Die Entstehung des christlichen Antisemitismus
Ein Interview mit Dr. Peter Gorenflos, dem Herausgeber der deutschen Erstausgabe von Hyam Maccobys Werk „Ein Pariavolk“
Bei Jesus und sein Jüngern wurde deren jüdische Herkunft oft verschwiegen – beim Verräter Judas blieb sie klar im Namen erkennbar. (Gemälde von Giotto di Bondone)
Das Gespräch führte Ulrike Stockmann.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Herr Gorenflos, Sie haben „Ein Pariavolk. Zur Anthropologie des Antisemitismus“ des britischen Judaisten und Talmudgelehrten Hyam Maccoby (1924-2004) kürzlich erstmals auf Deutsch herausgebracht. Das englische Original erschien bereits 1996. Wie kamen Sie darauf, dieses Buch neu zu veröffentlichen und warum ausgerechnet jetzt?
Peter Gorenflos: Ende der 1990er Jahre hatte ich von Maccoby „Jesus und der jüdische Freiheitskampf“ und „Der Heilige Henker“ gelesen. Diese Bücher waren echte „Augenöffner“, man versteht plötzlich, wie das Christentum entstanden ist, wie es sich entwickelt hat, aber auch, dass Jesus gar nicht der Gründer dieser Religion ist, sondern Paulus. Maccoby ist ja im angelsächsischen Raum vor allem durch sein Theaterstück „The Disputation“ bekannt geworden, aber im überwiegend katholischen Kontinental-Europa ist er tabu. Auch die drei anderen Werke sind erst mit erheblicher Verzögerung in der Bundesrepublik erschienen und nur bei kleinen Verlagen. Für die Kirchen ist Maccoby natürlich ein Tabuthema der Extraklasse, weil er das Christentum entmythologisiert und auf seine historischen Beine stellt. Ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich bei Nora Pester bedanken, in deren Verlag (Hentrich & Hentrich) „Ein Pariavolk“ veröffentlicht wurde, und bei Wolfdietrich Müller für die ausgezeichnete Übersetzung dieses sicher nicht einfachen Textes. Geplant ist übrigens eine Antisemitismus-Trilogie mit Band 2 im Herbst und Band 3 für das Jahr 2020.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: In Ihrem Vorwort und auch im Text von Maccoby fungiert Paulus als Dreh- und Angelpunkt des christlichen Antisemitismus. Woraus speist sich diese Betrachtung?
Peter Gorenflos: Maccoby macht durch seine kritische Analyse der Evangelien klar, dass Jesus ein jüdischer Widerstandskämpfer mit messianischem Anspruch war, Anhänger der Pharisäer-Bewegung (politisch-religiöse Strömung des antiken Judentums, Anm. d. Red.), der bei seinem Kampf gegen die römische Besatzung verhaftet und gekreuzigt wurde, wie das bei den Römern üblich war, wenn jemand deren Machtanspruch in Frage stellte. Maccoby zeigt, dass Paulus, der eigentliche „Erfinder“ des Christentums, mit dem Judentum nur oberflächlich vertraut war, dass er keineswegs ein „Pharisäer der Pharisäer“ war, wie er selbst von sich behauptete. Er kam aus Tarsus in Kleinasien, das keine Hochburg des Pharisäertums war. Dort standen die Mysterienkulte im religiösen Mittelpunkt und genau in diesem Sinne deutet Paulus das Leben und Sterben von Jesus um. Bei ihm wird Jesus zu einem geopferten Gott, wie Attis, Adonis, Osiris u.v.a., der für die Gläubigen einen stellvertretenden Sühnetod stirbt und ihre Unsterblichkeit bewirkt.
