Die jüdischen Opfer von Katyn

Unter den polnischen Offizieren und Intellektuellen, die vor 80 Jahren bei dem Massaker durch den sowjetischen NKWD ermordet wurden, waren auch zahlreiche Juden.

Rabbiner Baruch Steinberg (die Frau auf dem Bild ist unbekannt), in den späten 1930er Jahren
© , AFP

Von Krzysztof Bielawski (sztetl.org.pl)

Im September-Feldzug (auch Polenfeldzug) von 1939 verteidigten rund 100.000 Juden ihr Land in den Reihen der polnischen Armee; von diesen hatten 6-7 % Offiziersränge.

Nach dem sowjetischen Einmarsch in Polen wurden 232 bis 255.000 Soldaten der polnischen Streitkräfte und anderer Formationen gefangengenommen. Die Sowjets schickten mehr als die Hälfte dieser Menschen in Kriegsgefangenenlager, in denen laut NKWD-Bericht 130.242 polnische Staatsbürger inhaftiert waren. 8.348 Offiziere wurden aussortiert, in die Lager von Koselsk, Ostaschkow und Starobelsk verschleppt und „den NKWD-Abteilungen zur Verfügung gestellt“. Im Frühjahr 1940 erschossen die Tschekisten auf Stalins Befehl nahezu alle gefangenen polnischen Offiziere. Verschiedenen Schätzungen zufolge liegen in den Massengräbern – den sogenannten „Todesgruben“ – in Katyn, Twer, Bykiwnja, Charkiw und anderen Orten 15 bis 24.000 Polen.

Die Henker töteten mit einem Schuss in den Hinterkopf, nachdem sie zuvor die Hände ihrer Opfer hinter dem Rücken verbunden oder die Kleidung auf den Kopf übergeworfen hatten. Und die Welt erfuhr von diesem Verbrechen erst, als die Nazis im Juni 1941 die Verwaltungsregion Smolensk (Katyn liegt in dieser Region) besetzten. Die lokale Bevölkerung setzte die neue Regierung über das Massengrab in Kenntnis (Anmerkung des Autors: Nach einer anderen Version wurde es versehentlich von polnischen Zwangsarbeitern entdeckt), und die Deutschen machten sich an die Exhumierungsarbeiten in Katyn. Zu diesem Zweck wurde eine internationale medizinische Kommission aus Experten aus den von den Nazis besetzten Ländern sowie aus der Schweiz gebildet. Das polnische Rote Kreuz wurde ebenfalls hinzugezogen.

Im September 1943 eroberten die Rotarmisten die Region Smolensk von der Wehrmacht wieder zurück, woraufhin sich der NKWD einer weiteren Exhumierung widmete – diesmal, um Beweise zu fälschen und die Deutschen für all das Grauen verantwortlich zu machen.

Um der Lüge mehr „Wahrheitsgehalt“ zu verleihen, präsentierte man den Touristen nach dem Krieg das weißrussische Dorf Chatyn, dessen Bewohner 1943 von den Nazis bei lebendigem Leibe verbrannt oder einfach erschossen wurden. Erst in den Jahren der Gorbatschow‘schen Perestroika übergab die sowjetische Führung der polnischen Seite Listen der Hingerichteten und verwies auf die Plätze der Massenmorde.

Es ist nicht leicht festzustellen, wie viele Juden unter den Toten waren, der Nachname reichte dafür nicht immer aus, und die meisten Verwandten der ermordeten jüdischen Offiziere waren schließlich Opfer des Holocaust geworden. Professor Marian Fuks vom Jüdischen Historischen Institut veröffentlichte in den frühen 90er Jahren Listen von getöteten Juden in der Zeitung „Volksstimme“. Das Buch eines Binjamin Meirtczak enthält die Namen von 231 in Katyn ermordeten Juden, 188 in Charkiw und 19 in Mednoje. Unter ihnen befanden sich u.a. Ärzte, Apotheker, Anwälte und Ingenieure.

In Katyn starb auch Baruch Steinberg, Oberrabbiner der polnischen Streitkräfte, der 1897 in Peremyschljany (heute Ukraine) in eine Rabbinerfamilie geboren wurde. Als junger Mann trat Steinberg der polnischen Militärorganisation bei und verteidigte während des ukrainisch-polnischen Krieges 1919 die Stadt Lemberg (ukrainisch Lwiw). Er absolvierte die Lemberger Universität und wurde 1928 Rabbiner der polnischen Armee. Zunächst wurde er nach Grodno und anschließend nach Warschau und Krakau geschickt. Im Jahr 1933 wurde Steinberg Leiter der Hauptdirektion für geistliche Vormundschaft über jüdische Soldaten und drei Jahre später Oberrabbiner der polnischen Armee. Baruch Steinberg war Anhänger von Jozef Pilsudski, der oft an patriotischen Veranstaltungen teilnahm. Im Jahr 1939 kam Steinberg in Gefangenschaft, wurde in einem Lager in Starobelsk, im Butyrka-Gefängnis in Moskau und in Lagern von Juchnow und Koselsk festgehalten. „Am Freitagabend stellten wir uns unter das Dach einer kleinen Scheune. Dort beteten Hunderte von Juden unter der Leitung des Rabbis Dr. Steinberg inbrünstig auf Hebräisch“, erinnert sich Bronislaw Mlynarski in seinem Buch „W niewoli sowieckiej“ (deutsch „In sowjetischer Gefangenschaft“).

