Henryk Slawik, der polnische Wallenberg

Zum 125. Todestag eines Gerechten unter den Völkern

Von Weniamin Tschernuchin

Nicht selten werden die Eigennamen sozusagen sprichwörtlich. So erging es dem schwedischen Unternehmer und Diplomaten, dem Gerechten unter den Völkern, Raoul Wallenberg. 1944 konnte Wallenberg mithilfe von ihm ausgestellter sogenannter „schwedischer Schutzpässe“ viele Budapester Juden vor der Deportation in die Vernichtungslager retten. Seitdem werden Diplomaten, die Juden während des Zweiten Weltkrieges retteten, auch „Wallenbergs“ unterschiedlicher Nationen genannt.

Während der Schwede Weltruhm erlangte, sagt der Name Henryk Slawik dem heutigen Leser kaum etwas. Dabei arbeitete er ebenfalls in Ungarn, rettete Juden und wurde schließlich ermordet, allerdings nicht in den Kerkern des NKWD, sondern in einem faschistischen Vernichtungslager.

Henryk Slawik wurde in eine arme Familie in Oberschlesien hineingeboren, damals preußische Provinz, ein Teil Deutschlands mit einer gemischten deutsch-polnischen Bevölkerung. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Ostoberschlesien infolge eines Plebiszites an Polen abgetreten. Nach seinem Wehrdienst trat der junge Henryk der Sozialistischen Partei Polens bei, ihrem „rechten“ – antikommunistischen – Flügel. Er studierte in Warschau und, zurück in Oberschlesien, machte er Karriere: Er leitete als Journalist die örtliche „Arbeiterzeitung“; 1922 wurde er Vorstand der Organisation der jungen Arbeiter. 1929 wählte man Henryk Slawik in den Stadtrat von Kattowitz, wo er die Sozialistische Partei Polens vertrat. Währenddessen war er weiterhin als Journalist tätig und wurde 1934 Präsident der Polnischen journalistischen Vereinigung in Oberschlesien.

 

Flucht nach Ungarn

Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges erhielt der mittlerweile 45-jährige Slawik die Einberufung in ein Polizeibataillon, das die Bergübergänge in den Karpaten zur Slowakei hin verteidigen sollte. Zu dieser Zeit hatte Ungarn bereits Teile der südlichen Slowakei erhalten, und so entstand eine neue polnisch-ungarische Grenze. Diese Grenze überquerte Slawik, als Warschau gefallen war, und kam in ein Lager für internierte Militärangehörige. Im Lager lernte er den Beamten des ungarischen Innenministeriums, Jozsef Antall, kennen, welcher die Lage der Flüchtlinge inspizierte und deshalb das Lager besuchte. Antall nahm Henryk Slawik mit nach Budapest; bald darauf war Slawik Teil der Organisation, die sich formell mit der Hilfe polnischer Flüchtlinge befasste – er suchte für sie Arbeit und für ihre Kinder die Schulplätze –, die Hintergrundarbeit bestand darin, dass man die Flüchtlinge an das polnische Militär vermittelte, das an der Seite der Alliierten kämpfte. Slawik selbst stellte die Verbindung zur polnischen Exilregierung her und befolgte ihre Anweisungen.

 

Ungarns Kriegseintritt an der Seite Deutschlands

Bald stellte sich heraus, dass sich unter den polnischen Flüchtlingen viele Juden befanden. Obwohl Ungarn an der Seite Nazideutschlands stand und den Juden gegenüber kaum freundlich gesinnt war, konnte man deren Lage mit der im besetzten Polen kaum vergleichen.

Die Ereignisse überschlugen sich: Am 22. Juni 1941 griff Nazideutschland die Sowjetunion an, und am 26. Juni wurden von nicht identifizierten Flugzeugen die kürzlich an Ungarn angeschlossenen Städte Kaschau (Kosice), Munkacs (Mukatschewo) und Racho (Rachow) bombardiert. Als Antwort darauf erklärte Ungarn am 27. Juni der Sowjetunion den Krieg. Die antijüdische Politik wurde spürbar härter: Es begann mit Razzien gegen (meist polnische) Juden; über 20.000 wurden an die Nazis übergeben; die Opfer wurden in die Ukraine deportiert und bei Kamenez-Podolski hingerichtet (zu der Zeit der größte Massenmord des Holocausts, - Anm. d. Übers.).

Unter diesen Umständen beginnt Henryk Slawik mit der Herstellung falscher Pässe für die jüdischen Flüchtlinge; in diesen „Dokumenten“ wird ihnen die polnische Herkunft und die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche bescheinigt. Einige hundert Juden führt er über die ungarisch-jugoslawische Grenze zu den dortigen Partisanen. Es entsteht ein Heim für jüdische Kinder in dem Städtchen Vac nahe Budapest, das offiziell den Namen „Schule für Kinder der polnischen Offiziere“ trägt; ca. 100 jüdischer Kinder werden dort untergebracht. Der Tarnung wegen suchen die „Schule“ von Zeit zu Zeit polnische Bischöfe auf, unter ihnen der Apostolische Nuntius in Ungarn, Angelo Rota.

