„Ich war schon in der SPD, bevor die meisten meiner Kritiker geboren waren.“
Ein Exklusiv-Interview der JÜDISCHEN RUNDSCHAU mit Dr. Thilo Sarrazin, dem ehemaligen Finanzsenator des Landes Berlin
Dr. Thilo Sarrazin© DANIEL ROLAND, AFP
Jüdische Rundschau: Herr Dr. Sarrazin, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für unser Gespräch nehmen. Wann waren Sie zum letzten Mal in Israel?
Dr. Thilo Sarrazin: Ich war noch nie in Israel, aber ein Besuch steht durchaus in meinen Reiseplanungen. Dies ist meinen Verpflichtungen in Deutschland sowie der Tatsache geschuldet, dass ich relativ wenig Überseereisen gemacht habe – aber das ändert sich gerade. Vor zwei Jahren waren wir in Südafrika, vor zwei Jahren in Indien, letztes Jahr in Südamerika. Ich war auch einige Male in der Türkei und einmal in Ägypten – aber das ist auch schon wieder 25 Jahre her. Darauf beschränken sich bisher meine nahöstlichen Reiseerfahrungen.
JR: Also haben Sie sich Israel bisher eher von der Peripherie her angenähert?
TS: Israel ist einerseits zu nah und zu fern. Es ist keine richtige Fernreise, und natürlich möchte man einmal die ganzen historischen Stätten sehen.
JR: Sie schreiben sehr wertschätzend über das jüdische Volk, beispielsweise auf Seite 13 Ihres aktuellen Buches: „Der in Europa lange Zeit weitverbreitete Antisemitismus erklärte sich nicht nur aus der religiösen Sonderrolle der Juden, sondern auch aus ihren besonders großen Erfolgen in Wirtschaft und Wissenschaft. Das führt zu Neidreaktionen etc.“.
TS: Es ist das Kennzeichen meiner Bücher, dass sie sich weitgehend nicht auf sinnliche Wahrnehmung stützen. Das geht auch Historikern so, die die Objekte ihrer Forschung nicht sinnlich wahrnehmen können, weil diese in der Regel schon tot sind. Ich versuche schlicht und einfach, wertneutral zu argumentieren. Wenn die Juden beispielsweise wie die Sinti und Roma hinsichtlich ihrer Bildungsleistung am unteren Ende der Skala stehen würden, hätte ich das genauso geschrieben. Das ist also keine besondere Wertschätzung, sondern eine Tatsachenbeschreibung, genauso wie ich beschreibe, wo die islamische Welt im Durchschnitt kognitiv steht. Das sind nicht immer angenehme Botschaften, aber ich versuche diese wertneutral rüberzubringen.
JR: Es ist einerseits die Stärke Ihrer Bücher, dass Sie sehr analytisch vorgehen, sich nicht von Emotionen leiten lassen. Auf der anderen Seite wird Ihnen dies immer wieder zum Vorwurf gemacht. Ihre Kritiker sagen, Sie seien empathielos, Sie würden sich nicht auf alltagsempirische Befunde stützen oder diese komplett ignorieren.
TS: Ich schreibe populäre Sachbücher, und der Leser merkt, dass nicht nur Statistiken einfließen, sondern immer wieder auch Einzelbeispiele, soweit ich sie beitragen kann. Natürlich macht jeder eigene Erfahrungen, aber das Wesentliche ist eine solide empirische Grundlegung.
JR: Viele Leute sagen sich „Sarrazin ist eigentlich Volkswirt, warum schreibt er über den Islam? Warum schreibt er über Meinungsfreiheit in Deutschland?“.
TS: Es wäre ja noch schöner, wenn sich Mathematiker nur zu Mathematik, Atomwissenschaftler nur zu Kernkraftwerken und Biologen nur zum Liebesleben der Maus äußern dürften. Dann wäre die Welt doch eine arme. Es ist gerade interessant, dass wir alle versuchen, uns einen gesamthaften Ausblick auf die Welt zu erschließen. Jeder Verstand, der ausreichend formal geschult wurde, gleich ob er Alte Geschichte, Jura, Mathematik oder Volkswirtschaft studiert hat, sollte den Träger des Verstandes in die Lage versetzen, sich in unterschiedliche Sachverhalte kompetent einzuarbeiten. Ich mache ja keine eigenen islamischen Forschungen, aber ich erhebe schon den Anspruch an mich, dass ich Texte lesen, verstehen und interpretieren kann.
