Ämterrotation bei der Regierungsbildung in Israel: Wie einst Peres und Schamir
Nach langem Stillstand haben sich die beiden Kontrahenten Netanjahu und Gantz auf eine Kooperation verständigt. Der Koalitionsvertrag sieht eine Rotation an der Regierungsspitze vor – ein Modell, das es schon einmal gab.
Staatspräsident Rivlin bringt die beiden Kontrahenten Netanjahu und Gantz zusammen.© YONATAN SINDEL, AFP
„Besorgt um Israel“: Mit diesem Spruch hatte Benny Gantz immer begründet, warum er sich mit aller Macht gegen den amtierenden Premierminister Benjamin Netanjahu stemmte. Der kümmere sich nur um seinen anstehenden Korruptionsprozess, und einem angeklagten Politiker werde man sicher nicht in das Amt des Regierungschefs verhelfen – das waren die zentralen Aussagen aller Wahlkampagnen des blau-weißen Parteienbündnisses.
In Sorge um Israel zeigt sich Gantz nach wie vor. Doch die Konsequenzen, die er daraus ableitet, haben sich um 180 Grad gewendet: Am 20. April hat der einstige Generalstabschef eine Koalitionsvereinbarung mit Netanjahu unterzeichnet. Nach über einem Jahr politischen Stillstandsund drei millionenschweren Wahlkämpfen innerhalb eines Jahres wird das Land nun aller Voraussicht nach seine 34. Regierung bekommen – vorausgesetzt die Knesset stimmt zu und das Oberste Gericht sieht von einer Intervention ab. Ab Anfang Mai wollen sich die Richter mit der Frage auseinandersetzen, ob ein angeklagter Politiker wie Netanjahu rechtlich gesehen überhauptPremierminister werden kann. Sollte das Urteil zuungunsten des Likud-Chefs ausfallen, gäbe es Neuwahlen – so sieht es die nun getroffene Abmachung vor.
„Nationale Notstandsregierung“
Gantz begründet seine Kehrtwende mit den Auswirkungen der Corona-Krise, die dem kleinen Land nicht nur Tausende Infizierte, sondern auch eine Arbeitslosenquote von über 25 Prozent beschert hat. Eine weitere Wahl wäre „eine nationale Verantwortungslosigkeit“ gewesen, meint er. Doch zu seiner Entscheidung dürfte auch machtpolitischer Realismus beigetragen haben. Gantz war es zu keinem Zeitpunkt gelungen, in Reichweite einer eigenen Regierungsmehrheit zu kommen. Den letzten Urnengang im März gewann Netanjahu – allen medialen Unkenrufen zum Trotz – auch deshalb furios, weil viele Gantz-Wähler die Hoffnung auf einen Wechsel aufgegeben hatten und sich daher nicht mehr mobilisieren ließen. Eine weitere Wahl hätte daran wohl nichts geändert. Im Gegenteil: In Folge der Corona-Krise wies eine Umfrage Mitte April sogar jene Mehrheit für den rechten Parteienblock aus, die Netanjahu bisher stets verfehlt hatte.
Auch das nun unterschriebene „Koalitionsabkommen zur Errichtung einer nationalen Notstands- und Einheitsregierung“ ist zum Teil von der derzeitigen „historischen Krise“ geprägt. Es sieht vor, dass sich die Regierung in den ersten sechs Monaten fast ausschließlich der Bewältigung der Corona-Pandemie widmet. Inhaltliche Festlegungen, die darüber hinausgehen, sind nur mit der Lupe zu finden. Ein Verhandlungsteam soll Leitlinien für die Regierungsarbeit nach Corona ausarbeiten. Die Koalitionsverhandlungen werden also in den kommenden Monaten quasi fortgeführt.
Ausnahme ist ein Abschnitt, der Netanjahu die Möglichkeit einräumt, ab Juli in Abstimmung mit der US-Regierung und unter „Wahrung der regionalen Stabilität und der Friedensverträge“ israelische Ortschaften in Judäa und Samaria zu annektieren. Gantz hatte sich in der Vergangenheit gegen unilaterale Schritte in der Angelegenheit ausgesprochen. Die nun vorliegende Formulierung zielt vor allem auf die Beziehungen zu Jordanien, die durch Annexionen beeinträchtigt werden könnten. Einem israelischen Medienbericht zufolge hatte es vonseiten der EU noch während der Koalitionsverhandlungen Druck auf Gantz gegeben, das Annexions-Vorhaben zu blockieren. US-Außenminister Mike Pompeo ließ hingegen schon bald nach der Vereinbarung durchblicken, dass es aus Washington grünes Licht gibt.
