„Wir wussten vorher, dass sie uns besiegen würden.“

Die israelische Unabhängigkeit (im April feiern wir den Jom Haatzmaut) ist auch eine späte Belohnung für die April-Helden des Aufstandes im Warschauer Ghetto 1943.

Eine Reihe verhafteter Aufständischer vom Warschauer Ghetto
© Archiv, AFP

Von Oliver Vrankovic

„Was wir durchgemacht haben, lässt sich unmöglich mit Worten ausdrücken. Wir sind uns darüber klar, dass das Geschehene unsere kühnsten Träume übertrifft. Die Deutschen waren zweimal genötigt, aus dem Ghetto zu flüchten.“ Diese Worte schrieb der Anführer des Aufstands im Ghetto Warschau, Mordechai Anielevicz, in seinem letzten Brief vom 23. April 1943 an seinen Stellvertreter Yitzhak Zuckerman.

Im März 1942 erreichten Berichte von der Judenvernichtung in Chelmno das Ghetto. Zivia Lubetkin bezeugte dazu 1961 im Prozess gegen Adolf Eichmann. „Wir haben unsere kulturellen Aktivitäten eingestellt (…) und unsere ganze Arbeit war nun der aktiven Verteidigung gewidmet.“

Zivia Lubetkin war im Juli 1942 Mitgründerin der Zydowska Organizacja Bojowa (ŻOB), die im Januar 1943 unter der Leitung von Mordechaj Anielewicz den bewaffneten Widerstand gegen die Massendeportationen wagte. Stellvertretender Kommandeur war Zivias späterer Ehemann Yizhak „Antek“ Zuckermann.

Der Verlauf des Januar-Aufstandes hatte den Widerstandskämpfern Mut gemacht. Ihr System der verbundenen Dachböden funktionierte und sie blieben entgegen ihrer Erwartungen am Leben. Am 19. April 1943 begann der Aufstand im Warschauer Ghetto.

Das Kommando über die Aufständischen hatte Mordechai Anielevicz. Sein Stellvertreter Yitzhak „Antek” Zuckerman befand sich als Verbindungsmann zum polnischen Widerstand auf der „arischen“ Seite des Geländes.

1961 trat Zivia Lubetkin im Eichmann-Prozess auf, sie war die einzige Zeugin, die während ihrer Aussage sitzen blieb. Über den Beginn des Aufstands sagte sie aus: „Es war merkwürdig, die etwas mehr als 20 jüdischen Jungen und Mädchen zu sehen, die diesem bewaffneten und mächtigen Feind gegenüberstanden und freudig und fröhlich waren. Warum waren sie freudig und fröhlich? Wir wussten, dass unser Ende gekommen war. Wir wussten vorher, dass sie uns besiegen würden, aber wir wussten auch, dass sie einen hohen Preis für unser Leben zahlen würden.“

In einem Interview mit Yad VaShem erinnerte sich der Widerstandskämpfer Simcha „Kazik“ Rotem, der einer Zehnergruppe von Männern und Frauen unter dem Kommando von Hanoch Guttmann im Areal der Bürstenmacherwerkstätten zugeteilt war, wie unter dem Tor ein Tunnel gegraben und darin Sprengstoff deponiert wurde. Über das Anrücken der Deutschen schreibt Rotem in seinen Memoiren: „Sie marschierten, endlos. Nach ihnen kamen Panzer, Panzerwagen, leichte Artillerie und hunderte Männer der Waffen-SS auf Motorrädern. […] Plötzlich spürte ich wie schwach wir waren. Wer waren wir, was galt unsere Widerstandskraft gegen Panzer und Panzerwagen? Wir hatten nur Pistolen und Handgranaten. Trotzdem blieb mein Kampfgeist unerschüttert. Endlich kam die Zeit mit ihnen abzurechnen.“