Er wird entpolitisiert, hellenisiert, wenn man so mag. Maccoby macht auch auf die zahlreichen Widersprüche im Neuen Testament aufmerksam. Weshalb lehrt und predigt Jesus überhaupt, wenn der Sinn seines Lebens der Sühnetod am Kreuz ist? Weshalb brüstet sich Paulus damit, ein Pharisäer zu sein, womit er sich ja Autorität und Ansehen verleihen will, wenn er deren Bewegung gleichzeitig als legalistisch und heuchlerisch verleumdet? Diese und viele andere Widersprüche sind der Schlüssel zum Verständnis des Neuen Testaments. Paulus macht zum ersten Mal „die Juden“ verantwortlich für den Tod Jesu, obwohl das historisch natürlich die Römer waren. Damit setzte er den Auftakt zum christlichen Antisemitismus. Aber wirklich virulent wurde der christliche Antisemitismus erst mit den Evangelien, die nach der Zerstörung des Tempels entstanden (70 n. Chr., Anm. d. Red.), während die Paulusbriefe vor diesem einschneidenden Ereignis geschrieben wurden. Das paulinische Christentum hat dieses Ereignis als Bestrafung der Juden interpretiert, die Jesus nicht als Messias anerkennen wollten.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Wodurch zeichnet sich der christliche Antisemitismus aus?
Peter Gorenflos: Der Antisemitismus steckt im Grunde in der christlichen – und etwas weniger zentral in der muslimischen – DNS. Christentum und Islam leiten sich vom Judentum ab und wollen es ersetzen, sind laut Maccoby Usurpationsmythen, die auf Grund ihrer Genese dem Judentum verächtlich bis hasserfüllt gegenüberstehen. Ein Usurpationsmythos ist die Inanspruchnahme der Erzählung einer anderen religiösen Gruppe für eigene Zwecke, bei welcher die Anhänger der usurpierenden Religion die Stellung der usurpierten Religion übernehmen und deren Mitglieder auf einen niederen Status herabstufen. Der christliche Usurpationsmythos ist deswegen so tiefgreifend, weil dessen Gründer Paulus, im Gegensatz zu Mohammed, die gesamte Hebräische Bibel für seinen neuen Bund mit Gott in Anspruch nahm, zur Propädeutik (Vorbildung, Anm. d. Red.) seiner neuen Religion herabstufte und die Juden – als kollektive Prügelknaben – auf das Prokrustes-Bett von Gottesmördern zwang, die das entsetzliche, aber für die Erlösung der Christen notwendige Opfer vollbrachten.
Im christlichen Mittelalter wurde der Mythos vom jüdischen Übel für die jüdische Bevölkerung zur prekären sozialen Realität. Aber auch nach der Französischen Revolution verblieb das Stigma wie ein Instinkt, ein Reflex in den Köpfen und bekam mit der Rassenlehre einen pseudowissenschaftlichen Anstrich. Der von den Kirchen konstruierte Grabenbruch zwischen mittelalterlichem und modernem Antisemitismus ist nur eine Apologie. Will man Judenhass dauerhaft überwinden, dann muss man sich der historischen Rolle des Christentums stellen. Maccoby verweist darauf, dass das Christentum glücklicherweise kein Naturphänomen ist, wie ein Gewitter, sondern ein gesellschaftliches Konstrukt. In „Antisemitism and Modernity“ empfiehlt er eine Art von Psychoanalyse, bei welcher die unbewussten Wurzeln in Mythos, Folklore und Kunst offengelegt werden und dadurch ein rationales Verständnis der langen Geschichte des Judenhasses möglich gemacht wird. Das gilt zumindest für die westliche und muslimische Welt, denn in Hindu-Indien, China oder Japan hat sich aus genannten Gründen Antisemitismus nie entwickelt oder – wenn importiert – nie gehalten. Maccobys Blick über den „monotheistischen Tellerrand“ hinaus, ist sehr aufschlussreich für das Verständnis des Antisemitismus.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: In der heutigen Zeit werden vor allem von öffentlicher Seite die Juden gern in Verbindung mit anderen Minderheiten gebracht, die angeblich einer ähnlichen Verfolgung ausgesetzt seien. Hyam Maccoby erklärt jedoch, dass nicht einmal die Unberührbaren im indischen Kasten-System einen ähnlichen Pariastatus wie die Juden innehätten. Woran macht er das fest?
