Tabubrüche und Grenzöffnungen
Marko Martins neuer Sammelband über die ehemaligen osteuropäischen Dissidenten, die zu einem großen Teil Juden sind
„Dissidentisches Denken“ nennt Marko Martin sein Buch über Begegnungen mit Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, im Untertitel „Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters“, und tatsächlich hat er etliche der 25 mehr oder weniger berühmten Jahrhundert-Zeugen noch persönlich getroffen.
Dabei sind die Lebensgeschichten der Dissidenten-Autoren so miteinander verwoben, dass ein Gesamtbild der wichtigsten geistigen Bewegungen des vergangenen Jahrhunderts entsteht, in Europa und darüber hinaus. Raissa Orlowa-Kopelew, Manés Sperber, Hans Sahl, Zofia Hertz, Melvin J. Lasky, Pavel Kohout, Arthur Koestler, Aharon Appelfeld, Alexander Spiegelblatt oder Edgar Hilsenrath – auffallend viele Texte des Buches gelten jüdischen Intellektuellen, die als Denker und Vordenker für die Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts entscheidend waren.
Wer kann überhaupt ein solches Buch schreiben? Die Männer und Frauen, die darin vorgestellt werden, lebten verstreut über die ganze Welt, und es bedurfte eines Weltreisenden, um so viele von ihnen zu besuchen. Sie haben Unmengen Bücher verfasst, aus Büchern zitiert und sich kritisch mit ihnen auseinandergesetzt, sie sind von den Werken berühmter Autoren beeinflusst, gehören zu philosophischen Schulen und geistigen Richtungen. Mit einem Wort – es bedurfte eines manischen Lesers, um all das zu überblicken. Und dann muss, wer diesen Menschen ein Denkmal setzen will, verstehen, worum es ihnen ging, muss ihren Impetus nachfühlen können, also Erfahrung mit totalitären Systemen haben, am besten am eigenen Leib.
Alle diese Qualifikationen kommen in Marko Martin zusammen, dem 1970 im sächsischen Burgstädt geborenen Publizisten, der sich seit Jahrzehnten mit der Dissidenten-Literatur des 20. Jahrhunderts beschäftigt. Diese Literatur, ein von Grund auf oppositionelles Schreiben, war von weltweiter Wirkung und hat das Denken kommender Generationen entscheidend geprägt. Die Freiheit heutigen westlichen Denkens ist ohne die Tabubrüche und Grenzöffnungen der Dissidenten nicht denkbar, eine Freiheit, die inzwischen wiederum – durch political correctness und neue Denkverbote – in Gefahr geraten ist. Umso wichtiger die Erinnerung an diese Schriftsteller, Philosophen und Überlebenden des Schreckens. Ihre Lebenshaltung, ihre Zivilcourage, ihr „dissidentisches Denken“ sind auch heute Muster der Ermutigung.
Das 20. Jahrhundert war nicht nur die Epoche der totalitären Systeme, das „Jahrhundert der Wölfe“, wie es Nadeshda Mandelstam, die Witwe des im Gulag zu Tode gekommenen Petersburger Dichters Ossip Mandelstam, einst summarisch nannte, das Zeitalter von Faschismus, Stalinismus, Nationalsozialismus, Realsozialismus, es war auch die Zeit des Aufbegehrens und intellektuellen Widerstands gegen die Diktatur, eines bekennenden Individualismus als Gegenbild zur anbefohlenen Vermassung, eines Außenseitertums zur Bewahrung des Humanen in Zeiten überhand nehmender Unmenschlichkeit.
Marko Martin ist mit dem Thema Außenseitertum und Dissidenz groß geworden. Sein Vater und Großvater haben – aus religiösen Gründen – in der NS-Zeit respektive in der DDR im Gefängnis gesessen, er selbst ist als 19-Jähriger aus der DDR in den Westen emigriert, um einem ähnlichen Schicksal zu entgehen. Von daher fühlt er sich den Dissidenten des 20. Jahrhunderts von Herzen verbunden und hat einen nicht unerheblichen Teil seines bisherigen Lebens mit dem Studium und der Bewahrung ihres gewaltigen Nachlasses verbracht. Ihm ist die biblische Chronistenpflicht vertraut, der Auftrag, man müsse „niederschreiben“, was man erlebt, gesehen und gehört hat, und für die Nachwelt bewahren. Oder auch für eine zunehmend vergessliche Gegenwart, für Smartphone-Generationen, die bereits jetzt die unter größten Gefahren und widrigsten Umständen geleistete Vorarbeit der Dissidenten für ein vereintes Europa, ein Leben in Freiheit und geistiger Offenheit aus dem Gedächtnis verlieren.
Marko Martin entwickelte für sein Erinnerungswerk einen Stil literarischer Plauderei, gestützt auf genaueste Recherche, durch den das Historische nahegebracht wird ohne es zu profanieren. Seine Kenntnis der widerständigen Literaturen des 20. Jahrhunderts ist immens. Und er geht weit in seinem persönlichen Engagement, indem er die Überlebenden des geistigen Widerstands an ihren fernen Wohnorten – oft Orten des Exils – besucht, was seinen Essays etwas atemberaubend Authentisches verleiht. Er hat wirklich noch die damals 105-jährige Mariana Frenk-Westheim in Mexiko-Stadt oder die in Sri Lanka berühmt gewordene Dichterin Anne Ranasinghe kennengelernt und ausführlich befragt, deutsche Jüdinnen beide, Überlebende von ausgelöschten Familien, die eine als Marianne Freund in Hamburg, die andere als Anneliese Katz in Essen geboren, beide ungebrochen in ihrer „illusionslosen Menschlichkeit“, wie Albert Camus diese durch kein noch so schreckliches Erlebnis zu zerstörende, zutiefst optimistische Weltsicht der Dissidenten genannt hat.
Eine Schwäche der Bücher Marko Martins ist seine Neigung, aktuell-tagespolitische Statements – oft solche des Autors – in die Gespräche mit den Granden des Geisteslebens einzustreuen. So wirkt Aharon Appelfelds angebliches Bekenntnis zu Angela Merkels verfehlter Einwanderungspolitik deplatziert, fast unglaubwürdig im sonst ganz anders gelagerten Geisteszusammenhang des 2018 verstorbenen israelischen Schriftstellers. Martins forciert vorgetragener „Liberalismus“ mag nicht jedermanns Geschmack sein, doch wer die Größen europäischen Geisteslebens des vergangenen Jahrhunderts, die spirituellen Anreger des Widerstands gegen den Totalitarismus in einem Buch vereinigt haben möchte, sollte seinen Sammelband lesen. Auch, wer eine Ahnung von der geistigen Blüte Europas vor der großen Katastrophe gewinnen möchte, eines Europas, als es dort noch Juden gab.
Marko Martin, Dissidentisches Denken. Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters, Die andere Bibliothek, Berlin 2019, 540 Seiten, 36 Euro
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