14 Seiten Misstrauen
Bemerkenswert ist, dass es der Koalitionsvertrag trotz seiner inhaltlichen Dürre auf insgesamt 14
Seiten bringt. Bei deren Lektüre will nur schwerlich ein Gefühl von Einigkeit aufkommen. Aus den
rund 40 Paragraphen spricht vielmehr ein tiefes Misstrauen. Die Vertragsparteien haben detaillierte Regelungen ausgearbeitet, die verhindern sollen, dass eine der beiden Seiten die jeweils andere hintergeht.
Im Zentrum dieser Mechanismen steht die Entscheidung, die Regierungsspitze im Rotationsverfahren zu besetzen. Demnach soll Netanjahu zunächst weitere anderthalb Jahre Premierminister bleiben, bevor Gantz für 18 Monate an die Regierungsspitze vorrückt. Angesichts der Tatsache, dass der Blau-Weiß-Chef bei weitem nicht so viele Knesset-Abgeordnete hinter sich weiß wie Netanjahu, kann er dies durchaus als Verhandlungserfolg verbuchen. Um sicher zu gehen, dass Netanjahu sein Amt nach anderthalb Jahren auch wirklich räumt, einigten sich die Parteien darauf, den Deal gesetzlich abzusichern. Gantz wird gemeinsam mit Netanjahu zu Beginn der Regierungszeit als designierter Premierminister vereidigt und muss sich damit nach 18 Monaten keiner weiteren Vertrauensabstimmung stellen. Gänzlich ausgeräumt ist das Risiko, dass Netanjahu dann einfach Neuwahlen erzwingt, mit dieser Regelungen allerdings nicht.
Die Sorge, der amtierende Regierungschef könnte an seinem Stuhl kleben bleiben, kannte schon Jitzchak Schamir. 1984 hatte sich der Likud-Politiker mit seinem Kontrahenten Schimon Peres (Ma’arach) auf die erste und bislang einzige Rotationsregierung Israels geeinigt. Damals wie heute gab es in der Knesset eine Pattsituation. Und damals wie heute sah sich das Land einer wirtschaftlichen Krise gegenüber. Am Ende trat Peres sein Amt nach zwei Jahren tatsächlich an Schamir ab.
Doch nicht nur Gantz hat sich in der neuen Vereinbarung abgesichert. Auch Netanjahu hat entsprechend Klauseln einbauen lassen. Mit Abtretung seines Amtes als Premierminister müsste er sich nach aktueller Rechtslage eigentlich vollständig aus der Regierung zurückziehen. Grund ist einmal mehr die Korruptionsanklage. Damit er trotzdem Regierungsmitglied bleiben kann, soll nun eines der Grundgesetze, die eine Art Verfassung des Staates bilden, geändert werden.
Eine Regierung, zwei Blöcke
Für einen medialen Aufschrei sorgte die Tatsache, dass das neue Kabinett wohl das größte in der Geschichte Israels werden wird: Neben Netanjahu und Gantz soll es 34 Minister geben, die Hälfte davon aus dem Lager rund um Gantz. Der kann eigenständig über die Ernennungen und Entlassungen in den ihm zustehenden Ministerien – darunter die wichtigen Ressorts Verteidigung, Justiz und der umstrittene Kulturbereich – entscheiden. Denn der Vertragstext unterteilt die Regierung ausdrücklich in zwei „Blöcke“. Netanjahu bestimmt über den einen, Gantz über den anderen – auch dies Ausdruck einer Einheitsregierung, die einfach nicht einig scheinen mag. Neben dem Likud und Blau-Weiß hat sich die Arbeitspartei dazu entschieden, der Regierung beizutreten. Zwei ihrer drei Abgeordneten wollen Minister werden. Auch die beiden ultraorthodoxen Parteien werden erneut am Kabinettstisch vertreten sein. Unklar ist noch, wie es mit dem rechts-konservativen Jamina-Bündnis um Naftali Bennett weitergeht, das sich während der Verhandlungen unzufrieden geäußert hatte.
Verschiedenen Umfragen zufolge unterstützen rund 60 Prozent der israelischen Öffentlichkeit die Vereinbarung. Heftige Angriffe kommen hingegen von jenen einstigen Verbündeten, die sich aufgrund seiner Kehrtwende von Gantz und dem blau-weißen Bündnis verabschiedet haben. Sein einstiger Co-Chef Jair Lapid wirft ihm einen Betrug vor, wie es ihn im Staat Israel noch nicht gegeben habe. Die Regierung werde schon bald wieder zusammenbrechen, glaubt er. Diese Annahme ist dieser Tage häufig zu hören. Doch vielleicht orientiert sich das neue Bündnis ja auch an seinem historischen Vorläufermodell: Als Peres und Schamir sich in der 80er Jahren auf ein Rotationsverfahren einigten, wurde daraus am Ende eine der wenigen israelischen Koalitionen, die eine komplette Amtszeit überlebte.
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