Allein unter Briten
Der „jüdische Eulenspiegel“ und Träger des Preises für ehrlichen Journalismus der JÜDISCHEN RUNDSCHAU, Tuvia Tenenbom, nimmt in seinem neuen Buch die Briten genau unter die Lupe.
Während ich diese Zeilen schreibe, wütet draußen das Coronavirus, das uns alle zwingt, zuhause zu bleiben und auch das öffentliche Leben, nicht nur in Deutschland, sondern in Europa und im ganzen Rest der Welt, komplett auf den Kopf gestellt hat. Wie gut täte da ein Tapetenwechsel und Urlaub in einem Land vor unserer Corona-Zeit, zum Beispiel in Großbritannien. Dort befasste man sich vor dem Ausbruch von Corona noch mit so „banalen“ Dingen wie dem Brexit-Referendum und seinen Folgen. Also mit eben jenem 2016 abgehaltenen Referendum, bei dem 52 % von meist „ungebildeten Nationalisten“, meist am fortgeschrittenen Alter und der weißen Hautfarbe zu erkennen, dafür stimmten, dass Großbritannien die Europäische Union verlässt. Diese Entscheidung machte die Deutschen fassungslos und sie konnten nicht aufhören, den Ausgang des Referendums so zu bestaunen wie Schaulustige auf einen Unfall starren.
Diese Reise kann man nun zumindest in Gedanken antreten mithilfe des neuen Buches des amerikanisch-israelischen Autoren Tuvia Tenenbom. Denn er hat es wieder getan. Nach den Deutschen, Israelis, Amerikanern und Flüchtlingen müssen nun die Briten dran glauben. Damit ist es sein fünftes Werk aus der „Alleine unter...“-Reihe. Für den Dramatiker und Gründer des Jewish Theater of New York, Tuvia Tenenbom, stand das Heimatland von William Shakespeare schon immer ganz oben auf der Liste.
Man sollte jedoch nicht denken, dass der Brexit das Hauptthema des Buches sei.
Tenenbom macht zu Anfang des Buches deutlich, dass ein Großteil der Briten gar keine große Lust empfand, sich über dieses Thema zu unterhalten. Nichtsdestotrotz wird der Brexit auf vielen Seiten eine wichtige Rolle einnehmen und als Gesprächseröffnung dienen.
Über ein halbes Jahr verbrachte Tenenbom auf der britischen Insel und reiste querbeet von einer schottischen verarmten Kleinstadt bis zur Hauptstadt London mit all seinen Reichtümern. Es werden alle Arten von Ortschaften und Menschen gezeigt, denn Tenenbom zeigt keine Scheu und spricht mit jedem, der ihm begegnet. Politiker, Uber-Fahrern, Rentner, Verbrecher, Lords, Migranten und allerlei Leuten, die ihm auf der Straße, in Pubs, Taxen, in gut bewachten, aber meist leeren Synagogen und unbewachten, dafür vollen Moscheen, oftmals zufällig vor die Füße liefen.
Besuch bei Corbyn
Wer Tenenboms andere Werke kennt, der wird sich schnell im vertrauten Schreibstil von Tenenbom wiederfinden. Er kommt mit einer befreiten, teils schelmischen Gangart um die Ecke und holt aus seinem Gegenüber die skurrilsten, teilweise unlogischen Statements heraus. Manchmal entlarvt er aber auch einfach Feiglinge, die aus Kalkül oder Dummheit nicht das Offensichtliche zugeben wollen. So kommt es, dass viele Statements des Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn mal mehr und mal weniger antisemitisch sind, aber all dies Corbyn angeblich noch lange nicht zum Antisemiten macht. Solche und ähnlich wirre Aussagen unterschiedlichster Menschen finden sich zuhauf im Buche wieder. Doch Tenenbom wäre nicht der Meisterspion Tenenbom, wenn er der Sache nicht selbst auf den Grund gehen würde. Wer kann sich nicht an sein Meisterstück aus „Allein unter Juden“ erinnern, als er es schaffte, gegenüber prominenten „Palästinensern“ wie Jibril Rajoub und Chanan Aschrawi als „Tobi der Deutsche“ durchzugehen? Deswegen versuchte er diesen Trick auch wieder, um einen Termin im Büro von Jeremy Corbyn zu erhalten. Leider beging er den Fauxpas und versendete die offizielle Anfrage über die E-Mail-Adresse des Jewish Theater. Damit waren die Träume des Goj Tobi geplatzt. Aber Tenenbom schafft es dennoch Corbyn zu sprechen. Wer aber wissen will, unter welchen lustigen Umständen es dazu kam und welchen Ausgang die Begegnung nimmt, der muss das Buch selber lesen.
