Gelungene Charakterstudie: Golda – Israels eiserne Lady

Helen Mirren als Golda Meir © Jasper Wolf/BERLINALE
Der Film handelt von Golda Meir, gespielt von der einzigartigen britischen Schauspielerin Helen Mirren, als wichtigste politische Entscheidungsträgerin während des Yom Kippur Krieges 1973 und von den Entscheidungsprozessen während dieses für Israel existenzbedrohlichen Überraschungsangriffes seiner arabischen Nachbarn. Im hohen Alter und von einer Krebstherapie gezeichnet, bietet die israelische Premierministerin den arabischen Staaten die Stirn und nimmt es als geschickte Verhandlungspartnerin mit dem amerikanischen Außenminister Henry Kissinger auf. Schon vor seinem Erscheinen polarisierte der Film des israelisch-amerikanischen Regisseurs Guy Nattiv weil eine absurde Diskussion darüber entbrannte, ob Helen Mirren als Nichtjüdin eine jüdische Person spielen darf oder nicht. (JR)
Der Spielfilm des israelisch-amerikanischen Regisseurs Guy Nattiv wird seit dem 30. Mai 2024 in deutschen Kinos gezeigt. Der englische Originalfilm, produziert von QWERTY Films in London, wurde bereits 2023 beim Berlinale Filmfestival vorgestellt. Im 100-minütigen Film spielen unter anderen Helen Mirren als Golda Meir, Camille Cottin als Golda Meirs Assistentin Lou Kaddar, Henry Goodman als Schimon Agranat, Liev Schreiber als Henry Kissinger, und Rami Heuberger als Mosche Dajan.
Fatale militärische Fehleinschätzung
Golda ist ein Portrait einer herausragenden politischen Führungspersönlichkeit, die einem enormen Druck ausgesetzt ist. Die Helden im Film sind vor allem Golda Meir (1898-1978) und ihre persönliche Assistentin Lou Kaddar, die ihr immer wieder nicht nur sprichwörtlich „unter die Arme greift“. Genauso sind es aber die Soldaten der israelischen Armee, die die Liebe zu ihrer Heimat verteidigen. Der Film handelt von Golda Meir als wichtigste politische Entscheidungsträgerin während des Yom Kippur Krieges und von den Entscheidungsprozessen während des Krieges. Er handelt auch von ihrem politischen Erbe als Wegbereiterin des israelisch-arabischen Friedensabkommens von Camp David 1978 unter ihrem Nachfolger Menachem Begin und dem ägyptischen Präsidenten Anwar al-Sadat, dem ersten arabisch-israelischen Friedensabkommen überhaupt.
Als Rahmenhandlung dient dem Film die nach dem Vorsitzenden Richter Schimon Agranat benannte staatliche Untersuchungskommission, die 1974 tagte. Vor dieser musste die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir über das Versagen der israelischen Regierung im Jom-Kippur-Krieg aussagen. Die Szenen im Film wechseln sich zwischen dem in Goldas Amtssitz tagenden Kriegskabinett, dem Lagezentrum des Generalstabs und dem tatsächlichen Kriegsgeschehen, aber auch Einblendungen historischer dokumentarischer Filmszenen, ab. Im Filmgeschehen zeigt sich die Tragödie des Jom-Kippur-Krieges vor allem als Versagen der militärischen Führung und des militärischen Nachrichtenwesens, die unmittelbare Kriegsgefahr richtig einzuschätzen und sich angemessen darauf vorzubereiten.
Augenhöhe mit Henry Kissinger
Die kettenrauchende Ministerpräsidentin Meir wird als lebenswirkliche Persönlichkeit gezeigt. Der Krieg tritt nicht nur für ihr Land zu einer ungünstigen Zeit ein, sondern auch für ihr eigenes Leben. Bei Kriegsbeginn durchläuft sie gerade eine Strahlentherapie wegen Lymphknotenkrebs. Zur sowieso schon stark angeschlagenen Gesundheit kommt der enorme psychische Druck, der auf ihr lastet. Meir trägt die Verantwortung für die richtigen Entscheidungen für Israels Überleben in der größten Bedrohungslage der jüdischen Nation seit dem Holocaust.
