Israel: Das schwierige Ergebnis der Neuwahlen

Präsident Rivlin beauftragt Benjamin Netanjahu erneut mit der Regierungsbildung – die aber steckt voller Zwickmühlen.

Das Staatsoberhaupt muss schlichten: Präsident Rivlin vermittelt zwischen den Kontrahenten Gantz und Netanjahu.© YONATAN SINDEL, AFP

Von Oliver Vrankovic

Am 17. September fanden in Israel zum zweiten Mal in diesem Jahr Parlamentswahlen statt. Der Urnengang wurde notwendig, nachdem die Koalitionsverhandlungen nach den Wahlen im April gescheitert waren. In Israel erteilt der Staatspräsident nach Gesprächen mit den Vorsitzenden aller im Parlament vertretenen Parteien einem der gewählten Abgeordneten den Auftrag zur Regierungsbildung. In seiner Entscheidung orientiert sich der Staatspräsident dabei an den Empfehlungen, die die im Parlament vertretenen Parteien ihm gegenüber aussprechen. So wurde im April der amtierende Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, der 65 Empfehlungen rechter und orthodoxer Parteien auf sich vereinigen konnte, mit der Regierungsbildung beauftragt. Eine Regierungskoalition kam allerdings wegen der Differenzen zwischen den orthodoxen Partnern des Likud und Avigdor Liebermans säkularer, nationalistischer Partei „Unser Haus Israel“ nicht zustande.

Lieberman kämpft gegen die Wehrpflicht-Befreiung der Orthodoxen

Streitpunkt war das Wehrpflichtgesetz für Orthodoxe, dessen Verabschiedung Lieberman zur Bedingung für einen Beitritt seiner Partei in eine Koalition rechter und orthodoxer Parteien gemacht hatte, und von dessen Nicht-Verabschiedung die Orthodoxen ihren Beitritt zu einer Regierungskoalition abhängig machen. Der Entwurf des Gesetzes, das vom Obersten Gericht angemahnt wurde, liegt beim Verteidigungsausschuss. Erarbeitet wurde es vom Verteidigungsministerium als Lieberman noch Verteidigungsminister war. Bevor der Staatspräsident einen anderen Abgeordneten mit der Regierungsbildung beauftragen konnte, löste sich das Parlament auf und so kam es am 17. September zur ersten Wahlwiederholung in der Geschichte Israels.

Bei dieser Wahl trat wie schon im April das Parteienbündnis Blau-Weiß gegen den Likud an. Blau-Weiß unter dem Vorsitz des ehemaligen Generalstabschefs Benny Gantz ist ein Zusammenschluss seiner neugegründeten Partei „Chosen LeIsrael“ mit „Yesh Atid“ unter dem Vorsitz von Yair Lapid und der Partei „Telem“ des ehemaligen Generalstabschefs und Verteidigungsministers Mosche Ja’alon, sowie dem ehemaligen Generalstabschef Gabi Aschkenasi. Blau-Weiß erreichte ebenso viele Mandate wie der Likud (35). Dieser fusionierte für die Wahl im September mit der Partei „Kulanu“ von Moshe Kahlon, die im April 4 Mandate erhielt, und erreichte einen Rückzug der Partei Zehut von Moshe Feiglin, der seine Anhänger anschließend dazu aufforderte Likud zu wählen. Um nicht an der Sperrklausel von 3,25 Prozent zu scheitern, schlossen sich die Parteien „Neue Rechte“ von Ayelet Shaket und Naftali Bennett mit den national-religiösen Parteien „Nationale Union“ unter dem Vorsitz von Bezalel Smotrich und „Jüdisches Haus“ unter dem Vorsitz von Rafi Peretz zum Parteienbündnis „Yamina“ unter dem Vorsitz von Ayelet Shaket zusammen. Die rechtsextreme Partei „Otzma Yehudit”, die keine Aufnahme in das Bündnis fand, trat mit einer eigenen Liste an.

Zwei orthodoxe Parteien – eine sephardisch, die andere aschkenasisch

Lieberman profilierte „Unser Haus Israel” im Wahlkampf als rechts-säkulare Partei und stellte klar, weder einer Regierung mit arabischen und linken Parteien, noch einer Regierung mit orthodoxen Parteien beizutreten. Schas unter dem Vorsitz von Arye Deri trat als Vertreterin der sephardischen Orthodoxen an, und der Zusammenschluss „Vereintes Tora-Judentum“ der Parteien „Degel HaTora“ und „Agudat Jisra'el“ unter dem Vorsitz von Ya‘akov Litzmann als Vertreter der aschkenasischen Orthodoxen. Die drei arabischen Parteien „Ta'al“, „Balad“, „Ra’am“ und die jüdisch-arabische kommunistische Partei „Hadash“ schlossen sich zur Vereinigten Liste zusammen. Im linken Parteienspektrum fusionierte die Arbeiterpartei mit der Partei „Gesher“ von Orly Levy-Abukasis. Die Liste wurde angeführt vom neu-alten Vorsitzenden der Arbeiterpartei, Amir Peretz. Die sozialistische „Meretz“ wurde von Staf Shafir, die von der Arbeiterpartei übergelaufen war, und dem ehemaligen Premier- und Verteidigungsminister Ehud Barak unterstützt und trat als „Demokratisches Lager“ unter dem Vorsitz von Nitzan Horowitz an.

