Von Abraham bis Bob Dylan
Ideen für eine bessere Welt – wie 222 Juden die Menschheit veränderten
Bob Dylan© AFP
Kennen Sie, liebe Leserrinnen und Leser, Paul Zoll? Vermutlich nur wenige unter Ihnen haben schon einmal seinen Namen gehört. Und doch kennen Sie alle seine beiden bahnbrechenden elektronischen Impulsgeneratoren, die schon manches Leben gerettet haben – den Herzschrittmacher und den Defibrillator. Paul Zoll ist deren Erfinder, und das kam so: Während seines Medizin-Studiums in Harvard starb Zolls Mutter Mollie an Herzversagen. Der Sohn bestand darauf, dass die Mutter exhumiert wurde, denn er wollte die Todesursache genau untersuchen, stieß jedoch auf Vorbehalte des Vaters, der auf das jüdische Verbot der Exhumierung verwies. Das führte bei Paul Zoll dazu, dass er sich vom jüdischen Glauben abwandte.
Während des Zweiten Weltkrieges, in dem er als US-Armeearzt tätig war, arbeitete er an der Entfernung von Geschossen und Bombensplittern bei Verwundeten. Er stellte fest, dass minimale Reizungen im Herzen, des Sinus-Knotens, zu einem Zusammenziehen des Herzens führten. Das gab ihm den Anstoß zur Entwicklung eines Herzschrittmachers: Eine elektrische Stimulation des Sinus-Knotens mit einem gesunden Rhythmus ersetzt eine krankhafte Herzrhythmusstörung! Das war im Jahre 1952. Aus diesem seinen Herzschrittmacher entwickelte Paul Zoll später den Herz-Defibrillator. Paul Zoll starb 1999 mit 88 Jahren.
Biografien aus 3000 Jahren
Dieses Beispiel ist eines von vielen, die der deutsch-chilenisch-jüdische Physiker und Publizist, der lange Zeit am Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie in Dortmund arbeitende Mario Markus, Sohn deutsch-jüdischer Emigranten, erforscht hat. Markus hat Biografien von 222 jüdischen Persönlichkeiten zusammengetragen und in einer gut lesbaren und höchst informativen Anthologie veröffentlicht. „Ein Kaleidoskop für Einsichten in 3000 Jahre Geschichte wie ein zusammenfassender Überblick über Leiden und Leistungen des Judentums“, schreibt Georg Ruppelt, ehemaliger Direktor der Hannoveraner Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Bibliothek in seinem Vorwort. Es ist sowohl ein Spezial-Lexikon wie eine Sammlung oft spannender, schnörkellos geschriebener, gelegentlich mit trockenem Humor gewürzten Viten.
Vor dem Leser entfaltet sich ein Panorama jüdischen Geistes, das beispiellos dasteht, beginnend mit Stammvater Abraham, endend mit den Songwritern Bob Dylan und Leonard Cohen. Die einzelnen Biografien sprudeln nur so von Esprit, Entdeckungslust, Erfindungsreichtum, Eigenschaften, die jenseits von Verfolgungsschicksalen kulturelle Blüten trieben. Unter den Apostrophierten auch die Namen der vier wohl größten Geister, die die Welt hervorgebracht hat in Religion, politischer Ökonomie, Psychologie und Physik – Jesus, Karl Marx, Sigmund Freud und Albert Einstein. Deren Genius hat die Welt mit all ihren Menschen von Grund auf verändert, ihre großartige Kreativität und Tatkraft hat unsere heutige Realität in vielen Lebensbereichen maßgeblich geprägt und die Welt auch ein Stück besser gemacht.
Trotz der schweren Belastungen und grauenhaften Erfahrungen, die Juden in allen Teilen der Welt erfuhren, hat es immer auch Phasen fruchtbaren Miteinanders gegeben, die eine Vielzahl produktiver Leistungen in Sprache und Literatur, in Kunst und Philosophie, in den natur- und Gesellschaftswissenschaften, in Wirtschaft und Politik von Weltgeltung hervorgebracht haben. Jüdische Weltkultur lässt sich gerechterweise nur würdigen, wenn sie nicht aus der Perspektive der späteren Gräuel, sondern in ihrem historischen und kulturpolitischen Zusammenhang betrachtet wird.