JR: Damit stehen Sie genau im Widerspruch zu einer Tendenz unserer Zeit, der Identitätspolitik. Dies ist die Annahme, dass jemand etwas durch eigenes Erleben erfahren haben muss, um darüber kompetent urteilen zu können. Das führt das, was Sie gerade gesagt haben, ad absurdum.
TS: Das führt die ganze Wissenschaft ad absurdum, weil die gesamte Wissenschaft zu großen Teilen am toten Objekt arbeitet. Stellen Sie sich vor, Sie seine ein Paläontologe oder Astronom… wer so etwas sagt, zeigt nur, dass er von der Art wissenschaftlichen Arbeitens nichts verstanden hat.
JR: Die Argumentation vieler Humanwissenschaftler lautet: Geisteswissenschaften können und sollen gar nicht das leisten, was empirische Naturwissenschaften leisten.
TS: Die Kriterien der Wissenschaftlichkeit sind überall dieselben: Nachvollziehbarkeit und Falsifizierbarkeit von Hypothesen. Und natürlich hat Karl Marx, der den größten Teil seines Lebens im Britischen Museum im Staub von Büchern und Zeitschriften zubrachte, sehr wohl den Anspruch gehabt, die Dinge analytisch zu durchdringen. Das hat er auch getan, er hat teilweise geirrt, teilweise hatte er auch Recht. Und dann kommen andere und sagen „Jetzt machen wir hier weiter“.
JR: Viele Autoren anderer Sachbücher reflektieren ihr Vorgehen nicht in dieser Weise wie Sie es tun. Teil Eins Ihrer Bücher kann man prinzipiell immer nebeneinanderlegen und man kommt dann dahinter, dass eine gewisse Konsequenz in der Methodik dahintersteht.
TS: Das ist richtig. Ich muss zunächst eine Fragestellung entwickeln, und die Fragestellung entwickelt man aus den Problemen, die man wahrnimmt. Zu diesen Problemen versuche ich möglichst systematisch geeignetes Wissen zu sammeln, und wenn ich es auswerte in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen. Das ist praktisch die Methode.
JR: Wenn wir nun auf Ihr aktuelles Werk eingehen: Sie haben sich den einzelnen Ländern gewidmet. Es gibt in Kapitel zwei den „regionalen Blick“, wo Sie einmal durch die islamische Welt streifen, von Afrika bis nach Südostasien. Welche Besonderheiten sehen Sie bei den zentralasiatischen Ländern, weshalb sich die Radikalisierung dort bisher nicht so durchgesetzt hat wie im Mittleren Osten oder im Maghreb?
TS: Ich habe durch die ausgewählten historischen Beispiele gezeigt, dass ganz Zentralasien bis Anfang des 20. Jahrhunderts im Zustand einer schrecklichen vorstaatlichen Rückständigkeit war. Und plötzlich kam dann die Zivilisationsmaschine der Briten von Süden und diejenige der Russen von Norden – im Prinzip wurde Zentralasien zwischen diesen beiden Mächten aufgeteilt. Letztendlich haben die Sowjets die vom Zarenreich vereinnahmten Teile Zentralasiens in die Sowjetunion aufgenommen, während umgekehrt England entschieden hat, Afghanistan, welches nun auch nicht leicht zu beherrschen war, um 1920 in eine gewisse an die Briten angelehnte Selbstständigkeit zu führen. Aber praktisch waren das bis dahin mehr oder weniger vorstaatliche Gebiete gewesen. Ich finde schon, dass die Sowjets bis 1989 in ihrem Teil Zentralasiens eine nicht unerhebliche Zivilisationsarbeit geleistet haben. In den Köpfen, in den Bildungssystemen, was den Bau von Straßen betrifft – das ist alles ein Produkt der Sowjets. Ich beobachte, soweit man das anhand von Zahlen tun kann, eben seit dem Zerfall der Sowjetunion, dass diese Länder allesamt eine Form von Diktaturen sind, auch wieder in alte Strukturen aus der Zeit vor der Sowjetunion zurücksinken. Man kann ja sehen, dass die Geburtenraten wieder steigen, man sieht, dass die Bildung der Frauen zurückgeht. Also, ich stelle den ganzen zentralasiatischen Republiken keine sehr günstige Prognose aus. Und Afghanistan ist sowieso ein ganz unbeherrschbarer Faktor, das haben auch die Sowjets gemerkt, das merken jetzt die westlichen Mächte.