 

„Blau-weiß“ ist die stärkste Fraktion

Das Wahl brachte keinem der politischen Lager eine Mehrheit. Netanjahus Likud bekam 32 Mandate und verlor damit 8 Mandate im Vergleich zum April, als seine Partei und Kulanu zusammen auf 39 Mandate kamen. Blau-Weiß verlor 2 Mandate auf 33 und wurde stärkste Fraktion in der Knesset.

Sieht man sich die politischen Lager an, so kommt der Block rechter und orthodoxer Parteien auf 55 Mandate (32 Likud + 9 Schas + 7 VTJ + 7 Yamina), der Mitte-links-Block dagegen auf nur 44 Mandate (33 Blau-Weiß + 6 Arbeiterpartei + 5 Demokratisches Lager). Lieberman, dessen Partei 8 Mandate erhielt, enthielt sich beim Staatspräsidenten einer Empfehlung und plädierte für eine Einheitsregierung von Likud, Blau-Weiß und „Unser Haus Israel“. Der Vorsitzende der „Vereinigten Liste“, Ayman Odeh, gab eine Empfehlung für Gantz ab, womit sich arabische Parteien erstmals seit 1992 für einen zionistischen Politiker als Premierminister aussprachen. Mit den 13 Stimmen der „Vereinigten Liste“ wäre Gantz auf 57 Empfehlungen gekommen, doch stellte die arabisch-nationalistische Partei „Balad“ klar, dass sie den Standpunkt von Odeh nicht teilt. Ohne die 3 Stimmen, die innerhalb der „Vereinigten Liste“ auf Balad entfallen, kommt Gantz auf eine Empfehlung weniger als Netanjahu.

Religiös-rechts gegen säkular-rechts

Entsprechend entschied Staatspräsident Rivlin erneut Netanjahu mit der Regierungsbildung zu beauftragen. Dieser hatte bereits zuvor ein Abkommen mit den rechten und orthodoxen Parteien geschlossen, als untrennbare Einheit in Koalitionsverhandlungen zu gehen. Da das Kernversprechen von Blau-Weiß die Ablösung Netanjahus ist, und 90 % ihrer Wähler gegen eine Beteiligung von Orthodoxen an der Regierung sind, schließt sich für Gantz eine breite Einheitskoalition unter dem Vorsitz von Netanjahu völlig aus. Auf der anderen Seite fehlen dem amtierenden Premierminister die Stimmen von Lieberman für einen Regierung rechter und orthodoxer Parteien. Da sich aber an den unvereinbaren Standpunkten hinsichtlich des Wehrpflichtgesetzes nichts geändert hat, ist dies eine Zwickmühle.

Netanjahu stellt sich die Unmöglichkeit, eine Koalition mit einer Mehrheit von mindestens 61 Sitzen zu bilden vor dem Hintergrund einer drohenden Anklage in drei Korruptionsfällen, der er sich durch eine gesetzlich Änderung der Regelungen zur Immunität eventuell hätte entziehen können.

 

Zwickmühlen und Sackgassen

Ob überhaupt irgendeine Koalition zustandekommt, ist höchst zweifelhaft. Die Arbeiterpartei, die dem Block von Netanjahu zu Mehrheit verhelfen könnte, hat eine entsprechende Offerte abgelehnt. Gibt Netanjahu das Mandat zur Regierungsbildung an Staatspräsident Rivlin zurück, wird dieser wahrscheinlich Benny Gantz die Möglichkeit geben, eine mehrheitsfähige Koalition zu bilden. Seine Voraussetzungen dafür sind äußerst ungünstig. So haben Blau-Weiß und die arabischen Parteien ausgeschlossen miteinander zu koalieren. Als einzige Möglichkeit bleibt damit eine Einheitsregierung aus Blau-Weiß und Likud (optional mit „Unser Haus Israel“ und/oder der Arbeiterpartei) ohne Netanjahu. Dessen Absetzung als Vorsitzender ist im Likud, der seit seinem Bestehen überhaupt erst vier Parteivorsitzende hatte, derzeit ziemlich unwahrscheinlich. Nach der Anhörung Netanjahus beim Generalstaatsanwalt Mandelblit nach dem jüdischen Neujahrsfest könnte sich das Bild etwas lichten, aber zur Zeit sieht es so aus, als sei jeder Weg eine Sackgasse.

Entsprechend denken führende Köpfe im politischen Etablissement und bedeutende Kommentatoren bereits über mögliche rechtliche Schlupflöcher nach, die es Netanjahu trotz Anklageerhebung ermöglichen würden formal Premierminister zu bleiben, während Gantz die Amtsgeschäfte leitet. Am Wahrscheinlichsten aber ist zur Zeit ein Szenario, dass keiner möchte – nochmal Neuwahlen.

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