Exakt diese Herangehensweise hat Tenenbom bekannt gemacht und seine Werke zu Verkaufsschlagern werden lassen. Er selbst bezeichnet bei einem Gespräch mit dieser Zeitung „Allein unter Briten“ als sein bisher gelungenstes Werk. Zumindest die israelische Bestsellerliste schien ihm eine Recht zu geben, denn er stand mit seinem neuen Buch für längere Zeit ganz oben auf eben dieser.
Doch auch anderen interessanten Persönlichkeiten begegnet Tenenbom in diesem Buch. Darunter Nigel Farage, der ihm Anekdoten über die Zeit in Brüssel und seine politischen Anfänge erzählt, Jürgen Klopp, dem wohl beliebtesten Deutschen auf der Insel und noch vielen anderen. Oder einem jüdischen Lord, der neben einer Zweitwohnung in Jerusalem, eine Tasche mit Pass und Geld in über 27 verschiedenen Währungen besitzt, um jederzeit das Land verlassen können.
Eben weil Tenenbom keiner festen Reiseroute, sondern seinem Bauchgefühl folgt, kommen Begegnungen zustande wie die mit einem Gangster alter Schule, der ihm sein Herz ausschüttet, als würden sie sich seit einer halben Ewigkeit kennen. Seine Gesprächspartner vertrauen ihm, weil er sie erzählen lässt, was ihnen gerade auf dem Herzen liegt und nicht, was er lieber hören möchte.
Natürlich wird man vom Antisemitismus auch nicht in Großbritannien verschont. Doch genauso wie Tenenbom sich eine Tarnung anlegt, so tut es auch der Antisemitismus in Form der „Israelkritik“. Tenenbom macht keinen Hehl aus seiner Verwunderung, welches Ausmaß des Antisemitismus er vorfindet. Von einer irischen Senatorin, die jeden bestrafen will, der Produkte aus den israelischen Siedlungen bezieht. Oder die Student Union, die mal eben einen Boykott israelischer Produkte beschlossen hat, dessen Mitglieder aber eigentlich keine Ahnung von Israel haben, außer dass Israel „palästinensische Kinder erschieße“. Die wenigen Juden, die er trifft, weigern sich ihm offen von ihren alltäglichen antisemitischen Erfahrungen und ihren Ängsten zu berichten.
Die neue englische Armut
Neben dem Brexit und der Vorliebe für „Palästinenser“ begegnet ihm auf seiner Reise auch die wachsende Armut. Ganze Städte und Landstriche sind Fabrikschließungen und dem Weggang von Industrien zum Opfer gefallen und regelrecht verarmt. Schuld daran sind zur Abwechslung mal nicht die Juden, sondern die polnischen Gastarbeiter. In London sieht man in einem Augenblick einen reichen Bänker und im nächsten einen Obdachlosen – dies alles nur wenige Meter voneinander entfernt.
Auf den ca. 500 Seiten ist nicht nur für Tenenbom-Fans etwas dabei, sondern auch „Anfängern“ wird das dargebotene Panorama der gegenwärtigen Situation Großbritanniens zusagen. Bestenfalls schafft es der Leser mithilfe des Buches hoffentlich ein paar Tage lang den Corona-Lockdown um sich herum zu vergessen.
Tuvia Tenenbom: Allein unter Briten – eine Entdeckungsreise.
Suhrkamp, Berlin 2020
502 Seiten
16,95 Euro
Sehr geehrte Leser!
Die alte Website unserer Zeitung mit allen alten Abos finden Sie hier:
alte Website der Zeitung.
Und hier können Sie:
unsere Zeitung abonnieren,
die aktuelle oder alte Ausgaben bestellen
sowie eine Probeausgabe bekommen
in der Druck- oder Onlineform
Werbung