Das, was von Jüdinnen und Juden an großen Leistungen zum allgemeinen Kulturgut beigetragen haben, ist unbestritten. Schriftsteller wie Heinrich Heine oder Franz Kafka im Westen wie Jitzchok Leib Perez, Scholem Alejchem oder Isaak Bashevis Singer im Osten; Künstler wie Max Liebermann oder Marc Chagall und El Lissitzky; Regisseure wie Ernst Lubitsch, William Wyler, Billy Wilder, Stanley Kubrick, Woody Allen oder Steven Spielberg; Schauspieler wie Mel Brooks, Dustin Hoffman, Paul Newman; auch die Naturwissenschaftler, Physiker, Chemiker, Mediziner, wie immer sie hießen, all diese besaßen Weltgeltung. Gerade Deutschland, das im frühen 20. Jahrhundert als die international führende Wissenschaftsnation galt, hat hiervon besonders profitiert. Ähnliches gilt auch für die USA, in der sich der größte Emigrationsstrom jüdischer Geistesgrößen ergoss.
Der Erfinder des Teddybärs
Eine Geschichte sollte dem Leser nicht vorenthalten bleiben. Die Geschichte von Rose und Morris Michtom, die „Erfinder“ des Teddybärs. Es ist dies eine Geschichte, die ebenso simpel wie genial ist: US-Präsident Theodore („Teddy“) Roosevelt, ein passionierter Jäger, wurde im Jahre 1902 einmal zu einer Bärenjagd in Mississippi eingeladen. Jagdhelfer spürten einen Jungbären auf, den der Präsident erlegen sollte. Doch diesem kamen Skrupel, weil er es „unsportlich“ fand, einen jungen, hilflosen Bären zu erschießen, der obendrein noch angebunden war. Die Presse kommentierte das präsidiale Verhalten durchweg als positiv. Rose Michtom kam daraufhin die Idee, einen mit Holzwolle ausgestopften Stoffbären zu basteln, ihn in das Schaufenster ihres Ladens zu stellen und darunter zu schreiben: „Teddys Bär“. Sofort fanden sich zahlreiche Interessenten. Doch Rose Michtom hatte Bedenken, dass der Präsident sich beleidigt fühlen könnte, wenn er von seiner unfreiwilligen Namenspatenschaft erführe. Daraufhin schickte sie ihren Stoffbären als Geschenk für die Kinder des Präsidenten nach Washington und bat Roosevelt, weitere Exemplare mit dem Namen „Teddys Bär“ verkaufen zu dürfen. Der Präsident erlaubte es mit dem Kommentar, dass sein Name dem Verkauf wohl nicht viel helfen würde. Roosevelt sollte sich irren, denn der nach ihm benannte „Teddybär“ ist eine der vielen traumhaften Erfolgsgeschichten jüdischer Immigranten, die es zu erzählen gibt. Roosevelt gewann nicht nur die nächste Wahl, sondern der Teddybär wurde für die Republikanische Partei zu einer Art Maskottchen. Die Michtoms gründeten eine Firma, Ideal Toy Company, für die Herstellung und Vertrieb des Teddybären. Psychologen in den USA empfehlen Krankenhäusern oder Feuerlöschtruppen, gerade dieses Stofftier bereitzuhalten, um Kinder in kritischen Situationen zu beruhigen.
