Vernichtungswille ist keine „Kritik“

In einem neuen Sammelband beleuchten mehrere Autoren die Aspekte des Antisemitismus in Deutschland – unter besonderer Berücksichtigung seiner islamischen Variante.

Von Karl Pfeifer

Viele tausende Bücher wurden über die Geschichte des Antisemitismus insbesondere in Deutschland und Österreich publiziert. Dieses von Olaf Glöckner und Günther Jikeli herausgegebene Sammelwerk unterscheidet sich von den meisten, denn es setzt sich mit „Antisemitismus in Deutschland heute“ auseinander.

Es vergeht fast kein Tag, ohne dass es zu einem oder mehreren antijüdischen Vorfällen in Deutschland kommt. Es gibt Antisemitismusbeauftragte und viele zum Fenster hinausgesprochene Reden. Doch wenig geschieht, um Abhilfe zu schaffen.

Wer sich in Deutschland als Jude zu erkennen gibt, dem droht an gewissen Orten physische Gewalt. Natürlich ist der Antisemitismus kein lediglich deutsches Problem, sondern auch ein europäisches und zunehmend auch eines der USA.

 

Jerome Lombard schildert in seinem Beitrag das „Antisemitische Mobbing an deutschen Schulen“. Nachdem solch ein Fall bekannt wurde, hatte der regierende Berliner Bürgermeister Michael Müller (SPD) diesen als „hoffentlich nur ein Einzelfall“ hingestellt. „Systematische Verharmlosung“ der Judenfeindschaft in deutschen Klassenzimmern ist festzustellen und nur wenige Fälle werden von den Medien berichtet. Doch es regt sich Widerstand, zum Beispiel haben sich neun jüdische Anwälte aus Berlin zu einem Team zusammengetan, um Abhilfe zu schaffen.

Auch die Tätigkeit der „Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus“ wird geschildert.

Lombard beanstandet die falsche Zurechnung in der Kriminalstatistik. Laut einer Studie, im Auftrag des von der Bundesregierung eingesetzten unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus, gaben 80 Prozent aller Opfer antisemitischer Übergriffe an, dass die Täter der gegen sie verübten Gewalttaten einen muslimischen Hintergrund hatten. „Die zu erstellende Statistik zu antisemitischem Mobbing an Schulen sollte die Wahrnehmung der Betroffenen von vornhinein mit einbeziehen und vor allem auch Vorfälle erfassen, die unterhalb der Strafbarkeitsgrenze liegen. Eine solche Statistik signalisiert den Betroffenen einerseits, dass die Politik ihre Ängste wahrnimmt. Andererseits könnte sie es den bereits existierenden Initiativen und Projekten erleichtern, konkrete Maßnahmen gegen Antisemitismus an den deutschen Schulen zu entwickeln.“

„Aktueller Antisemitismus in deutschen Qualitätsmedien“ ist das Thema mit dem sich Kai Schubert auseinandersetzt und er macht auf eine Diskrepanz aufmerksam: Juden „als solche abzuwerten oder auch nur mit Klischees und Stereotypen belegen zu wollen, würden die jeweiligen Leitungsetagen und Redaktionen empört von sich weisen. Andererseits nimmt ein nicht unbedeutender Teil der jüdischen Bevölkerung in Deutschland offenbar wahr, dass genau dies schon längst passiert.“ Schubert belegt dies mit einer vom Innenministerium herausgegebene Untersuchung.

Freilich neigen Journalisten dazu, Antisemitismus primär als ein historisches Phänomen zu beachten mit dem sie nichts am Hut hätten. Doch in der oben erwähnten Untersuchung äußerten Befragte mit hoher Schulbildung 15 Prozent Zustimmung zu israelbezogenen antisemitischen Aussagen. Schubert zeigt Beispiele von Antisemitismus in den Medien der demokratischen „Mitte“ im 21. Jahrhundert, antisemitische Karikaturen in der „Süddeutschen Zeitung“, setzt sich mit Günter Grass‘ „Gedicht“ sowie mit der „Augstein-Debatte“ auseinander und schildert die Abwehrstrategien gegen Kritik an Antisemitismus. „Die Vehemenz, mit der bereits der Gedanke, die die Diskussion auslösende Äußerung hätte etwas mit Antisemitismus zu tun, abgewehrt wird, zeugt davon, dass man häufig nicht willens und/oder in der Lage ist, modernisierte Formen der Judenfeindlichkeit wahrzunehmen.“

