Was ist die Wurzel des Judenhasses?

Von Gott auserwählt, aber vielleicht gerade darum Zielscheibe der Kritik: Abrahams Reise aus Ur nach Kanaan, Gemälde von József Molnár aus dem Jahr 1850.© ANN RONAN PICTURE LIBRARY Ann Ronan Picture Library Photo12 via AFP
Die „Neidtheorie“ und andere Erklärungsmodelle bieten nur lückenhafte Erklärungen für den Ursprung des Antisemitismus. Vielleicht liegt die Ursache tiefer oder in Bereichen, die sich uns aufgrund ihrer Absurdität nicht erschließen. Eins dürfte aber sicher sein: Der Hass auf Juden ist besonders in der heutigen Zeit zumeist islamisch und ist auch fast immer ein Hass auf den Westen. Die Islamis und Kalifatfreunde grölen nahezu täglich auf den Straßen und öffentlichen Plätzen unserer Städte, dass der Westen endlich verschwinden muss. Die westliche Ethik und der Reform- und Revolutions-geläuterte freie westliche Lebensstil wird in der tiefsten Faser der meisten Islamis aber auch der Grünen und der Linken entschieden verabscheut. Ausgerechnet die wirklichen und gefährlichen Krebsgeschwüre dieser Welt, die Grünen, die Linken und der Islam bezeichnen nun ihrerseits den Westen, von dessen Toleranz und dessen bis zum Suizid gehenden Großzügigkeit sie am meisten profitieren, als rassistisch-imperiales Krebsgeschwür, das bekriegt und aus der Welt geschaffen werden muss. (JR)
Nie in der Menschheitsgeschichte waren die Juden etwas anderes als eine Minderheit unter den Völkern, ein Zwerg im Schatten vorbeiziehender Imperien und Großmächte. Nie haben sich die Juden ein Weltreich zusammenerobert wie die Perser, Griechen und Römer, wie die Mongolen oder die Briten. Auch im Vergleich zur heutigen Macht der USA, der chinesischen oder arabischen Welt muss niemand fürchten, von Juden überrannt und erobert zu werden. Trotzdem gibt es kein Volk, das über Jahrtausende so gehasst wurde. Quer durch die Epochen wünschen Millionen von Antisemiten den Juden immer wieder die Auslöschung.
Wie ist es möglich, dieses Phänomen zu erklären? Es lässt sich jedenfalls nicht auf „Antijudaismus“ reduzieren. So bezeichnet man die Feindschaft christlicher Gruppen gegen die Juden mit Verweis auf ihre angebliche Schuld an der Kreuzigung Jesu. Diese Form des Antisemitismus im Namen des Evangeliums hat großen Schaden angerichtet, das darf nicht verharmlost werden. Aber Judenfeindlichkeit gab es schon vor dem Christentum. Sie reicht bis in die Antike und hat sich während der römischen Kaiserzeit zugespitzt. Nach der Entstehung des Islam im 7. Jahrhundert breitete sich zudem der islamische Antisemitismus aus, der weder das Christentum noch das europäische Mittelalter benötigt, um seine Judenfeindschaft zu begründen.
Schäumender Antisemitismus im Zeitalter der Aufklärung
In der Neuzeit wurden antisemitische Narrative über eine angeblich verborgene Weltherrschaft der Juden in Europa salonfähig, durch Texte wie die „Protokolle der Weisen von Zion“ oder angesehene Denker wie Voltaire und Hegel, die den Juden die Erfindung des Monotheismus als Ursache vorhandener Weltprobleme vorwarfen. In einer Schrift wendet sich Voltaire an die Juden: „Ihr übertrefft sämtliche Nationen mit euren unverschämten Märchen, eurem schlechten Benehmen und eurer Barbarei. Ihr habt es verdient, bestraft zu werden, denn das ist euer Schicksal.“
Ein schäumender Antisemitismus, der im Zeitalter der Aufklärung keinesfalls selten war und den späteren Nazis den Boden bereitete. Die Judenfeindlichkeit kam allerdings auch von links, wie die Geschichte der Frühsozialisten, der europäischen Arbeiterbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts und der marxistischen Klassiker zeigt. 1880 war in Russland das Jahr der großen Pogrome, und nach dem Zweiten Weltkrieg gab es stalinistische Kampagnen und Schauprozesse „gegen Zionismus und Kosmopolitismus“. Vor seinem Tod hatte Stalin geplant, alle Juden in das autonome Gebiet Birobidschan zu deportieren und unterwegs ein Drittel von ihnen zu erschlagen.