Peter Gorenflos: Der entscheidende Unterschied beim Vergleich der jüdischen Bevölkerung im Christentum mit den Unberührbaren Indiens ist deren Selbstverständnis. Die Unberührbaren waren fester Teil des Kastensystems und hatten sich in der Regel mit dem niederen Status abgefunden. Sie wurden in Ruhe gelassen, wenn sie sich an die religiösen Spielregeln hielten. Man träumte vom individuellen Aufstieg im Kastensystem durch Reinkarnation. Die Juden sind von ihrem religiösen Selbstverständnis her das Gegenteil, ein Priestervolk, das die anderen Nationen durch ihr Vorbild aus deren Knechtschaft herausführt. Die Charta des Judentums, wie Malinowski das nannte, ist die eines erfolgreichen Sklavenaufstandes, der Auszug aus Ägypten. Das Elend der Juden im Mittelalter war von außen aufoktroyiert, sie waren subjektiv eher Brahmanen – um bei dem Vergleich zu bleiben – die durch miserable Umstände, mit Gewalt und zeitlich beschränkt zu Parias degradiert wurden. Wann immer sie die Gelegenheit zum Aufstieg hatten, haben sie diese auch genutzt. Ihr Traum war eher von kollektiver Natur, denn die Thora ist ja auch eine Art früher Gesellschaftsvertrag, was der Aufklärer Rousseau, der ihnen mit Hochachtung begegnete, sofort begriff. Der Unterschied zu anderen Pariagruppen besteht vor allem darin, dass die dämonischen Züge fehlen, welche Christen in geradezu paranoider Weise den Juden unterstellten. Für Paulus, v. a. für die Evangelisten, später für die Kirchenväter, waren Juden die Mörder Christi, Opfervollbringer im Sinne der Mysterienreligionen, den eigentlichen religiösen Wurzeln des Christentums. Diese Opferung, war (und ist!) für die subjektive Erlösung der Christen zwingend erforderlich. Die damit verbundenen Schuldgefühle – man will den Tod des göttlichen Meisters selbst – werden auf „die Juden“ abgeladen. Sie werden zu den kollektiven Prügelknaben. Der christliche Usurpationsmythos ist, anders als der gnostische oder muslimische, vom Typ „Heiliger Henker“, eine fatale, hochexplosive Mischung, die am Anfang einer Entwicklung steht, die im Holocaust kulminierte.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Maccoby bezieht sich in seinen Analysen auch auf die Theorien des bekannten Soziologen Max Weber (1864-1920). Dieser empfindet die Juden als eine Pariakaste, die ihren marginalisierten Status durch ihre separatistische Religion pflegen würde. Maccoby lehnt diesen Standpunkt entschieden ab und hält dagegen, dass die Juden sich niemals freiwillig der Ausgrenzung ausgesetzt hätten. Wie kommt es zu derart entgegengesetzten Standpunkten unter Gelehrten, selbst wenn man berücksichtigt, dass Weber und Maccoby einen Altersunterschied von rund 60 Jahren aufweisen?
Peter Gorenflos: Im „Pariavolk“ widmet Hyam Maccoby Max Weber ein ganzes Kapitel und widerlegt ihn eigentlich in jeder Hinsicht. Er zeigt, wie universalistisch das Judentum in Wirklichkeit ist, dass der Vorwurf des Separatismus eher auf das Christentum zutrifft. Auch die Idee vom „Ressentiment“ der Juden durch deren historische Niederlagen wird detailliert widerlegt, denn wann immer der äußere Druck nachließ, nahmen sie begeistert am gesellschaftlichen Leben teil. Gerade dann, wenn sie Webers Idee vom Separatismus und der Rachsucht widerlegen, nach der Französischen Revolution, kippt die gesellschaftliche Stimmung in eine ganz andere Richtung. Jetzt gewinnt der Neid der christlichen Mehrheitsgesellschaft die Oberhand, die Angst vor einer feindlichen Übernahme und der mittelalterliche Antisemitismus bekommt sein „modernes“, rassentheoretisches Gewand. Nach Maccoby gibt Webers Porträt der Juden nur die jahrhundertealte christliche antijüdische Polemik wieder, maskiert in Soziologie. Weber hält auch an der Theorie fest, dass Juden mit zweierlei Maß messen, was – jedenfalls in dieser Form – völlig unhaltbar ist.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Wie betrachtet Maccoby eigentlich den muslimischen Antisemitismus?
