahl allen Amerikanern sich ausnahmslos mitaufzustellen und zusammen mit den jüdischen Kameraden einen Schritt nach vorne zu tun. Als der deutsche Offizier dann fragte, was das zu bedeuten habe, antwortete Edmonds: „Wir sind alle Juden!“ Der wütende Deutsche verlangte die Herausgabe der Juden und zielte mit der Pistole auf Eddie. Dieser aber sagte nur: „Laut der Genfer Konvention muss der gefangene Soldat nur seinen Namen, Rang und persönliche Nummer nennen. Wenn sie mich jetzt erschießen, dann werden die verbliebenen Zeugen davon berichten und sie werden zum Kriegsverbrecher erklärt.“ Der Offizier wandte sich ab und ging. Als Ergebnis dieser Verweigerungsaktion haben alle jüdischen Soldaten gemeinsam mit den anderen Gefangenen überlebt, und wurden nach etwa 100 Tagen Gefangenschaft am 30. März 1945 befreit.

Nach dem Krieg kehrte Roddie in die USA zurück, heiratete und bekam zwei Söhne. Er arbeitete als Manager und kämpfte gegen den Antisemitismus im Land. Er starb 1985, einige Wochen vor seinem 66. Geburtstag. Von seiner Heldentat erfuhr die Welt zufällig aus den gefundenen persönlichen Tagebüchern und Erinnerungen seiner Kameraden, des Juden Paul Shern und Lester Tanner. Sein Sohn erwirkte die Auszeichnung seines Vaters mit der höchsten militärischen Auszeichnung der USA – der Ehrenmedaille.

Das Recht jedes Menschen auf Leben, Freiheit und persönliche Würde wurde für diese Menschen zum Imperativ des Gewissens, gleichlautend mit den höchsten Werten der jüdischen Ethik. Und mit ihren Taten haben sie die richtige Antwort auf die ewige Frage des Talmuds gegeben. „Wenn ich nur für mich bin, wer bin ich dann?“

 

Übersetzung aus dem Russischen von Katia Novominski

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