Jerusalem ist für den Islam unwichtig

Unter islamischer Herrschaft war Jerusalem nicht mal eine Regionalhauptstadt

Der französisch-jüdische Historiker Georges Bensoussan© Claude_Truong-Ngoc

Von Georges Bensoussan

Die Stellung von Jerusalem im Islam (und folglich im Konflikt, der Israelis und Araber einander entgegensetzt) nährt einen endlosen Streit. Bernard Lewis erinnerte daran, dass die „Heiligkeit Jerusalems“ für die muslimischen Theologen einst als „judaisierender Irrtum“ galt. Der israelische Jurist und Historiker Eliezer Cherki, Experte für muslimisches Recht in seinem Land, erklärt, dass der Name der Stadt in keinem der 6.219 Verse des Korans auftaucht. Der Text des Korans erwähnt die Stadt nur, um sie abzuweisen, da sie weder das Zentrum der Welt noch der Ort ist, nach dem man sich zum Gebet (Qibla) wenden muss. Die arabische Vorstellungswelt und im weiteren Sinne die Vorstellungswelt des Islams wurden nach der Geometrie Arabiens geformt, während die biblische Geografie dem Koran fremd bleibt. Jerusalem, Hebron, Bethlehem, die Berge von Judäa und die Hügel Samariens sind dort unbekannt. „All das“, bemerkt Eliezer Cherki, „besagt nichts, klingt weder in den Ohren noch im Herzen Mohammeds und der arabischen Beduinenstämme.“

Gemeinsam mit anderen Islamexperten erinnert Cherki an die Verwurzelung Mohammeds im Arabien seiner Zeit, und präzisiert, dass die Deutungen mit Bezug auf die Reise des Propheten nach Jerusalem (die Episode, die als Al Buraq bezeichnet wird) später hinzugefügt wurden und dass die ersten Vermittler der Tradition Jerusalem nicht erwähnen. In Mekka, der Hochburg der Offenbarung des Korans, vernahm Mohammed zum ersten Mal, wie der Engel Gabriel sich an ihn wandte. Nach seiner Ankunft in Medina im Jahr 622 und dann während der folgenden 17 Monate wandten sich Mohammed und die erste muslimische Gemeinde nach Jerusalem, um zu beten. Bis durch „göttlichen Erlass“ (um Cherkis Formulierung zu übernehmen) die Änderung der Ausrichtung der Qibla nach Mekka verfügt wurde.

Die Experten für die muslimische Welt, ob sie Muslime sind oder nicht, stimmen in dem Zugeständnis überein, dass Jerusalem im Islam keinen heiligen Charakter besitzt und in den Augen der Muslime nur solange eine Herausforderung darstellt, wie die Stadt von den „Ungläubigen“ kontrolliert wird. Aber sobald die muslimische Souveränität wiederhergestellt ist, fällt Jerusalem ihrer Ansicht nach wieder dem Vergessen anheim. Die arabischen Eroberer, bemerken sie, beeilen sich nicht, die Stadt zu besetzen (sie fällt schließlich im Jahr 636), und nachdem sie einmal in ihrem Besitz ist, machen sie aus ihr nicht ihre Hauptstadt (die sie in Damaskus gründen), und nicht einmal eine Regionalhauptstadt, weil sie zu diesem Zweck die Stadt Ramla erbauen, die nicht weit von Jerusalem entfernt liegt. Keine der muslimischen Dynastien, die über die Stadt regierten, verstieß je gegen diese Regel. Weder die Umayyaden noch die Abbassiden noch die Ayyubiden noch die Mameluken noch die Osmanen. In der arabisch-muslimischen Vorstellungswelt erscheint die Stadt als zentral, sobald sie der Autorität des Islam entzogen ist wie im 12. Jahrhundert bei den Kreuzzügen. Und wie es seit 1948 der Fall ist.

 

Die Verneinung der Präsenz der Juden

Sari Nusseibeh, „palästinensischer“ Intellektueller (Christ), Absolvent von Harvard und Oxford in Philosophie und eine Zeit lang Rektor der Universität von Jerusalem Al Qods, war lange für die Stadtakten bei der PLO zuständig. Im Jahr 2009, während einer internationalen Forscherkonferenz über die Geschichte des Tempelbergs an der École Biblique von Jerusalem, räumt Sari Nusseibeh eine religiöse und historische Verbindung zwischen den Juden und dem Tempelberg ein, da der Tempel, der durch Kaiser Titus im Jahr 70 unserer Zeitrechnung zerstört wurde, auf der sogenannten Esplanade der Moscheen lag.