JR: Usbekistan beispielsweise erkennt die Tendenzen der islamischen Radikalisierung wie im östlichen Fergana-Tal und die Regierung erkennt es als ihr Interesse, eine solche Entwicklung in breiten Teilen der Bevölkerung zu verhindern. Oder Aserbaidschan, was zur überwiegenden Mehrheit eine muslimische Bevölkerung hat, wo aber keine Synagoge von der Polizei beschützt werden muss.
TS: Mit der Rolle der jüdischen Minderheiten in diesen Ländern habe ich mich nicht näher befasst.
JR: Sie beschreiben einen Zerfallsprozess der islamischen Welt, der impliziert, dass es eigentlich schon zu spät ist.
TS: Ich weiß gar nicht, ob man das Zerfallsprozess nennen kann. Die islamische Welt ist in der Summe kaum in der Moderne angekommen. Es gab eine gewisse Modernisierung nach der Kolonialzeit. Die Briten und Franzosen haben, wo immer sie waren, neben all der Ausbeutung eben auch gewisse staatliche Strukturen dagelassen. Wenn sie eine Kolonie verließen, gab es dort staatliche Strukturen im Sinne von Verwaltung, Verkehrswesen, Gesetzen und so weiter. Das hat sich dann unterschiedlich weiterentwickelt, meistens stark bergab. Und letztlich waren Algerien, Tunesien und ähnliche Länder zu Zeiten der französischen Kolonialherrschaft relativ weiter entwickelt als sie es heute sind. Ähnlich ergeht es auch einem Teil der ehemals britischen Kolonien. Das ist zum Teil ein sehr betrübliches Ergebnis einer Re-Islamisierung der Gesellschaft. In Malaysia funktioniert dank der Chinesen immerhin noch die Wirtschaft. In Persien, das eine Sonderentwicklung darstellt, ist das Volk widerständig zur Regierung. Man muss aus dem Allgemeinen des Systems des Islam immer auch auf die Bedingungen der einzelnen Länder schauen, was ich in meinem sehr kurzen Überblick auch tue, man muss die Dinge differenziert sehen.
JR: Sie trennen Iran, Subsahara-Afrika, Südostasien und weitere Regionen. Wie sehen Sie die Rolle Israels in dieser sich in einem Umbruchprozess befindenden islamischen Welt?
TS: Ich zitiere ein berühmtes Wort Napoleons: „Man kann mit Bajonetten alles machen, außer auf ihnen sitzen“. Und das ist das Problem Israels. Die Menschen sitzen bisher praktisch 70 Jahre auf ihren Bajonetten, ich frage aber, ob das jetzt 700 Jahre so weitergehen soll? Das ist wahnsinnig schwierig, andererseits ist es das einzige wirklich funktionsfähige Staatswesen zwischen Nordafrika und dem indischen Meer. Ich fühle mich nicht zuständig, mich in die israelische Innenpolitik einzumischen. Das ist Sache der Israelis.
JR: Sehen Sie aus geopolitischer Sicht eine zunehmende Bedrohung für Israel durch die Entwicklungen, die Sie beschreiben?
TS: Das muss Israel entscheiden. Im Augenblick haben sich die Israelis entschieden, mehr mit den Saudis zusammenzugehen und letztlich den Iran als den großen Feind anzusehen. Mein Instinkt sagt mir, dass der Iran eine im Prinzip entwicklungsfähige Gesellschaft ist, was man von Saudi-Arabien überhaupt nicht behaupten kann. Ich sehe das eher umgekehrt und würde mich eher mit den Iranern arrangieren, weil das die Ordnungsmacht der Zukunft ist. Die Iraner waren auch schon die letzten 3.000 Jahre da.
JR: Mit Blick auf die in Deutschland lebenden Juden: Sie beschreiben seit „Deutschland schafft sich ab“ die Probleme und Fragen, die mit der mangelnden Integration und Integrationsfähigkeit von Zuwanderern aus dem türkisch-arabischen Milieu einhergehen. Was sind die aktuellen Entwicklungen? Sehen Sie mit Blick auf die Zuwanderung besondere Herausforderungen für die Juden in Deutschland?