Vom 11. bis 12. April 1940 wurde Rabbi Baruch Steinberg dem NKWD in der Verwaltungsregion Smolensk „zur Verfügung gestellt“. Er starb wahrscheinlich am 12. oder 14. April 1940 im Wald von Katyn. Er wurde 42 Jahre alt.

„Tagelang haben wir auf eine Nachricht von Vater gewartet“, erinnert sich die Professorin Janina Goldhar, Tochter des Mediziners, Dozenten an der Universität Warschau und Katyn-Opfers Mieczyslaw Proner. „Ein erstes Lebenszeichen erhielten wir im Oktober 1939. Vater sagte, dass er sich gut fühle. Mama war froh, dass er sich bei den Sowjets befand, denn für einen Juden war es besser in russischer als in deutscher Gefangenschaft zu sein. Im Dezember erhielten wir eine Postkarte aus einem Lager in Starobelsk und dann noch eine. Vater schrieb wieder, dass er sich gut fühle und bat mich, ihm unsere Fotos zu schicken (er schrieb auch, dass er meinen Teddybären bei sich hatte). Die dritte Postkarte war Anfang März geschrieben worden. Sie wurde zur gleichen Zeit geliefert, als das von Mama versandte Paket mit den Fotos wieder zurückgeschickt wurde. Zu diesen Zeitpunkt kam uns nicht der Gedanke in den Sinn, dass Vater bereits tot war.“

Auf den polnischen Militärfriedhöfen von Katyn und Charkiw finden sich Tafeln mit tausend Namen von Opfern; unter diesen nicht wenige Familiennamen polnischer Juden.

 

Übersetzung aus dem Russischen: Edgar Seibel

Nachtrag von Krzysztof Bielawski:

P.S.: „Ich bin in Charkiw geboren und aufgewachsen. Als Pionierstudent habe ich zusammen mit meinen Kameraden im Park am Denkmal für die Toten Blumen niedergelegt. Uns wurde damals gesagt, dass dort sowjetische Patrioten ruhten, die von den Deutschen erschossen wurden. Heute weiß ich, dass da in Wirklichkeit zum Tode verurteilte Polen begraben liegen, die 1940 von ‚tapferen‘ NKWD-Leuten hingerichtet und verscharrt worden sind. Unter den Tausenden Opfern (3.820 Menschen) dieses Verbrechens befanden sich: der ehemalige Stabskapitän des ‚12 Gussarski Achtyrski‘ (Kavallerieregiment), Veteran des Ersten Weltkriegs, Brigadegeneral der polnischen Streitkräfte Konstanty Plisowski, Infanterieoffizier Jakub Wajda, Vater des polnischen Filmregisseurs Andrzej Wajda, sowie Oberstleutnant Maksymilian Landau, ein Jude, der die Artillerie während der Verteidigung von Lemberg vor Angriffen der Roten Armee und der Wehrmacht befehligte.“

 

Skandal im russischen Fernsehen

Der russische Politologe, Direktor des Nahost-Instituts und ehemalige Präsident des russisch-jüdischen Kongresses, Jewgeni Satanowski, sagte im TV-Sender „Rossija“, Stalin habe mit seinem Befehl, polnische Gefangene in Katyn hinzurichten, richtig gehandelt.

Obwohl Satanowski für seine „Putintreue“ bekannt ist, empörte seine Aussage sogar einen anderen Putin-Günstling: den bekannten TV-Moderator jüdischen Glaubens Wladimir Solowjow.

Der Botschafter Polens in Moskau, Wlodzimierz Marciniak, wandte sich diesbezüglich mit einem Brief an den russischen Sender und betonte:

„Ich bin entsetzt über die Aussage von Jewgeni Satanowski zum Massaker von Katyn. Der Autor billigt ein Verbrechen großen Ausmaßes, das von den Behörden der Russischen Föderation als solches längst anerkannt und verurteilt worden ist … Eine ‚Rechtfertigung‘ des kriminellen Akts des NKWD, wie sie in der Talk-Show ‚Ein Abend mit Wladimir Solowjow‘ (Sender Rossija 1) zu hören war, schafft einen gefährlichen Präzedenzfall. Die Thesen von Jewgeni Satanowski können als Straftat angesehen werden. Eine feindselige Haltung ist kaum zu leugnen.“

 

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