Von Riesser bis Walser: Die Paulskirche und die Juden.

In der berühmten Frankfurter Kirche wurde der Grundstein für die Gleichberechtigung der Juden Deutschlands gelegt.

Paulskirche in Frankfurt

Von Dr. Elvira Grözinger

Im Mai 2019 wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 70 Jahre alt. Zugleich jährte sich im laufenden Jahr die Verabschiedung der Weimarer Verfassung zum 100. Mal, weshalb auch an die Frankfurter Nationalversammlung von 1848 erinnert werden sollte, die in der Paulskirche tagte. Die Paulskirche ist die unbestreitbare Keimzelle, ja das Symbol der Freiheit, Einheit und Demokratie auf deutschem Boden und gleichzeitig mit der Emanzipationsbewegung der Juden eng verbunden.

Darauf hinzuweisen, gilt gerade heute, wo Juden wieder angegriffen werden, ob von extremen Rechten, Linken oder Muslimen. Denn der Antisemitismus ist keineswegs allein ein Problem der Rechtsextremen in unserem Land. Deshalb muss unser demokratischer Rechtsstaat wehrhafter sein und sich öfter am Grundgesetz orientieren, das wegen der nationalsozialistischen Diktatur die Würde eines jeden Menschen für unantastbar erklärt. In Artikel 1 des Grundgesetzes ist diese verankert und sie „zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt.“ Der im GG verankerte Rechtsstaat versagt heute leider nicht selten bei der Erfüllung seiner Pflichten. Die Juden in Deutschland fühlen sich ungeschützt und benachteiligt, trotz verbaler Zusicherungen seitens der Politik und trotz der seit nunmehr zwei Jahren wachsenden Zahl an Antisemitismusbeauftragten. Dass die gleichen Probleme auch schon in der Paulskirche zur Sprache kamen, zeugt von einem ungelösten Problem und sozialem Sprengstoff, denn die Juden als Minderheit in einer Mehrheitsgesellschaft sind ein Seismograph für den Zustand dieser und zeigen an, ob diese Gesellschaft einem Vulkan gleich ruhig oder eruptiv ist.

Das Jahr der Revolutionen 1848/1849, als die bleierne Metternich-Ära zu Ende gegangen war und europaweit sich die Völker gegen die Despoten erhoben, war auch für die Juden wichtig, denn sie verbanden damit die Hoffnung auf die Emanzipation. In Frankreich und im Deutschen Bund sowie in Österreich, Ungarn, Oberitalien, Böhmen und im geteilten Polen (Provinz Posen, Galizien, Rumänien) gingen die Völker unter der Losung der Französischen Revolution von 1789 „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ auf die Barrikaden im Kampf für nationale Selbstbestimmung, soziale Gerechtigkeit und für bürgerliche Rechte. Die Nationalversammlung in der Paulskirche war das Ergebnis der Märzrevolution, das Ur-Parlament auf deutschem Boden, und sie scheiterte mit der Niederlage der Revolutionäre. Dennoch gingen von ihr Impulse aus, die bis heute unsere Demokratie prägen.

Die Lage in den europäischen Ländern und in Deutschland hat sich damals zugespitzt. In einer sozioökonomischen Krise der 1840er Jahre gab es wegen Missernten im deutschen Bund über 200 Hungerunruhen. Während der Revolution gab es antijüdische Ausschreitungen an vielen Orten, so z. B. auch im Odenwald, nahe Frankfurt a. M. oder in Baden. Der seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts wachsende Nationalismus schloss die Juden nicht ein, sondern aus.

Gabriel Riesser, eigentlich Katzenellenbogen

Die Verfassung, die während des Revolutionsjahres erarbeitet wurde, sah eine vollkommene Gleichstellung der Juden vor. Mit dem Scheitern der Revolution erlitt leider auch die Emanzipation einen Rückschlag und es dauerte bis 1869/71, bis diese erfolgte. In der Paulskirche spielte der Jude Gabriel Riesser (ursprünglich Katzenellenbogen, geb. 1806 in Hamburg, verst. 1863 ebendort) eine zentrale Rolle. Aus einer Rabbinerfamilie stammend, studierte er Jura in Kiel und Heidelberg, wo er 1826 summa cum laude promovierte. Da er ungetauft blieb, ließ man ihn nicht als Anwalt zu. Seither kämpfte Riesser publizistisch für die Emanzipation der Juden in Preußen und ganz Deutschland, was ihm landesweit Beachtung verschaffte.

