Der 9. November – zwischen Mauerfall und Reichspogromnacht
Das Mauerfall-Jubiläum vor 30 Jahren ist getrübt durch die Erinnerung an Reichspogromnacht und Hitlerputsch.
Der Fall der Berliner Mauer im November 1989 markierte den Zusammenbruch des Kommunismus in ganz Osteuropa© JERARD MAILE, AFP
Es ist einer der schwärzesten Tage in der deutschen Geschichte: Der 9. November 1938, der sich dieses Jahr zum 81. Mal jährt. Erst als „Reichskristallnacht“, später korrekterweise als Novemberpogrome, hat er Einzug in die deutschen Geschichtsbücher und die Gedenkkultur gehalten. Dabei war er nur der vorläufige Höhepunkt zur Durchsetzung einer Ideologie, deren Entstehen sich schon in den 20er Jahren abzeichnete und die den bereits im 19. Jahrhundert erstarkenden Antisemitismus in Form einer immer virulenter werdenden rassistischen Variante zur Ausgrenzung der Juden und Schaffung einer vermeintlichen arischen „Herrenrasse“ instrumentalisierte.
Es war eine perfide Variante des ursprünglich religiös und immer auch machtpolitisch motivierten Judenhasses, der in Europa schon zuvor zu Pogromen und Vertreibung geführt hatte. So wurde die Gewalt, die am 9. November 1938 gegen Juden und deren Geschäfte staatlich initiiert wurde, zu einem wichtigen Datum der Festigung der nationalsozialistischen Machtausübung, die mit der Machtübernahme der NSDAP 1933 begonnen hatte. Schon 1933 hatte es Berufsverbote, Ausschlüsse aus den Berufsvereinigungen und existenzbedrohende Diskriminierungen von Juden und anderen nicht-„arischen“ Bürgern gegeben. Mit den am 16. September 1935 im Reichsgesetzblatt veröffentlichten Nürnberger Gesetzen erfolgte ein weiterer Einschnitt, der Juden das Leben in Deutschland erschwerte. Diese historische Abfolge zeigt, mit welcher Zielstrebigkeit die Nationalsozialisten den in weiten Teilen der Bevölkerung tief verwurzelten Antisemitismus ausnutzten, um ihre politische Ziele zu verfolgen. Die Zerstörung und der Boykott jüdischer Geschäfte, der am 9. November 1938 so eindrücklich als Staatsdoktrin auftrat, war ein Zeichen, das die jüdische Bevölkerung verstand und alle, die in der Lage waren das Land zu verlassen, ins Exil trieb. Mit diesem Ereignis war auch ein entscheidender Schritt des Erodierens eines demokratischen Rechtsstaats zu einem Unrechtsregime erfolgt.
Der 9. November 1938 war kein zufällig gewählter Tag. Er bezog sich auf vorangegangene Ereignisse, die den 9. November in Deutschland zu einem besonderen Tag machen: 1918 war der Kaiser abgesetzt und die deutsche Republik ausgerufen worden, 1923 war der Putsch Hitlers in München gescheitert. Die parlamentarische Demokratie hatte damit noch weitere zehn Jahre gewonnen, ehe sie sich quasi friedlich selbst abschaffte.
Am 9. November 2019 begeht Deutschland auch einen weiteren Jahrestag: Vor 30 Jahren fiel die Berliner Mauer, eine der gravierenden Folgen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Doch die Teilung Deutschlands in zwei Staaten ist auch nach 30 Jahren noch nicht überwunden. Die von vielen begrüßte, von manchen gefürchtete Einheit erfolgte eingebettet in ein europäisches Konzept gemeinsamen politischen Handelns. Der Zusammenbruch eines der beiden Staaten - der „demokratischen“ Diktatur – erfolgte friedlich. So ist heute von einer friedlichen Revolution die Rede, auch wenn es wohl in erster Linie der wirtschaftliche Zusammenbruch eines maroden Systems war. Bis heute sind die Folgen spürbar.
Gibt es also einen Anlass das Datum zu feiern? Nicht umsonst hat die Politik sich auf den 3. Oktober als nationalen Feiertag geeinigt. Der Tag, an dem die Mauer durchlässig wurde und die Menschen beider deutscher Staaten tatsächlich erstmals real einander ohne Passierscheine begegnen konnten, ist noch zu tief mit den Gräueltaten der Nationalsozialisten im deutschen Bewusstsein verankert. Gerade im westlichen Teil der Republik, in der mit der sogenannten Umerziehung der Alliierten und einer umfangreichen Gedenkkultur in breiten Teilen der Bevölkerung eine ernsthafte Aufarbeitung der Vergangenheit stattfand, erschien der 9. November als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus nicht als ein Tag, der sich zum Feiern eignet. Die Bundesrepublik Deutschland hatte sich zu Verantwortung und entsprechendem Umgang mit den Folgen des Unrechtsregimes bekannt. Im anderen Teil der Republik hatte man die Nachfolge geleugnet und sich durch eine 180-Grad-Wende von ihr abgekehrt: Der Staat verstand sich als antifaschistisch. Dass er damit auf den Faschismus Bezug nahm wurde positiv bewertet, da er diesen ja ablehnte.