Im selben Jahr behauptet er in einer Jerusalem gewidmeten Enzyklopädie die zentrale Stellung der Stadt in der jüdischen Tradition und die einstige Existenz des Tempels auf dem Berg Moriah. Die jüdische Legitimität wird auf der religiösen Ebene gerechtfertigt, erklärt er: „Gott hat die Erde von Kanaan geheiligt, und er hat sie seinen Kindern Israels zugedacht. Der legendäre Tempel Jerusalems ist wahrscheinlich der Ort, an dem Gott gegenwärtig war, die Schechina, und dort haben die großen Priester Gott gedient.“ Diese Sätze rufen in der arabisch-muslimischen Welt zwar Protest hervor, aber Sari Nusseibeh lehnt es ab, seine Aussagen zurückzunehmen und diesen Text abzuändern, wie man es von ihm verlangt. Die Polemik offenbart die strittigen Punkte um die Ernennung eines Ortes, an dem der Tempelberg hinter der Esplanade der Moscheen mit dem Ziel verschwand, jegliche jüdische Rechtmäßigkeit auf diesem Gelände auszulöschen.

Am 25. Oktober 2015 erklärt der Großmufti von Jerusalem, Scheich Muhammad Ahmad Hussein, im israelischen Fernsehen, dass die Al-Aqsa-Moschee an einem Ort gebaut wurde, der „vor 3.000 und vor 30.000 Jahren [existierte]. [...] Und seit der Schöpfung der Welt.“ Um zu folgern, dass es an diesem Ort offensichtlich nie einen jüdischen Tempel gegeben hatte.

Die Verneinung der Präsenz der Juden in Jerusalem wird von der Sache Palästinas instrumentalisiert, als im April 2016 der Vorstand der UNESCO, der sich zu seiner 199. Sitzung in Paris versammelte, eine Resolution annimmt, die von der „palästinensischen“ Behörde vorgeschlagen wurde und derzufolge es keine Beziehung religiöser Natur zwischen dem jüdischen Volk, dem Tempelberg und der westlichen Mauer (die im Westen Klagemauer genannt wird) gibt. Einige Monate zuvor, am 21. Oktober 2015, hatte die UNESCO die Patriarchengruft (Hebron) und Rachels Grab (bei Bethlehem), zwei der heiligsten Orte des Judentums, als muslimische Stätten des zukünftigen „palästinensischen“ Staats klassifiziert.

 

Der Mufti von Jerusalem

Die Islamisierung der heiligen jüdischen Orte ist Teil einer allgemeineren Auslöschung des jüdischen Anteils an der arabischen Welt, von der jüdischen Dimension der Ursprünge bis zur jüdischen Präsenz auf arabischem Boden, die dem Islam weit vorausgeht. So wäre also die Erzählung des Judentums seit dem Tempelberg bis zur massiven Abwanderung der Jahre 1945–1965 Teil einer kollektiven Wahnvorstellung.

Die Frage nach der Präsenz der Juden in Jerusalem und in Hebron während der osmanischen Epoche bietet ein weiteres Beispiel für die Umschreibung der Geschichte. „Man kann sagen, dass die Präsenz der Juden in Jerusalem während der muslimischen Herrschaft die längste und dauerhafteste war. [...] So stellen wir eine ununterbrochene Präsenz von sieben Jahrhunderten unter aufeinander folgenden muslimischen Mächten fest. Nirgendwo anders auf der Welt, nicht einmal in Palästina vor dem Islam, hat das Judentum eine solche Kontinuität gekannt“, versichert der „palästinensische“ Historiker Nazmi Al-Jubeh in einer kürzlich erschienen Arbeit.

Zwar widerspricht die Figur des Muftis von Jerusalem der Legende ein wenig, aber man wird hier auf den „untypischen“ und „kaum repräsentativen“ Aspekt verweisen. „Der Baum des Muftis“ verbirgt allerdings den Wald des panarabischen Nationalismus – umso mehr, als die geläufige Erzählung versichert, dass er „von niemandem dazu ermächtigt wurde, im Namen der arabischen Völker zu sprechen“. Auf der juristischen Ebene ist das zwar richtig, aber diese Formalie ist lächerlich, wenn man die Popularität des Mannes unter den arabischen Völkern kennt, wo seine Stimme erwartet und gehört wird. Die Geheimdienste des Jischuw (Nationale Heimstätte der Juden vor dem Staat Israel), die seine Ermordung geplant hatten, haben aus Angst vor Repressalien gegenüber der jüdischen Bevölkerung in der arabischen Welt gezögert, diesen Schritt zu unternehmen. Da er im einfachen Volk bekannt ist und überall gefeiert wird, auch wenn er keine formale Ermächtigung besitzt, sprach der Mufti im Namen der arabischen Völker.