TS: Der Islam stand nie systematisch in meinem Fokus. In „Deutschland schafft sich ab“ ging es um Einwanderung, den Sozialstaat und Demografie. Erst im Verlauf der Arbeit an dem Buch wurde mir in vollem Umfang klar, was sich alles in der Problemgruppe der Muslime kreuzt. Ich habe mich mit Fragen des Islam damals nicht vertieft auseinandergesetzt, und fühlte mich danach auch nicht als Kenner des Islam und der islamischen Welt. Ich habe mich seit 2010 zu dem Thema sehr zurückgehalten. Aber irgendwann habe ich gemerkt: Das Thema geht nicht weg. Daraufhin habe ich angefangen, mich mit dem ganzen Themenkomplex Islam intensiver zu befassen, und das aktuelle Buch ist das Resultat.
Wir haben alle fürchterlich etwas gegen Antisemitismus, aber man darf sich keine Illusionen machen. Es wird immer einen gewissen Antisemitismus geben, weil es immer Unbelehrbare und Verschwörungstheoretiker gibt, die gab es zu jeder Zeit. Die Frage ist, wann er virulent und gefährlich wird. In Deutschland haben wir im Augenblick eine interessante Debatte. Es lässt sich nach den Beobachtungen unserer betroffenen jüdischen Mitbürger offenbar sagen, dass 80 Prozent aller gewalttätigen antisemitischen Handlungen von Muslimen ausgehen, während zur politisch korrekten deutschen Erzählung gehört, dass Antisemiten eigentlich immer auf der deutschen „Rechten“ stehen und die Muslime als „Ungebildete“ oder „Naturkinder“ da nur ein bisschen reingestolpert sind. Das macht die offizielle Erzählung über die aktuelle Ausprägung des Antisemitismus in Deutschland so peinlich und teilweise auch unfreiwillig komisch.
JR: Werden die Muslime dadurch nicht auch entmündigt, indem man ihnen die Fähigkeit abspricht, für ihre Handlungen selbst verantwortlich zu sein?
TS: Viele Leute denken sich „Das sind ‚Naturkinder‘, die muss man ein bisschen erziehen, die meinen das nicht so“. Diese Leute nehmen die Muslime gar nicht ernst, auch das Falsche und Gefährliche hat aber einen Anspruch darauf, ernstgenommen und nicht verniedlicht zu werden.
Anders als in Frankreich – dort gibt es eine quantitativ viel größere jüdische Bevölkerung – gibt es bei uns bedingt durch den Holocaust und durch die Auswanderung überlebender Juden nach dem Krieg eine gewisse paradoxe Situation: Nur noch eine Minderheit der bei uns lebenden Juden sind das, was man als „deutsche Juden“ bezeichnen würde, die meisten haben ihren Ursprung in der ehemaligen Sowjetunion. Das führt zu anderen Mentalitäten und zu einem anderen Bewusstsein. Alle Juden in Europa werden von den Muslimen in eine Art Geiselhaft für den ungelösten „Palästina“-Konflikt genommen, obwohl sie dafür nichts können. Das wird aber gar nicht getrennt, sondern der „Kampf um Palästina“ geht eine Einheit ein mit Grundaussagen der islamischen Lehre und dem dort bereits angelegten Antisemitismus. Es dort geht vieles übereinander und quer.
JR: Die Terrororganisationen Hamas und Hisbollah legitimieren sich auch explizit über den religiösen Bezug. Zurück zum Aspekt der Sicherheit der Juden in Deutschland und Europa.
TS: Wenn die Politik Antisemitismus ernstnehmen würde, setzt sie das unter einen gewissen Handlungsdruck. Aber die Politiker wollen die Botschaft der Gefahr für Juden durch den Islam nicht hören.
JR: Wenn Sie die Möglichkeit hätten, am Kabinettstisch der Bundesregierung zu sitzen, welche Maßnahmen würden Sie unmittelbar vorschlagen?