Uno-Resolutionen gleichen Anti-Israel-Propaganda
Auch Jahrzehnte nach dem Holocaust und der kommunistischen Verfolgung ist der Antisemitismus in Europa keine Randerscheinung. Im Gegenteil nimmt er wieder stark zu, sei es durch die Migration aus islamischen Ländern, durch neofaschistische Kreise oder einen postkolonialen Wokeismus, der große Teile des westlichen Bildungs- und Kulturwesens dominiert und unter dem Etikett des Antikolonialismus und der Israelkritik den Islamismus hofiert. Die Relativierung des Holocausts verbindet sich mit islamischem Israelhass und links-grünen Darstellungen des Landes als eines weißen Kolonialprojekts.
Gleichzeitig missbraucht die Uno Jahr für Jahr ihre Resolutionen für antiisraelische Propaganda. Rechnet man alle Resolutionen gegen China, Nordkorea, Syrien, Russland, Iran, Saudi-Arabien und Terrororganisationen wie die Hamas zusammen, erscheint Israel für die Uno immer noch als der unmenschlichste aller Orte. Man misst systematisch mit zweierlei Maß, sekundiert von vielen Medien. Der Antisemitismus braucht offensichtlich kein Römisches Reich, keinen christlichen Fanatismus, keinen islamischen Terror und auch keine linke oder rechte Ideologie, um die Jahrhunderte zu überdauern. Er überspannt zeitliche wie politisch-religiöse Grenzen.
Und genau das ist eine Tatsache, die regelmäßig übersehen wird. Aktuell zeigt sich das etwa bei Diskussionen über Israel und „Palästina“. Es dominiert das Narrativ des Territorialkonfliktes, das zur Annahme verleitet, der Konflikt lasse sich durch eine Neueinteilung der Territorien lösen. Diese Lesart bleibt an der Oberfläche, ohne Sinn für die Wurzel des Problems. Unabhängig von Israel wütet der islamistische Judenhass nämlich seit Jahrhunderten und würde auch dann weiterbestehen, wenn der Nahe Osten ganz den Arabern gehörte. Es ist ein Hass mit dem erklärten Ziel, alle Juden weltweit auszulöschen. Im Übrigen ist der Islamismus keine Reaktion auf den Imperialismus der USA, er ist selber imperialistisch und war schon auf der Welt, lange bevor die USA gegründet wurden.
Die These von Papst Benedikt
Bei der Antwort auf die Frage, warum der Judenhass über die Jahrhunderte und Kulturen hinweg immer neu auftaucht, greift die Antisemitismusforschung unter anderem auf die „Neidtheorie“ zurück. Der überdurchschnittlich hohe Bildungsgrad von Juden und der Erfolg ihrer Kultur, ob wirtschaftlich, wissenschaftlich-technologisch oder moralisch, sollen den Neid von Nichtjuden wecken. Mit den Worten des berühmten Autors H. G. Wells in einem Essay von 1936: „Der Jude rafft sich das Eigentum, er sichert sich seine Stellung. Der Nichtjude spürt, dass er durch all diese Flinkheit um seine Chancen betrogen wird. Er ist verblüfft und wird schließlich zornig.“
Da es allerdings immer auch Antisemiten gegeben hat, die selber erfolgreich und angesehen waren, ohne das Judentum deswegen weniger zu hassen, muss es tiefergehende Ursachen geben. Diese könnten an das grundsätzliche Verhältnis des Antisemiten zu Gott rühren.