 

Abgleiten in einen erstaunlichen Anachronismus

Im selben Werk, „Histoire des relations entre juifs et musulmans des origines à nos jours“ [Geschichte der Beziehungen zwischen Muslimen und Juden von den Anfängen bis heute], berichtet Elias Sanbar in folgenden Worten über den Zionismus: „Die zeitliche Priorität als Quelle ausschließlicher Legitimität führt folglich zu einer Verschiebung, die sich unmerklich als radikal erweisen wird, aus dem Heiligen Land, das einem auserwählten Volk versprochen wurde, wird Palästina selbst zu einem auserwählten Land werden. Es überrascht nicht, dass im Anschluss daran folgende Parole erscheint: die Erlösung der Erde, ein Novum, das die Bewohner der Orte automatisch in die Quelle ihrer Befleckung verwandeln wird. [...] Hier findet das Vorspiel zur Vorstellung der zukünftigen Vertreibung der Araber statt, damit die Orte, und nicht mehr die Menschen, ihre ursprüngliche Reinheit wieder finden.“

Aber zu Beginn der jüdischen nationalen Bewegung hat kein Intellektueller jemals ein solches „Argument“ vorgebracht. Die zionistische Argumentation nach Elias Sanbar ist völlig aus der Luft gegriffen. Übrigens genügen ein paar Worte, um die Geschichte zu verzerren, und hier geschieht das durch das Wort „Erlösung“, das absichtlich verwendet wird, um den Zionismus zu nazifizieren – umso mehr noch, wenn man ihm das Wort „Reinheit“ anfügt, das seit dem Zweiten Weltkrieg Rassismus evoziert. Die Erlösung, die von der zionistischen Bewegung gepriesen wird, bedeutet in Wirklichkeit die körperliche und geistige Erlösung der durch die Diaspora verkümmerten Juden, das heißt der Juden, die durch die Unterwerfung und die Gewalt, die durch das Exil entstanden, gezeichnet waren. Der Diskurs des Zionismus hat sich gegen die Kolonialisierung des Judentums gebildet, und aus diesem Grund versteht er unter Erlösung die Aufhebung der Entfremdung des Judentums mehr noch als die Konstitution der Juden als politischer Subjekte. Und keine völkische Nostalgie.

Palästina wird anschließend im selben Text von Elias Sanbar als „versprochener oder leerer Raum [beschrieben], der auf die Abreise seiner jahrhundertelangen Bewohner wartet“. Tatsächlich hat sich die Geschichte des Zionismus vor Ort in den Jahren 1880–1920 (das heißt während der Ansiedelung jüdischer Einwanderer im Heiligen Land ab 1882) durch Verluste und Gewinne vollzogen. Ebenso wie die Demografie Palästinas am Ende des 19. Jahrhunderts unbekannt ist (ungefähr 500.000 Einwohner). Zu behaupten, dass der Zionismus die „Palästinenser“ umtauft, um „Araber“ aus ihnen zu machen, heißt, in einen erstaunlichen Anachronismus abzugleiten, da doch in den 1880er Jahren nur selten von „Palästina“ die Rede ist. Das Wort wurde von den Römern nach der Zerstörung des Tempels mit der Absicht gebildet, jede Spur jüdischer Präsenz in Judäa auszulöschen. Es wäre auch ganz unverständlich, warum die Juden die Worte ihrer Unterdrücker verwenden sollten, um ihre Heimaterde zu bezeichnen.

 

Die Gleichheit mit den Juden ist nur schwer zu akzeptieren

Die „Palästinafrage“ verweist auch auf die psychische Ökonomie einer Welt, die Mühe damit hat, jegliche Form von Gleichheit mit den Juden zu begreifen, welche von einer Moderne gepriesen wird, die nur Subjekte mit gleichen Rechten und vernunftbegabte Bürger kennt. Waleed al-Husseini, ein junger „Palästinenser“, der nach Frankreich geflüchtet war (und zwar seinen eigenen Aussagen nach in offenem Bruch mit dem Islam), schrieb im Sommer 2016: „Was die antijüdische Dimension im Islam angeht, so ist sie historisch und geistig, sie ist zu einem gesellschaftlichen Habitus geworden. Sie kommt also auch in Europa zum Ausdruck, wo die Muslime erneut mit den Juden zusammenleben müssen, aber dieses Mal als Staatsbürger mit vollem Recht wie sie selbst, was nicht der Fall war, als sie in den muslimischen Ländern bis zu deren Kolonialisierung lebten. Diese Gleichheit des Rechts und des Status zwischen Juden und Muslimen ist für sie nur schwer zu akzeptieren.“