TS: Wenn man Probleme hat, von denen man nicht sicher ist, ob und wie man sie löst, muss man zunächst das Naheliegende tun und mindestens verhindern, dass sie größer werden. Insofern ist zunächst die Frage, unerwünschte Einwanderung zu unterbinden. Sie haben in Israel ein Problem mit zuwandernden Afrikanern gehabt. Das hat die israelische Regierung sich eine Zeit lang angeschaut und hat jetzt durch den neuen Grenzzaun auf dem Sinai dafür gesorgt, dass kein Afrikaner mehr unentdeckt ins Land kommen kann. Auf der Basis setzt man sich auseinander mit den Afrikanern, die schon da sind. Das ist die erste Voraussetzung einer funktionierenden Migrationspolitik, dass man die Herrschaft darüber wieder zurückgewinnt, wer kommen darf und wer nicht. Davor läuft gar nichts.
JR: Was kann man ihrer Meinung nach gegen die „politische Korrektheit“ tun?
TS: Das muss jeder selbst wissen, man muss sich dem verweigern. Solange alle begeistert mitmachen, läuft das so. Die Menschen müssen immer wieder neu lernen, dass sie auch für sich selbst einstehen. Das ist auch eine charakterliche Erziehung, und das kann man keinem ersparen. Es entwickeln sich mit der Zeit auch Gegenöffentlichkeiten.
JR: Sie sind immer noch Mitglied der SPD. Was bewegt Sie dazu, immer noch Mitglied dieser Partei zu sein, in der sie vielfach angefeindet wurden?
TS: Was sollte mich dazu bewegen, das zu ändern? Ich war schon dabei, als die meisten derer, die mich heute hassen, noch gar nicht geboren waren. Ich bin niemandem Rechtfertigung schuldig, weshalb ich in der SPD bin. Eher sollten sich diejenigen rechtfertigen, die mich draußen haben wollen. Die Tagespolitik der SPD ist aktuell katastrophal und wird von den Wählern verdient bestraft. Fortgesetzte weitere Wahlniederlagen sind in Sicht. Mich interessiert aber das Schicksal von Parteien offen gestanden ziemlich wenig – mich interessiert das Schicksal Deutschlands. Das Werden und Vergehen politischer Parteien hat demgegenüber eine periphere Bedeutung.
JR: Was denken Sie, wie es mit der Bundesregierung weitergeht? Hält sie die Legislaturperiode durch?
TS: Ich glaube ja. Aber diese Antwort ist wenig gefestigt, weil ich natürlich nicht weiß, was sich bei den künftigen Wahlen ergibt, wie sich die Wirtschaftsentwicklung weiter gestaltet. Ich weiß nicht, welche weltpolitischen Herausforderungen kommen, ich weiß nicht, wie die Europawahlen ausgehen. Bei den Europawahlen kann es durchaus sein, dass wir zu Mehrheitsverhältnissen im Europäischen Parlament kommen, die man sich im Augenblick gar nicht vorstellen kann. Irgendwann kommt bestimmt die nächste Rezession, dazu die offenen Brexit-Fragen. Es gibt sehr viele Dinge, die offen sind, insofern halte ich mich mit Prognosen zurück. Die Schicht der Politiker, die jetzt in den Ämtern ist, ist offenbar mental nicht in der Lage, sich von ihrer Einwanderungsverliebtheit und ihrem Helfersyndrom zu distanzieren oder in Fragen der Energie- und Klimapolitik realitätsbezogen vorzugehen.
Es kommen ständig aus dem Unerwarteten neue Entwicklungen. Im Sommer 2018 wäre die große Koalition fast über die leider nur fiktive Frage der Rückführung von Fluchtmigranten von Deutschland nach Italien gestürzt.
JR: In Ihren Büchern befassen Sie sich schwerpunktmäßig mit innenpolitischen Themen. Wie wird Deutschlands Außenpolitik aus Ihrer Sicht momentan wahrgenommen?
TS: Wie Deutschland in der Welt wahrgenommen wird, ist keine Frage, die mich groß beschäftigt. Deutschland ist jetzt nicht mehr so bedeutend. Wichtig für mich ist die Frage: Wie muss sich Deutschland verhalten, damit es seine Interessen in der Welt richtig wahrt? Ich finde übrigens, dass Heiko Maas das Amt des Außenministers deutlich besser ausfüllt als Sigmar Gabriel.
JR: Warum?