Von Maimonides bis Citroën
All die 222 Namen, bekannte und weniger bekannte, aufzuzählen, würde diese Besprechung sprengen. Dennoch seien kursorisch einige genannt, denen Markus ein Portrait widmet: Maimodines, der sich an der Versöhnung der aristotelischen Logik mit der Bibel versuchte; Moses Mendelssohn und David Friedländer, die Repräsentanten der jüdischen Aufklärung; Haym Salomon, der Finanzier der amerikanischen Unabhängigkeit; Benjamin Disraeli, der „Vater“ des British Empire; Jacques Offenbach, der „kölsche Jung“ und „Vater“ der Operette; Levi Strauss und Jacob Davis, die Erfinder der Jeans; Moritz von Jacobi, der den ersten Elektromotor konstruierte; Louis Brandeis, der Pionier des Datenschutzes; Magnus Hirschfeld, der Wegbereiter der Schwulen- und Lesbenbewegung; Rosa Luxemburg, Anti-Kriegs-Märtyrerin und Israels unwillige Tochter; André Citroën, Schöpfer des gleichnamigen Kultautos „Ente“; Al Jonson, der weiße und schwarze Sänger erstmals auf der Bühne zusammen führte; George und Ira Gershwin, Leonard Bernstein und Kurt Weill, ihre Klassik wurde massentauglich; Raphael Lemkin, der es durchsetzte, dass Völkermord international geahndet wird; Paul Ehrlich, der Begründer der Chemotherapie; Karl Landauer, der Entdecker der Blutgruppen; Mitchell Feigenbaum, der Pionier der Chaosforschung, Carl Djerassi und Gregory Pincus, die „Väter“ der Pille; Peter Benenson, der Gründer von „Amnesty International“. Und all die anderen kreativen Köpfe aus der Heerschar des Moses.
Als Leser fragt man sich, warum als erster Abraham aufgenommen, Mosche (Moses) jedoch nicht. 222 jüdische Geistesgrößen, das ist eine beeindruckende Zahl, Persönlichkeiten, die es allesamt verdienen, in der Liste erwähnt zu werden, eine Liste, die gewiss subjektiven Kriterien des Herausgebers folgt. Dennoch bleibt die beckmesserische Frage: Warum nicht auch Walther Rathenau, Franz Oppenheimer, Philip Roth, Norman Mailer, Martin Buber, Karl Kraus, Lion Feuchtwanger oder Boris Pasternak? Auch brillante Politiker wurden (noch) nicht berücksichtigt, darunter Chaim Weizmann und David Ben Gurion, die am Beginn des Staates Israel stehen.
Der nächste Band ist schon in Planung
Auch diese dürfen als „Weltveränderer“ gelten, denn auch sie haben die Welt verändert, Weichen für eine neue Methode, Stilrichtung oder Gedankenwelt gestellt. Diese, die nicht den Eingang in die zusammengestellte Anthologie gefunden haben, will Markus in einem Nachfolgeband würdigen, auf den man gespannt sein darf.
Die negative Beziehung vieler Nichtjuden zu Juden war in den meisten Fällen mit Respekt für die Tüchtigkeit und die Erfolge der Juden verbunden. Dazu kam eine bewusste oder unbewusste Angst vor ihrer vielseitigen Begabung. Auf jüdischer Seite bestand trotz der oft übertriebenen Intensität des Willens, sich völlig anzupassen, selbst bei den ideologisch überzeugten Assimilanten der Wunsch, die jüdische Komponente nicht ganz aufzugeben.
Gemeinsam war den meisten jüdischen Wissenschaftlern, Künstlern und Schriftstellern, dass sie allen Kränkungen, Zurücksetzungen und Gefährdungen zum Trotz, stolz darauf waren, Juden und Angehörige des Staates zu sein, in dem sie lebten, und es gar nicht für notwendig hielten, sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden.
Juden sind nicht nur Opfer
Markus versteht sein Buch als Leitfaden einer Darstellung von jüdischer „Integration und Leistung“ und möchte die Tatsache aufzeigen, dass Juden „substanziell“ und mit „atemberaubendem Erfolg“ an der Gestaltung unserer Zivilisation in der ganzen Welt mitgewirkt haben.
Markus will mit seinem Buch außerdem der verbreiteten Darstellung entgegenwirken, die die Juden vor allem als Opfer beschreiben. Für ihn sind Juden Angehörige eines stolzen, kooperativen Volkes. Deshalb will er dazu beitragen, dass im kollektiven Bewusstsein eine Tatsache verankert wird, die Tatsache nämlich, dass Juden zur Verbesserung der Welt beigetragen haben – Tikkun Olam. Und von den Leserinnen und Lesern wünscht er sich, dass diese auf die jüdischen Beiträge „mit Staunen und Hochachtung“ regieren.