Zivia Lubetkin (Aufnahme vor September 1939)© WIKIPEDIAr

Von seinem Beobachtungsposten sah Rotem am Tag nach dem Ausbruch des Aufstandes im zentralen Ghetto, wie sich eine SS-Einheit dem Bürstenmachertor näherte. Guttmann kam hinzu, wartete den besten Augenblick ab und zündete den Sprengstoff. Kazik im Interview mit Yad VaShem:

„Ich war nach der massiven Explosion mit dem Anblick zerschlagener Gliedmaßen und deutscher Körper in der Luft geschockt. Dieses deutsche Volk, das Europa erobert und vor den Toren Moskaus geklopft hatte – dies war kein Schauspiel, an das wir gewöhnt waren, und sicherlich nicht in einem Ghetto. Juden töteten Deutsche. Es war etwas Außergewöhnliches… Ich war tatsächlich einige Zeit gelähmt, als die Deutschen vor dem Chaos davonliefen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren wir jahrelang daran gewöhnt, dass Juden um ihr Leben rannten [...] Es war das erste Mal seit dem Ausbruch des Krieges, dass die Deutschen flüchteten.“

Der Straßenkampf dauerte fünf Tage. Dann begannen die Deutschen das Ghetto abzubrennen. Es gab keine direkten Konfrontationen mehr und die Widerstandskämpfer und verbliebenen Bewohner des Ghettos mussten sich in den stickigen und heißen Bunkern verstecken. Am Tag vor ihrer Entdeckung durch die Deutschen beschloss das ZOB-Kommando, dass sich Lubetkin aufmachen solle, um eine Verbindung durch die Abwasserkanäle zur „arischen“ Seite des Geländes zu finden. Als sie zurückkehrte, waren Anielewicz und seine Kameraden tot. Am 10. Mai 1943 führte Zivia Lubetkin die letzten Kämpfer zu den Fluchtwegen in der Kanalisation.

Im August 1944 nahmen die wenigen Überlebenden des Kampfs im Warschauer Ghetto am Warschauer Aufstand der Polen gegen die deutsche Besatzung teil.

Im Juni 1946 hielt Zivia Lubetkin eine Rede auf der Konferenz der Vereinten Kibbuz-Bewegung in Yagur. Einen ganzen Tag lang stand sie in einem riesigen Zelt und berichtete von „den Tagen der Zerstörung und der Revolte“ (wie auch ihr Buch später heißen sollte). Unter den Zuhörern waren Yitzhak Sadeh und viele ehemalige Palmach-Kämpfer. Manche hörten zum ersten Mal vom jüdischen Widerstand gegen die Nazis, der für die Kibbuz-Bewegung zu einer wichtigen Motivation für den Kampf um den Staat Israel wurde. Zivia sagte einleitend zu ihren Ausführungen, dass sie während der Zeit, als sie von Zerstörung und Tod umgeben waren, nur mit dem Gedanken an die ferne Heimat und die Arbeiterbewegung in Erez Israel am Leben blieben.

Auf Lubetkins Initiative bildete sich in Yagur eine Kerngruppe aus überlebenden Widerstandskämpfern und Partisanen für die Gründung des Kibbutz Lohamei HaGettaot. Am sechsten Jahrestag des Warschauer Ghetto-Aufstandes erfolgte der Spatenstich für die Kollektivsiedlung und das daran angeschlossene Haus der Ghettokämpfer (Beit Lochamei HaGettaot), welches das erste Museum überhaupt war, das den Opfern des Holocaust und des jüdischen Widerstandes gedachte. Aus der Zeremonie zum Spatenstich wurde der in Israel jedes Jahr begangene Gedenktag an die Opfer des Holocaust und die Helden des Widerstands. Ob und wie die zentralen Feiern in Yad VaShem und Lochamei HaGettaot in diesem Jahr ausgerichtet werden steht wegen der Korona Pandemie, die auch Israel schwer getroffen hat, in den Sternen. Gleiches gilt für den eine Woche später stattfindenden Gedenktag für die Opfer der Kriege und des Terrors und die Feierlichkeiten zum israelischen Unabhängigkeitstag.

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