TS: Weil er mir bei Auftritten in der Wahl seiner Worte vorsichtiger und weniger leichtfertig erscheint. Ich habe noch keine wirklich großen Fehler bei ihm beobachtet. Sigmar Gabriel hingegen hat Netanjahu gereizt, indem er sich mit irgendwelchen sonstigen Gruppen trifft. Das ist so, wie wenn die Bundeskanzlerin nach China reisen und sich kurz vorher mit dem Dalai Lama fotografieren lassen würde. Netanjahu ist ein rechter Nationalist in Israel – wenn man ihn so einordnen darf –, Sigmar Gabriel ist Sozialdemokrat und Golda Meir ist lange tot. Da sind die unterschiedlichen Sichtweisen klar, ich fand aber, dass Gabriel das nicht sehr professionell gemanagt hat. Ich finde den Auftritt von Maas, auch gegenüber Russland, erfreulich unaufgeregt. Das lief besser als erwartet. Ich halte ein gutes Auskommen mit Russland für wichtig. Deutschland ist nur ein kleiner Zipfel der eurasischen Landmasse und die USA sind weit weg. Die Ukrainefrage muss man verständig lösen, ich habe auch Verständnis für die Russen, denn die Ukraine war immer ein Teil des russischen Reiches. Damit sind für die Russen große Emotionen verbunden. Und Emotionen sind ein klar realpolitischer Faktor. Mit dem Selbstbild von Völkern muss man immer rechnen. Das kann man falsch oder richtig finden, aber es ist Fakt. Das jüdische Selbstbild hat die Juden nach 2.000-jähriger Unterbrechung wieder nach Israel gebracht.
JR: Was möchten Sie denjenigen Leuten mit auf den Weg geben, die kein Gespräch mit Ihnen führen würden?
TS: Ich kenne die Interessen dieser Leute nicht und weiß nicht, warum sie das Gespräch nicht führen würden. Ich glaube, man tut als Staat, als Volk oder als Gesellschaft immer gut daran, intensiv über die eigenen Interessen nachzudenken und sie auch ganz klar zu formulieren. Das habe ich in dem aktuellen Buch „Feindliche Übernahme“ sehr deutlich getan.
JR: Ihr letztes Kapitel heißt „Was man tun muss“, und im ersten Unterkapitel „Ehrfurcht vor Religion darf nicht den Islam vor Kritik schützen“ geben Sie unseren Politikern Lösungsvorschläge an die Hand. Was sind die zentralen Punkte daraus?
TS: Man muss einfach zur Kenntnis nehmen, was es für eine große gesellschaftliche Gefahr darstellt, dass ein immer größerer Teil unserer Bevölkerung nicht nur nicht deutsch ist, das kann man noch am ehesten verkraften, sondern letztlich durch Herkommen und Religion an sich der ganzen westlichen Kultur ablehnend bis fremd, zumindest aber verständnislos gegenübersteht. Das ist eine Riesengefahr. Israel ist nun ein viel kleineres Land, aber Israel hat immerhin noch den Vorteil, dass auch die jüdischen Israelis noch immer Kinder bekommen, dazu haben sie eine gesteuerte Einwanderung. Die Israelis sind demographisch wesentlich besser gerüstet als wir. Natürlich gibt es auch dort Probleme, wie das Ungleichgewicht der Geburtenraten zwischen Ultraorthodoxen und Säkularen. Irgendwas wird man sich einfallen lassen müssen, sonst fällt die Gesellschaft irgendwann auseinander.
JR: Diese Fragen werden in Israel sehr lebendig diskutiert. So eine Streitkultur vermisst man manchmal in Deutschland…
TS: Das ist der Punkt! Israel ist in gewissem Sinne kampferprobt, während wir letztlich mit dem „Kämpfen“ aufgehört haben und uns in der Selbstgefälligkeit unserer moralischen Überlegenheit ergehen. Und damit sind wir unserer Fußballmannschaft nicht ganz unähnlich. Wir sind möglicherweise am Anfang eines Systemwechsels in der Bundesrepublik. Das alte System des selbstgerechten Gutmenschentums, was nur die deutsche Vergangenheit im Blick hat und die Gegenwart als die Lösung schlechthin ansieht, wird auch nicht mehr ewig gutgehen.
JR: Herr Dr. Sarrazin, vielen Dank für dieses interessante Gespräch.
Das Gespräch fand im April 2019 in Berlin statt.
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