 

Deutscher Einmarsch in Ungarn

Inzwischen wurde die Atmosphäre in Ungarn immer düsterer. Die Zweite Ungarische Armee erlitt schwere Verluste – bis zu 80 % der Soldaten und Offiziere. Im Land wurden die Rufe nach einem separaten Frieden mit den Alliierten lauter. Daraufhin marschierten in Ungarn deutsche Bodentruppen ein. Slawik musste untertauchen, konnte jedoch einen zuverlässigen Menschen finden, der seine Arbeit fortsetzte. Dabei instruierte Slawik polnische Juden, wie sie am besten ins Ausland gelangen könnten. So ist es vielen gelungen, Ungarn zu verlassen, bevor sich Szalasis Regierung etablierte (Ferenc Szalasi, ungarischer Faschist, stand als „Führer der Nation“ an der Spitze der ungarischen Regierung von Oktober 1944 bis Ende März 1945; 1946 wurde er als Kriegsverbrecher hingerichtet, - Anm. d. Übers.). Auch das Kinderheim konnte noch evakuiert werden.

Am 19. März 1944 wurde Henryk Slawik von der Gestapo verhaftet und bald darauf nach Mauthausen deportiert. Zusammen mit einer Gruppe polnischer Häftlinge wurde er dort am 23. August 1944 hingerichtet.

Seine Frau Jadwiga wurde ebenfalls verhaftet und kam ins Lager Ravensbrück; sie überlebte. Nach ihrer Befreiung konnte sie den Aufenthaltsort der gemeinsamen Tochter Krystina ausfindig machen – nach der Verhaftung der Eltern nahm sie die Familie von Jozsef Antall bei sich auf, desjenigen ungarischen Beamten, welcher beim Schicksal Henryk Slawiks die entscheidende Rolle gespielt hat.

Es waren ca. 30.000 polnischer Flüchtlinge, darunter 5.000 Juden, die nach Ungarn kamen und von Henryk Slawik vor dem sicheren Tod gerettet wurden. Im Januar 1977 wurde ihm von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem der Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“ verliehen; die Auszeichnung nahm seine Tochter Krystina entgegen.

Im Zusammenhang mit Slawiks Heldentat taucht noch ein Name auf: Zvi Zimmerman. Geboren in Polen, absolvierte er das Studium an der Jagiellonen-Universität in Krakau; während des Krieges kam er ins Getto, konnte aber flüchten und kam im Oktober 1943 nach Budapest. Dort lernte er Henryk Slawik kennen, bekam von ihm „arische“ Papiere und wurde sein engster Vertrauter (und durfte sogar bei der Herstellung der Pässe sein Siegel benutzten). Es entstanden ca. 14.000 derartige Papiere, unterschrieben von Slawik oder, nach seiner Anweisung, von Zimmerman.

Der zielstrebige Zvi kam am Ende des Krieges nach Palästina und von da an beschäftigte er sich mit Politik. 1959 wurde er zum ersten Mal in die Knesset gewählt, wo er insgesamt vier Wahlperioden lang tätig war; später kam er als israelischer Botschafter nach Neuseeland.

Als der Eiserne Vorhang fiel und der Weg nach Osteuropa für die Israelis geöffnet wurde, besuchte Zimmerman die Tochter von Slawik – Krystina, und veröffentlichte eine Reihe von Artikeln über ihn in polnischen Zeitungen. Bis dahin war der Name „Henryk Slawik“ in seiner Heimat kaum bekannt, was nicht überraschend war: Schließlich war er im Auftrag einer antikommunistischen Exilregierung Polens tätig.

Jozsef Antall hatte in den ersten Regierungen Ungarns der Nachkriegszeit, solange ein Mehrparteiensystem noch möglich war, einen Ministerposten inne; leitete später das Ungarische Rote Kreuz. Nach dem Machtantritt der Kommunisten beendete Antall seine politische Tätigkeit; er starb 1974. Im Jahre 1991 wurde auch ihm der Titel „Gerechter unter den Völkern“ verliehen, er bekam außerdem die Auszeichnung „Verdienstorden der Republik Polen“. Sein Sohn Jozsef Antall junior wurde später der erste demokratisch gewählte Ministerpräsident Ungarns der postkommunistischen Zeit.

…Zurück zum „polnischen Wallenberg“; ja, das mag schön und eindrucksvoll klingen; aber lassen Sie uns von Henryk Slawik sprechen – er hat seinen Namen unsterblich gemacht und verdient sein „eigenes“ Gedenken: Das Gedenken an einen Gerechten.

 

Übersetzung aus dem Russischen von Irina Korotkina

Sehr geehrte Leser!

Die alte Website unserer Zeitung mit allen alten Abos finden Sie hier:

alte Website der Zeitung.


Und hier können Sie:

unsere Zeitung abonnieren,
die aktuelle oder alte Ausgaben bestellen
sowie eine Probeausgabe bekommen

in der Druck- oder Onlineform

Unterstützen Sie die einzige unabhängige jüdische Zeitung in Deutschland mit Ihrer Spende!

Werbung


Alle Artikel
Diese Webseite verwendet Cookies, um bestimmte Funktionen zu ermöglichen und das Angebot zu verbessern. Indem Sie hier fortfahren, stimmen Sie der Nutzung von Cookies zu. Mehr dazu..
Verstanden