Peter Gorenflos: In Band 2 der Trilogie, „Der Antisemitismus und die Moderne“, widmet Maccoby diesem Thema ein ganzes Kapitel. Zunächst einmal muss man festhalten, dass der muslimische Antisemitismus bis zur Gründung des Staates Israel weit weniger bösartig war als der christliche. Deshalb haben auch viele Juden aus dem mittelalterlichen Europa Zuflucht in muslimischen Ländern gesucht, sind zum Beispiel nach 1492 aus Spanien ins Osmanische Reich geflohen. Das hängt mit dem speziellen muslimischen Usurpationsmythos zusammen. Man deutet die Akedah um, und betrachtet Ismaël statt Isaak als das Opfer, das der Gott zunächst gefordert und dann verhindert hat. Ismaël wurde so nach muslimischer Lesart zum Stammvater der Araber. Mohammed ist kein göttlicher Gründer des Islam und sein Tod wurde nie jüdischen Machenschaften zugeschrieben. Im Islam waren die Juden eine erfolglose, besiegte religiöse Gruppierung, die man eher verachtete als hasste.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Wie sieht es in Asien mit dem Antisemitismus aus?
Peter Gorenflos: Maccoby zeigt uns, wie die Juden im südindischen Kochi jahrhundertelang in wirklicher Freundschaft mit ihren Hindu-Nachbarn lebten und sich der Gunst der Rajas erfreuten. Sie dienten auch im Militär, wo sie am Sabbat von Kampfeinsätzen ausgenommen wurden. Bei allen wichtigen Anlässen wurden jüdische Vertreter zur Teilnahme eingeladen. Ihre Speisevorschriften wurden respektiert. Erst als 1502 die katholischen Portugiesen kamen, begann das Desaster, Synagogen und heilige Bücher wurden verbrannt und es war nur dem Eingreifen und dem Schutz der Rajas zu verdanken, dass sie vor der totalen Katastrophe bewahrt wurden. Das endete erst mit der Ankunft der Holländer 1663, die zwar auch christlich-protestantisch waren, aber zu diesem Zeitpunkt vor allem Repräsentanten der weltlichen Bewegung der Tolerierung waren, die auf die Emanzipation der Juden in Europa hinarbeitete.
In Japan wurde Antisemitismus aus Deutschland importiert durch das Bündnis mit Hitler und Mussolini. So richtig Fuß gefasst hat er dort aber nicht. Es war im Grunde das Konstrukt einer angeblich angestrebten jüdischen Weltherrschaft, das Eindruck in der Bevölkerung machte, weil man in Wahrheit selbst imperialistische Absichten hatte und Südostasien unter seine Kontrolle bringen wollte. Antisemitismus bestand dort, sehr moderat, in Form erfolgreicher Unterhaltungsliteratur fort, welche die Machenschaften einer weltweiten jüdischen Verschwörung verbreitete. Und in China gab es durch die Kooperation mit der Sowjetunion einen Antisemitismus, der sich als „zionistischer Imperialismus“ maskierte. Da er dort aber keine wirklichen Wurzeln hat, wurde er eine Leerformel, wie Maccoby erkennt, und wird die weitere politische Entwicklung wahrscheinlich nicht überleben.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Was erhoffen Sie sich als Herausgeber und Maccoby-Experte von der Veröffentlichung?
Peter Gorenflos: Das Buch ist ja erst seit Mai auf dem Markt und ich bin selbst gespannt auf die Resonanz. Von den anderen bisher erschienen Maccoby-Büchern ist mir bekannt, dass sie nie die öffentliche Aufmerksamkeit bekamen, die sie eigentlich verdienen. Eine Aufführung seines Stückes „Die Disputation“ in der Bundesrepublik wäre übrigens ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, ein Kontrapunkt zu den Oberammergauer Passionsspielen, die nächstes Jahr wieder stattfinden. Welche Rolle Passionsspiele in der historischen Entwicklung des Antisemitismus spielen, beleuchtet Maccoby im für 2020 geplanten Band 3 der Trilogie, „Judas Ischariot und der Mythos vom Jüdischen Übel“.
JÜDISCHE RUNDSCHAU: Herr Gorenflos, Danke für das Gespräch.
„Ein Pariavolk. Zur Anthropologie des Antisemitismus“ von Hyam Maccoby, herausgegeben von Peter Gorenflos, 2019, Hentrich & Hentrich: Berlin, Leipzig
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