Der Kugelschreiber
Laut Statistik besitzt jeder Deutsche durchschnittlich 13 funktionierende Kugelschreiber. Es ist schwer zu glauben, dass der erste Kugelschreiber, 1938 erstmals hergestellt, für 40 US-Dollar (entspricht der heutigen Kaufkraft 600 US-Dollar) verkauft wurde. Und wer hat ihn erfunden? Der 1899 in Budapest geborene Láslo Bíró. Beim Betrachten von Rotationswalzen – für ihn als Redakteur einer Kunstzeitschrift nicht ungewöhnlich - kam ihm die zündende Idee: Man müsse doch Schreibgeräte herstellen können, bei denen die Tinte, wie auf der Druckwalze, sofort trocknet, und nicht schmiert. Bíró baute eine Röhre mit einer sich drehenden Kugel am Ende, so dass die Tinte in der Röhre nicht austrocknete, aber auf dem Papier sofort trocknete. Es dauerte, bis die Röhre mit der Kugel und der richtigen Tinte endlich funktionierte und in die Massenproduktion gehen konnte. Das war im Jahr 1943 der Fall und Bíró lebte immer noch im antisemitisch ausgerichteten Ungarn, einem engen Verbündeten Nazi-Deutschlands. Bíró floh nach Argentinien. Der Kugelschreiber trat seinen Siegeszug rund um den Globus an. Die Deutschen konnten sich allerdings nur schwer von ihren Füllfederhaltern, mit Tinte und Löschpapier trennen. Erst die amerikanischen GIs brachten neben Kaugummi auch Kugelschreiber nach Deutschland. Übrigens: Das Wort „Kuli“ bezeichnete ursprünglich keinen Kugelschreiber, sondern den Füllhalter „Tintenkuli“ aus den 1930er Jahren mit einer röhrenförmigen Feder. Das Kugel-Prinzip verhalf Bíró zu einer weiteren Erfindung, die zu unserem Alltag gehört – der Deo-Roller.
Láslo Bíró starb 1985 in Buenos Aires im Alter von 86 Jahren. In einigen Ländern werden die Kugelschreiber nach ihm benannt: Biro in Großbritannien, Irland, Australien und Italien, Biron in Frankreich und Birome in Argentinien.
Libeskind und sein Jüdisches Museum
In seinem Nachwort erwähnt Mario Markus, dass er nach Beendigung seines Buches nach Berlin, die Herkunftsstadt seiner Familie, gefahren sei, das dortige Jüdische Museum besucht und sich danach geschämt habe, dass er dessen Erbauer, Daniel Libeskind, in seinem Buch nicht berücksichtigt hatte. Libeskind sei schließlich der Pionier der dekonstruktivistischen Architektur. Das Jüdische Museum in Berlin wird weltweit als Paradebeispiel dieses Architekturstils angesehen. Markus versucht sich an einer Erklärung, dass es sich in seinem Buch de facto um 223 Juden handelt, nämlich durch das Leitmotiv von Libeskind selbst, und ist ein wenig kompliziert: 222 ist eine Zahl mit symmetrischer Anordnung von Ziffern, teilbar durch 2 und durch 3 sowie darstellbar als Quotient der mystischen Zahlen 666 und 3. Die Zahl 223 dagegen hat eine unsymmetrische Ziffernfolge und ist eine Primzahl, also nur durch sich selbst und durch 1 teilbar. Daraus folgert Markus: „Ich verlasse also eine wohlstrukturierte Zahl und gehe über zu einer Zahl, die mit arithmetischer Bedeutung sowie mit der Symmetrie bricht und fühle mich damit in Libeskinds Gebäuden zuhause“.
Mario Markus: 222 Juden verändern die Welt, Georg Olms Verlag, Hildesheim/Zürich/New York 2019, 436 S., 29,80 Euro.
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