Die DDR ignorierte Antisemitismus
Nun ist es so, dass die Politik die Massen nicht immer mitnimmt. Der Antisemitismus war nach 1945 daher nicht verschwunden. In der Bundesrepublik Deutschland war er geächtet und verpönt, es wurden in zähen Prozessen Verhandlungen zur „Wiedergutmachung“ geführt; in der DDR wurde er einfach ignoriert: Juden gab es nicht. Entschädigung erhielten nur Antifaschisten, also regimetreue Bürger. Dies führte noch nach der Wiedervereinigung zu Ungerechtigkeiten, denn die von der DDR verfügten Entscheidungen zu Rentenzahlungen wurden im Einigungsvertrag ungeprüft übernommen, sodass Verfolgte noch einmal leer ausgingen und Unrecht fortgeschrieben wurde. Den Antisemitismus hatten die Antifaschisten nicht bekämpft, sie hatten ihn schlichtweg ignoriert.
Eine spürbare Folge ist das Fehlen jüdischen Lebens gerade in Ostdeutschland, denn hier hatte es fast keine jüdischen Gemeinden mehr gegeben, Religion war im kommunistischen Regime unerwünscht. Wie sich später herausstellte, waren die Vorbehalte durchaus berechtigt, denn die Kirche trug zur Stärkung des Widerstands und damit dem Fall der Machthaber in der DDR bei. Die Juden, die sich in der DDR niedergelassen hatten, waren in der Regel regimetreu und säkular, sie hatten kein Interesse am Wiederaufbau jüdischer Gemeinden und erhielten keine Entschädigungen für zerstörte Synagogen.
Zerstörte Synagoge an der Berliner Fasanenstraße
Die neuen Juden aus dem Osten waren großteils säkular
Erst mit den sogenannten Kontingentflüchtlingen, russischen Juden, die das jüdische Leben in Deutschland nach 1991 wiederbeleben sollten, änderte sich das geringfügig. Denn auch nicht alle russischen Juden hatten ein Interesse daran, ihre jüdische Religion intensiv zu leben, zumal sie oft nicht einmal mehr mit ihr vertraut waren. Das jüdische Leben im Osten wuchs deutlich langsamer als erwartet, zumal es keine staatlichen Hilfen für den Wiederaufbau der Synagogen und damit eines jüdischen Gemeindelebens gab. Auch staatlicher Schutz jüdischen Lebens liegt im Ermessen der Länder – der Anschlag von Halle hat das schmerzlich ins Bewusstsein gerufen und es bleibt zu hoffen, dass den politischen Sonntagsreden auch Taten folgen und dies geändert wird.
30 Jahre nach der Wende spüren wir so noch immer die Folgen der Teilung. Deutschland ist noch immer gespalten, und auch die Gefahren, die im 21. Jahrhundert, hundert Jahre nach der gescheiterten Demokratie der Weimarer Republik, der Demokratie im geeinten Deutschland drohen, sind im ehemaligen Osten andere als im Westen. Das Erstarken rechtsterroristischer Organisationen wie der NSU und der Reichsbürger besonders in den ostdeutschen Ländern ist dafür symptomatisch. Noch immer herrscht ein Misstrauen gegenüber dem Staat, oft fehlt ein Gefühl für aufrichtiges demokratisches Verhalten. Im Westen hat man sich andere Probleme zusätzlich ins Haus geholt: libanesische oder „palästinensische” Clans terrorisieren ganze Gebiete und fügen dem alten Antisemitismus oftmals unter dem Deckmantel einer vermeintlich „legitimen Israelkritik“, die auch in der Politik der DDR verwurzelt war, neue Nahrung zu. Terror, auch und besonders gegen Juden, wird so wieder gesellschaftsfähig. Der Antisemitismus ist nicht verschwunden, er hat neue Nahrung erhalten, im Osten wie im Westen. Debatten und Diskussionen, die für eine funktionierende Demokratie lebenswichtig sind, werden hier wie da gerne mit Drohungen oder gar Gewalt erstickt: Geeint ist man lediglich in der Intoleranz gegenüber Andersdenkenden.
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