Sie muss auch die unterschiedlichen Vorstellungen und Handlungsforderungen von Verteidigungsminister Mosche Dajan, dem Generalstabschef David „Dado“ Elazar, den Kommandeuren der Teilstreitkräfte und dem Leiter des militärischen Nachrichtendienstes, Eli Zeira, und dem Mossad-Chef, Zvi Zamir, moderieren. Mit zunehmender Kriegszeit kommt noch das internationale Parkett hinzu, vor allem mit den Forderungen des US-Außenministers Henry Kissinger. Dieser macht sogar einen persönlichen Besuch in der Residenz der Ministerpräsidentin. Bei der Gelegenheit erklärt er seine Prioritäten: „Ich bin in erster Linie Amerikaner, dann Außenminister der Vereinigten Staaten, und erst dann Jude.“ Worauf Golda Meir wenig beeindruckt antwortet: „Und Sie sollten wissen, dass in Israel von rechts nach links gelesen wird.“
Einzigartige Charakterstärke
Der Grund für Henry Kissingers Besuch in Israel geschieht vor allem vor dem Hintergrund der amerikanischen Politik der „Eindämmung“ der Sowjetunion. Kissinger ist darum bemüht, die USA gegenüber Israel und der arabischen Welt neutral zu positionieren. Daher fordert er Verhandlungen für einen Waffenstillstand Israels mit Ägypten. Trotz seiner strategischen Vorbehalte kann Meir ihn aber überzeugen, an Israel Kampfflugzeuge zu liefern, die die stark dezimierte israelische Luftwaffe dringend benötigt. Auf die von Kissinger geschilderte Bedrohung durch ein mögliches militärisches Einschreiten der Sowjetunion zugunsten Ägyptens reagiert die Ministerpräsidentin mit einer Erinnerung aus Ihrer frühen Kindheit in Kiew. In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts erlebte Goldas Familie in der Ukraine antijüdische Pogrome, vor denen sie sich im Keller verstecken mussten. Die Erfahrung von Antisemitismus im zaristischen Russland ließ sie gegenüber der akuten sowjetischen Bedrohung für Israel furchtlos werden.
Meirs Charakterstärke, ihr persönliche Führungsstil und ihre Fähigkeit, aus der bis dato größten Krise für den jüdischen Staat eine Chance für einen zukünftigen israelisch-ägyptischen Frieden zu gestalten, werden besonders betont. Als am Ende des Krieges die dritte ägyptische Armee am Suez-Kanal von israelischen Truppen eingeschlossen wird, hält Meir gegenüber Kissinger den Druck aufrecht. Sie will die Anerkennung Israels als „Staat Israel“ und nicht nur als „zionistische Entität“ durch Ägypten und direkte Verhandlungen zwischen Ägypten und Israel erreichen. Die „alte Dame“ droht dem amerikanischen Außenminister mit der Schaffung eines „Heeres von Witwen und Waisen“ durch die Zerstörung der umzingelten feindlichen Armee. Sie will damit auch einen umfassenden Kriegsgefangenenaustausch erreichen.
Zu Meirs Charakterisierung gehört auch ihre Anteilnahme an der Trauer einer Stenotypistin in ihrem Büro, deren Sohn bei den Kämpfen gefallen ist. Der Generalstabschef bringt im Gespräch mit Golda die psychologische Lage der Nation auf den Punkt: „Dieses Land ist traumatisiert“.
Verantwortungsbewusstsein für die israelische Nation
Auch gegenüber der Generalität, in der unterschiedliche Lageeinschätzungen und persönliche Karrierepläne miteinander konkurrieren, verbindet sich in Goldas Person Klugheit, Weitsicht und Menschlichkeit. Sie übernimmt sogar die Verantwortung für das Versagen der Militärs und Verteidigungspolitiker bei der Einschätzung der Kriegsgefahr. Sie tut dies aus ihrem Verantwortungsbewusstsein für die israelische Nation heraus. Letztlich gesteht Meir ihr Scheitern auch vor der Agranat-Untersuchungs-kommission ein, die sie aber von schuldhaftem Fehlverhalten freispricht. Nachdem die Kommissionsmitglieder ihre Befragung beendet haben, erklärt sie: „Ich hätte auf mein Bauchgefühl hören sollen.“ Ihr Bauchgefühl habe ihr gesagt, dass sie am Vortag des Jom-Kippur-Krieges die Warnungen über einen möglichen Angriff von Ägypten und Syrien hätte ernster nehmen und die volle Mobilisierung anordnen sollen. Tatsächlich ordnete sie zu Beginn des Films nur eine Teilmobilisierung von 120.000 Mann an. Dies war ein Kompromiss zwischen den divergierenden Ansichten innerhalb des Generalstabes. Sie spricht dies aber mit der Bitte gegenüber der Kommission aus, ihren letzten Kommentar nicht mehr in die Kommissionsakten aufzunehmen.
Im Oktober 2023, 50 Jahre nach dem Jom-Kippur-Krieg, kam es erneut zu feindlichen Angriffen auf Israel, auf die der jüdische Staat nicht ausreichend vorbereitet war. Warnungen über einen wahrscheinlichen Angriff wurden von israelischen Nachrichtendiensten falsch bewertet. Ähnlich wie nach dem Jom-Kippur-Krieg wurden und werden heute Untersuchungskommissionen gefordert und in unterschiedlichen Zuständigkeitsbereichen teilweise bereits durchgeführt. So mag der Film Golda zu Diskussion über die Parallelen zwischen damals und heute anregen, nicht zuletzt auch bezüglich eines möglicherweise übertriebenen Selbstbewusstseins der israelischen Militärführung, jeder Bedrohungslage Herr zu sein, wie auch hinsichtlich der Traumatisierung des israelischen Volkes, der Frage nach politischer Führung in Kriegszeiten und den Möglichkeiten von Friedensabkommen mit der arabischen Welt.
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