Der Gott der Bibel hat die Juden zum auserwählten Volk erklärt und ihnen die Zehn Gebote anvertraut, die zu den Grundlagen des Christentums und der westliche Zivilisation gehören. Im Jahr 2010, zum 65. Gedenktag der Befreiung von Auschwitz, hatte Papst Benedikt XVI. ausgeführt: „Im Tiefsten wollte man mit dem Zerstören Israels, mit dem Austilgen dieses Volkes den Gott töten, der Abraham berufen, der am Sinai gesprochen und dort die bleibend gültigen Masse des Menschseins aufgerichtet hat (. . .). Wenn dieses Volk einfach durch sein Dasein Zeugnis von dem Gott ist, der zum Menschen gesprochen hat und ihn in Verantwortung nimmt, so sollte dieser Gott endlich tot sein und die Herrschaft nur noch dem Menschen gehören.“
Ärgernis für alle, die im Chefsessel der Existenz sitzen wollen
Dass der Mensch den Wunsch hat, kein Geschöpf, sondern selber Schöpfer zu sein, ist so bekannt wie die Geschichte von Adam und Eva. Nun kann man das Judentum als Zeugnis gegen diesen Wunsch verstehen. Als Zeichen dafür, dass Gott die Regeln des Lebens setzt und dass die Juden als Priestertum unter den Völkern, wie die Bibel sagt, besonders gerufen sind, die Welt an diese Regeln zu erinnern.
Das ist ein Ärgernis für alle anderen Religionen, ebenso für atheistische und technologiegläubige Gruppen, die sich dagegen verwahren, das Leben als etwas zu sehen, das sich einem Gott verdankt, den man lieben, ja dessen Gebote man halten soll. Ein Ärgernis für alle, die selber im Chefsessel der Existenz sitzen wollen. Indem man das Judentum auslöscht, will man dieses Ärgernis auslöschen. Man will vergessen, dass kein Mensch über seine Geburt, über das Geschenk von Liebe und Freiheit, über sein biologisches Geschlecht oder über den letzten Sinn des Lebens verfügt. Und man will vergessen, dass das Judentum, zusammen mit dem Christentum, die Seele der freien Welt ist.
Wunsch nach zivilisatorischem Vatermord
In diesem Sinn enthält der Antisemitismus den Wunsch nach einem zivilisatorischen Vatermord. Der Hass auf Juden wird zum Hass auf den Westen. Der Westen muss verschwinden, denn er wird nicht als Errungenschaft angesehen. Linke und islamistische Kreise sehen ihn als rassistisch-imperiales Krebsgeschwür der Welt, neofaschistische Kreise sehen ihn als Hort der Dekadenz und Entartung, gegen den nur eine Nation der Starken und Reinen hilft.
Wenn jedoch die westliche Zivilisation, wie wir sie heute kennen, bei allen Schwächen die beste aller möglichen Grundlagen für ein Leben in Freiheit und Würde darstellt, für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit, dann wäre ihr Verschwinden eine Katastrophe. Dann ist der Antisemitismus eine Gefahr für den Liberalismus. Dann stehen sich am Ende nicht Freunde und Feinde des Judentums gegenüber, sondern Freunde und Feinde der Freiheit. Freunde und Feinde einer Weisheit, die daran erinnert, dass Gott keine Erfindung des Menschen ist, sondern der Mensch eine Erfindung Gottes.
So bleibt der Antisemitismus eine Warnung vor dem Hochmut, das zu vergessen und allein auf weltliche Ideologien und Technologien zu setzen, im Glauben an Selbstoptimierung und Selbsterlösung. Wer gegen Antisemitismus kämpft, kämpft auch gegen diese zerstörerische Illusion. Er kämpft für eine Zivilisation, die um die Grenzen des Menschen weiß und gerade deshalb imstande ist, die Würde des Einzelnen zu schützen und zu garantieren.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Neuen Zürcher Zeitung
Giuseppe Gracia ist Schriftsteller und Kommunikationsberater.
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