Günther Jikeli erklärt warum Antisemitismus sowohl in muslimischen Ländern als auch unter Muslimen in Europa heute besonders stark verbreitet ist. Er beschreibt auch islamische Organisationen, in deren Moscheen Judenhass offen propagiert wird. „Allerdings sind die islamischen Organisationen nicht repräsentativ in Deutschland, auch wenn sie dies oft vorgeben. Gerade säkulare Muslime fühlen sich oft von keiner der derzeit die Mehrheit der Moscheen betreibenden Organisation vertreten.“

Jikeli belegt mit Umfragen in europäischen Ländern, dass antisemitische Einstellungen unter Muslimen wesentlich stärker verbreitet sind als unter Nicht-Muslimen. Immerhin wurden in den verschiedenen Umfragen seit 2003 insgesamt etwa 50.000 Menschen befragt, darunter 15.000 Muslime. Dieser Antisemitismus hat nichts mit „Kritik“ an Israel zu tun, wenn so oft „die Israelis“ – oft auch „die Juden“ – beschuldigt werden aus Bosheit nicht-jüdische Kinder zu töten. Manche Muslime rechtfertigen nicht einmal ihren Hass auf Juden, unter ihnen sind die Ablehnung alles Jüdischen und der Hass auf Juden zur Selbstverständlichkeit geworden, die sehr schnell in Gewalt umschlagen kann.

In ihrem Beitrag weist Monika Schwarz-Friesel auf „die Furcht von Jüdinnen und Juden vor antisemitischen Übergriffen“ hin, die nicht unerheblich ist. „Warum berührt dies so wenige Nicht-Juden? Warum werden diese Ergebnisse kurz zur Kenntnis genommen und dann ad acta gelegt? Warum halten viele Personen und Institutionen an dem für die Gesellschaft euphemistischen Bild fest, der „Feind stehe vor allem rechts“ und ansonsten habe man „aus der Vergangenheit die Lehren gezogen“?

Als Beispiel schildert sie die irrationale Reaktion von Arte und WDR auf den Film Auserwählt und ausgegrenzt. Der Hass auf Juden in Europa (2017). Schwarz-Friesel geht auf diesen und die antijüdischen Emotionen ein, die mitunter aus der Mitte der Gesellschaft kommen.

Sie resümiert: „Antisemitismus ist keine Menschenfeindlichkeit, sondern ausschließlich Judenfeindschaft. Antisemiten, unabhängig von ihrer politischen Überzeugung oder ideologischen Einstellung, haben das Ziel, Juden aus der Welt zu entfernen oder ihnen ihre jüdische Identität zu nehmen“ und sie fragt „Wann wird die deutsche Gesellschaft die Augen für die Realität öffnen und damit einen ersten rationalen Schritt in Richtung Bekämpfung tun?“

Im Sammelwerk sind auch enthalten Gideon Botsch „Rechtsextremismus und ‚Neuer Antisemitismus‘“; Samuel Salzborn „Antisemitismus und Antiimperialismus – Ein Problemaufriss“; Stephan Grigat „Bei alten Freunden – Islamischer Antisemitismus, deutsche Iran-Politik und die Bedrohung Israels“; Olaf Glöckner „Kampf um die ‚Brit Mila‘ – Deutschlands Beschneidungsdebatte 2012 und europäische Reaktionen“; Matthias Becker und Hagen Tröschke „Antisemitismus im Internet. Erscheinungsformen, Spezifika, Bekämpfung“; Daniel Poensgen und Benjamin Steinitz „Alltagsprägende Erfahrungen sichtbar machen. Antisemitismus-Monitoring in Deutschland und der Aufbau des Meldenetzwerkes RIAS“; Levi Salomon und Jona Fedders „Alles nur ‚Hysterie‘? Perspektiven der jüdischen Communities auf den wachsenden Antisemitismus“; Sergey Lagodinsky „Durch Bildung toleranter? Zu kontroversen Debatten um antisemitische Vorurteile unter deutschen Studierenden.“

Das Buch wird ergänzt durch eine Bibliographie, Beschreibung der Autoren und ein Personenregister.

Dieses 264 Seiten umfassende Sammelwerk beeindruckt durch Tiefgang und couragierte Auseinandersetzung mit einer Realität, die viele nicht wahrhaben wollen. Mancher Befund kann erschrecken, aber die Beispiele resoluter Gegenwehr könnten und sollen Behörden und Zivilgesellschaft zur Aktivität ermuntern.

 

Olaf Glöckner, Günther Jikeli (HRSG.):

Das neue Unbehagen – Antisemitismus in Deutschland heute.

Georg Olms Verlag, Hildesheim, Zürich, New York 2019

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