 

Der erste jüdische Richter Deutschlands

Aufgrund einer Ausnahmegenehmigung konnte er einer der beiden „israelitischen“ Notare in Hamburg werden. Im März 1848 wurde der Liberale Riesser Abgeordneter im Frankfurter Vorparlament und später als Abgeordneter für das Herzogtum Lauenburg in den Verfassungsausschuss und zweimal zum Vizepräsidenten der Frankfurter Nationalversammlung gewählt. Riesser musste gegen antisemitische Mitglieder des Gremiums vorgehen, derer Wortführer Moritz Mohl und Wilhelm Marr waren. Er war maßgeblich an der Verabschiedung des § 146 der Paulskirchenverfassung beteiligt: „Durch das religiöse Bekenntnis wird der Genuss der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte weder bedingt noch beschränkt.“ Als Mitglied der Kaiserdeputation bot er im April 1849 Friedrich Wilhelm IV. die deutsche Kaiserkrone an, die dieser jedoch ablehnte. Aus Enttäuschung darüber erklärte Riesser im Mai 1849 seinen Austritt aus der Versammlung und betätigte sich politisch für den Liberalismus, war von 1859 bis 1862 Mitglied und vorübergehend Vorsitzender der Hamburgischen Bürgerschaft (nachdem er durch die Frankfurter Reichsverfassung als Jude Hamburger Bürger geworden war). In Hamburg wurde er 1859 Obergerichtsrat und damit der erste jüdische Richter Deutschlands.

Riesser war der prominenteste, aber nicht der einzige Jude in der Nationalversammlung. Dort und anschließend in dem kurzlebigen Rumpfparlament in Stuttgart gab es sieben jüdische Vertreter (bei 1 % der Bevölkerung) von insgesamt 809 Abgeordneten. Er erlebte die Gleichstellung der Juden, für die er so lange stritt, nicht mehr. Für unser Grundgesetz hat er aber die Voraussetzungen geschaffen.

Die Paulskirche ist seit 1948 keine Kirche mehr, sondern eine politische Stätte des Gedenkens. Dort wird auch seit 1950 alljährlich der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen, eine international renommierte Auszeichnung für Personen, „die in hervorragendem Maße vornehmlich durch ihre Tätigkeit auf den Gebieten der Literatur, Wissenschaft und Kunst zur Verwirklichung des Friedensgedankens“ beigetragen haben. Unter den Preisträgern sind auch zahlreiche Juden – der zweite Preisträger überhaupt war Martin Buber, unter anderen wurde 1965 Nelly Sachs ausgezeichnet, Ernst Bloch (1967), 1972 bekam ihn Janusz Korczak, posthum, da der Ausnahmepädagoge 1942 seine Zöglinge, die jüdischen Waisenkinder, in die Gaskammern von Treblinka begleitete, auch die israelischen Schriftsteller Amos Oz (1992) und David Grossman (2010) sowie der Historiker Fritz Stern sind auf der langen Preisträgerliste. Das demokratische Deutschland schien mit sich im Reinen zu sein, die Vergangenheit mustergültig bewältigt zu haben.

 

Martin Walser gegen Ignatz Bubis

Doch dann kam 1998 der gefeierte Schriftsteller Martin Walser an die Reihe und sorgte für einen antisemitischen Eklat, den ersten dieser Art seit der Frankfurter Nationalversammlung. Seine Dankesrede enthielt alle Versatzstücke dessen, was man heute den AfD-Politikern wie Björn Höcke vorwirft, nämlich Geschichtsklitterung, Relativierung deutscher Schuld am Zweiten Weltkrieg und millionenfachem Mord an europäischen Juden. Walser sagte dort u.a. „Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung“. Von 120 geladenen Gästen war Ignatz Bubis der einzige, der sich zu Recht empörte und Walser einen „geistigen Brandstifter“ nannte, was zu der berühmten Debatte zwischen den beiden führte, die als der „erste Antisemitismusstreit der Berliner Republik bezeichnet wurde.“ Walser stellte die Zuständigkeit der Juden, sich in deutsche Angelegenheiten einzumischen in Frage. Seine skandalöse und bedrohliche Rede bewies, der Antisemitismus existiert auch in der (oberen) Mitte unserer Gesellschaft.

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