Diese Lage, die ganz direkt den muslimischen Anordnungen der „dhimmitude“ zuwiderläuft, legt Rechenschaft von der Verschlimmerung der anti-jüdischen Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert ab. Die Kolonialisierung spielt darin ebenfalls ihre Rolle, insofern der Kolonialherr oft die Gemeinschaften gegeneinander aufzuwiegeln weiß. Aber auch aus anderen Gründen: denn die Kolonialisierung war, wenn auch gegen ihren eigenen Willen, Trägerin einer Modernisierung, das heißt, wenn auch nur in geringem Maß, einer Verwestlichung der Mentalitäten und Verhaltensweisen. Eine Entwicklung, die mit der traditionellen Unterwerfung des jüdischen Menschen unvereinbar ist, deren buchstäbliches Ende das arabische Bewusstsein zutiefst beunruhigt.

In der irakischen Gesellschaft, die seit 1932 unabhängig ist, ruft beispielsweise die rechtliche Gleichheit, die von der Verfassung des neuen Staates gepriesen wird, eine antijüdische Feindseligkeit hervor, die vom Numerus clausus an den Schulen bis zum Handelsboykott und sogar bis zu offenen Gewalttaten gegen Ende der 1930er Jahre reicht. Es handelt sich nicht nur um Auswirkungen des Palästinakonflikts, sondern unmittelbarer noch um das Zerbrechen eines ehemaligen Gleichgewichts, das traditionellerweise die Beziehungen zwischen Juden und muslimischen Arabern beherrschte.

Wahrheit über den gestürzten Herrn

Das jahrhundertealte Gleichgewicht des Unterdrückten, der in seiner Stellung zu bleiben weiß, wird durch eine moderne Verfassung zerbrochen, die den Juden wie allen anderen Staatsbürgern die Gleichheit zugesteht, was sich durch ihren Zugang zu allen gesellschaftlichen und kulturellen Bühnen ausdrückt, auf denen die einstige Bevormundung nicht mehr gilt. Theoretisch. Denn diese prinzipielle Gleichheit, die schon schwer zu akzeptieren ist, ist es noch umso mehr, wenn die gesellschaftliche Rivalität und der Groll eine wachsende Feindseligkeit schüren. Das ist es, was im Zentrum der so schwierigen Akzeptanz der Juden in den unabhängigen arabischen Nationen des 20. Jahrhunderts steht. In den meisten Fällen haben der Zionismus und der Palästinakonflikt wahrscheinlich nur die Spannungen beschleunigt oder waren gar nur ein Alibi, um nicht die Wahrheit über den gestürzten Herrn sagen zu müssen.

Die Palästinafrage problematisiert auch die arabische Einwanderung nach Palästina von den Nachbarstaaten aus (Ostjordanien, Syrien, Libanon, Ägypten und sogar Irak), die von der Entwicklung der nationalen jüdischen Heimstätte angezogen wurde. Das zeigen die britischen Einwanderungsregister, die von Henry Laurens für die Zeit von 1920–1947 untersucht wurden. Die Bevölkerung Palästinas steigt in der Zeit zwischen den Kriegen beträchtlich an, und zwar weniger durch die Einwanderung von Juden (die von 1933 bis 1937 unterstützt wurde) als vielmehr durch eine starke Einwanderung von Arabern, die, weil sie einen wirtschaftlichen Hintergrund hat, sich in den Gebieten der jüdischen Besiedelung niederlässt.

 

(Anmerkung der Redaktion: Der Name „Al Aksa-Moschee“ bedeutet übersetzt „Die ferne Kultstätte“ – fern von der Heimat des Islams in Mekka, wo die dort früher ansässigen Juden bereits von den frühen Anhängern des Islams in großer Zahl ermordet wurden.)

 

Auszug aus dem Buch „Die Juden der arabischen Welt“ von Georges Bensoussan, Übersetzung: Jürgen Schröder, Sprache: Deutsch, 192 Seiten, Klappenbroschur19,90 €, hier bestellbar

Georges Bensoussan, geb. 1952 in einer alteingesessenen jüdischen Familie Marokkos, die nach Frankreich auswanderte, ist Historiker, Experte für europäische Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, insbesondere für die Kulturgeschichte der jüdischen Welt. Er ist Chefredakteur der französischen Zeitschrift „Revue d’Histoire de la Shoah“. Gleichzeitig verantwortet er die Veröffentlichungen des Mémorial de la Shoah in Paris, so zum Beispiel über das von Emanuel Ringelblum und anderen im Warschauer Ghetto angelegte und versteckte Archiv. Er wurde u.a. 2008 mit dem Prix Mémoire de la Shoah der Fondation Jacob Buchmann, verliehen von der Fondation du Judaïsme Français, ausgezeichnet.

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