Die neue Wiederbelebung judenfeindlicher Klischees
Das Leitmedium „Spiegel“ reißt die Juden Deutschlands aus ihrer geglückten Integration und stempelt sie zu „Fremden“
Der umstrittene „Spiegel“-Artikel© Nikoline Hansen
Am 3. Januar 1966 veröffentlichte der „Spiegel“ unter der Rubrik „Zeitgeschichte“ einen Artikel zum Thema Juden unter der Überschrift „Alte Angst“. Eingangs zitiert wird aus einer Umfrage unter Gymnasiasten, die das Weltbild Hitlers in Bezug auf die jüdischen Mitbürger bestätigte. Dazu gehörten diese drei Vorstellungen:
- „In Zeiten der Arbeitslosigkeit lebten sie in Saus und Braus, während das deutsche Volk darbte.“
- „Sie beherrschten 36 Prozent der Wirtschaft.“
- „Die Juden sahen nach 1918 in Deutschland ein Paradies.“
Im Sommer 2019 widmete der Spiegel schließlich sein Heft 4/2019 der Reihe „Geschichte“ diesem Thema: „Jüdisches Leben in Deutschland“ heißt es auf dem Titelbild, das auf den ersten Blick den historischen Kontext nicht eindeutig erkennen lässt. Dafür wählten die Redakteure ein Titelbild aus, das genau die bereits 1966 erkannten Vorurteile wiederspiegelt: Zwei Männer, ein älterer stehend auf einen Stock gestützt mit einem Blick, den man als leidend, wissend oder aber auch verschlagen interpretieren kann, sieht einen jüngeren an, der eindeutig zufrieden zurücklächelt, oder auch erfreut grinst. Trotz der Beleibtheit des Jüngeren, die Wohlstand impliziert, wirken Kleidung und Stuhl abgenutzt, die Bärte und Hüte zeichnen sie aus als anders, eben nicht vollkommen angekommen in der deutschen Gesellschaft.
Dazu trägt der Titel gerade in seinem Nachsatz bei: „Jüdisches Leben in Deutschland. Die unbekannte Welt nebenan“. Das ist eindeutig ein Fehlgriff in die Mottenkiste, denn hier wird nicht auf die Geschichte, sondern die Gegenwart referiert. Der rote Hintergrund, an Feuer erinnernd, der verdeckte Magen David und die angedeuteten Korbdeckel in Form von Spinnennetzen tun ein Übriges, um die vorherrschenden Vorurteile anno 2019 angemessen zu referieren und unangenehme Assoziationen an Zeichnungen aus der antisemitischen Zeitschrift „Der Stürmer“ hervorzurufen.
Zwei Juden von vor 100 Jahren
Die wohl umfassendste Reaktion auf das Titelbild – zwei „Ostjuden“, aufgenommen vermutlich im Berliner Scheunenviertel der 1920er Jahre – lieferte Oren Osterer am 31. Juli kurz nach Erscheinen des Heftes in einer Notiz auf Facebook. Seine Schlussfolgerung: „ …der Spiegel packt antijüdische Klischees am laufenden Bande aus. Es spielt keine Rolle, was in dem Heft steht (ich will es auch gar nicht mehr wissen). Die meisten Menschen gehen ohnehin an diesem Heft vorbei, und sehen nur das Titelbild. Und es vermittelt ihnen ein falsches, teils abstoßendes Bild vom Juden. Aber ein Bild, das bei den meisten die offensichtlich gewollte Wirkung erzielt. Und wer beim Vorbeigehen noch die Zeit findet, den Untertitel zu lesen, der versteht noch folgendes: Die Juden leben zwar unter uns, aber in einer fremden Welt. …Das klingt bedrohlich und das wirkt so.“
Osterer war einer der ersten, aber nicht der einzige, dem dieser Titel Unbehagen bereitete. Schließlich berichtete sogar der Deutschlandfunk – die Kritik angesichts der durch den Titel zum Ausdruck gebrachten Ausgrenzung als „Unbekannte“ war nicht zu überhören. Weitere Resonanz erfolgte allerdings nicht. Wie immer waren es vor allem Betroffene, die sich zu Wort meldeten. Auch fehlte die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Heft eines renommierten deutschen Verlags selbst, der mit seinen Produkten zu den Leitmedien der deutschen Presselandschaft zählt, und auch mit einem kurz zuvor veröffentlichten Artikel, in dem er die „Lobbyarbeit“ eines jüdischen Verbandes als unverhältnismäßig kritisierte, bereits wieder einmal ein antisemitisches Fettnäpfchen bedient hatte.
Richtig schlimm wird es dann allerdings doch, wenn man den Inhalt des Heftes betrachtet, das pseudowissenschaftlich daherkommt, nur an der Oberfläche kratzt und das Judentum tatsächlich als unbekannte Welt präsentiert. So wird für die Gegenwart ein Schwerpunkt auf jüdische Friedhöfe und den Holocaust gelegt – sieben Überlebende kommen zu Wort mit zeitnahen Porträts, die verraten, dass sie alt sind und wohl nicht mehr allzu lange leben werden. Das ist sicher richtig, denn der Holocaust stellt einen entscheidenden Einschnitt im jüdischen Leben in Deutschland dar – auch wenn er nur die Konsequenz der vorangegangenen antisemitischen Ausfälle der Mehrheitsgesellschaft darstellte. „Zeugen des Grauens“ werden sie genannt – und düster sind alle Fotos zu diesem Thema. Bravo, eine zeitgemäße Illustration der Lage des deutschen Judentums. Absicht oder Unbewusstsein? Dann werden jüdische Friedhöfe unter der Überschrift „Häuser des Lebens“ präsentiert. Sicher nicht sarkastisch gemeint, aber auch in dem Artikel mit keinem Wort erklärt, sondern als „malerische Orte“ verklärt.
Prominenz eines Unprominenten
Lichtblicke sind einzig ein Essay des Historikers Julius Schoeps, der allerdings durch den wenig passenden Titel „Das Stigma der Heimatlosigkeit“ entstellt wird, denn Schoeps geht es gerade um das deutsch-jüdische Erbe und die Sensibilität, die im Umgang mit dem Nachlass gefordert ist, sowie das Interview mit Raphael Gross, dem Direktor des Historischen Museums, wobei auch hier die Überschrift eine falsche Prämisse setzt, nämlich „Eine Geschichte der Abgrenzung“.
Ganze acht Seiten widmet das Heft zum Schluss dem in der jüdischen Gemeinschaft eher unbekannten Max Czollek, dessen Thesen durchaus als umstritten bezeichnet werden können. Hier darf er sie unter der Überschrift „Jud, bittersüß“ in unverhältnismäßiger Länge präsentieren.
Nein, im 21. Jahrhundert ist das Judentum in Deutschland keine unbekannte Welt. Die „Spiegel“-Redakteure hätten sich durchaus die Mühe machen können, sich mit Mitgliedern des Zentralrats der Juden, jüdischen Synagogengemeinden oder anderweitig bekannten Jüdinnen und Juden zu unterhalten. Das hätte ein gutes Gleichgewicht zu der Präsentation der Holocaust-Überlebenden gegeben, und vielleicht zu einem etwas positiveren Ausblick geführt. So bleibt das Heft eine Farce und trägt dazu bei, die Vorurteile in Deutschland weiter zu vertiefen und stärkt die These, dass jüdisches Leben in Deutschland in Wirklichkeit unerwünscht ist. Das ist außerordentlich bedauerlic
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