Uwe Wittstock: „Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur“

Nach dem Angriffskrieg Hitler-Deutschlands auf seine Nachbarn, setzte eine nie zuvor dagewesen Fluchtwelle ein und führte eine große Zahl von Flüchtlingen, darunter sehr viele jüdische Menschen, nach Marseille. Die französische Stadt war ein Knotenpunkt für die weitere Flucht auf dem Weg in die Freiheit. Hier kreuzten sich 1940 die Wege zahlreicher deutscher und österreichischer Schriftsteller, Intellektueller und Künstler. Marc Chagall, Lion Feuchtwanger, Walter Mehring, Franz Werfel, Hannah Arendt, Heinrich Mann, Max Ernst, Walter Benjamin und all die anderen, gehörten zu den Hilfesuchenden, die sich irgendwann in Marseille einfanden. In seinem Buch „Marseille 1940: Die große Flucht der Literatur“ skizziert Uwe Wittstock die Geschichte der in Frankreich Asyl suchenden und zum großen Teil auf die weitere Flucht wartenden deutschen Künstler. (JR)
Nach dem 30. Januar 1933 und der Inmachtsetzung Hitlers ging alles sehr schnell: Reichstagsbrand, Judenboykotte, Bücherverbrennung, Vertreibung, Ausbürgerung von Gegnern des Nationalsozialismus, Novemberpogrom – und dann Krieg. Überfall auf Polen. 10. Mai 1940: Beginn der Westoffensive. Einmarsch der Wehrmacht in die neutralen Niederlande, Belgien und Luxemburg. Dann ist Frankreich an der Reihe und kapituliert nach wenigen Wochen. Am 22. Juni 1940 wird ein deutsch-französischer Waffenstillstand unterzeichnet. Die Wehrmacht besetzt den Nordosten Frankreichs und die Atlantikküste; die kollaborierende Regierung Philippe Pétain wählt das unbesetzte Vichy als ihren Regierungssitz und avanciert zu Hitlers Handlanger.
Eine nie zuvor dagewesen Fluchtwelle kommt ins Rollen und führt viele nach Marseille. Marseille ist ein Knotenpunkt für die weitere Flucht auf dem Weg in die Freiheit. In dieser Stadt kreuzen sich 1940 die Wege zahlreicher deutscher und österreichischer Schriftsteller, Intellektueller und Künstler.
Das Tor zur Freiheit
Anfang August 1940 ist Marseille hoffnungslos überfüllt. Die Stadt hatte vor dem Krieg 900.000 Einwohnen, jetzt, 1940, sind über eine halbe Million Flüchtlinge hinzugekommen. Marseille hat seit der Teilung Frankreichs den einzigen Überseehaften, der nicht von den Deutschen kontrolliert wird. Hier befinden sich die Konsulate, deren Visa jeder braucht, der den Nazis entkommen will.
Es ist eine irrsinnige, aus den Fugen geratene Welt, in der eine ganze Generation deutscher und deutsch-jüdischer Intellektueller, Schriftsteller, Künstler und aus anderen Geisteswissenschaften Stammende zur Flucht vor NS-Deutschland gezwungen sind, darauf angewiesen, Helfer zu finden, die bereit sind, mit hohem persönlichem Risiko und unter Einsatz ihres Lebens und uneigennützig, Hilfe suchende Menschen ins rettende Ausland zu schleusen. In Marseille finden sie alle möglichen Hilfsorganisationen, die Flüchtlinge unterstützen.
Uwe Wittstock hat in seinem glänzend geschriebenen Essay über das Marseille des Jahres 1940 die Geschichte der in Frankreich Asyl gefundenen und auf weiter Flucht wartenden deutschen Flüchtlinge nachgezeichnet. Seine szenisch dicht episoden- und kaleidoskopartig erzählte Geschichte fesselt und begleitet den Leser durch die Lektüre. Seine Quellen sind Briefe und Tagebücher, Erinnerungen, Autobiografien und Interviews einiger viel gelesener Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Theaterleute, Künstlerinnen und Künstler.
Marc Chagall, Lion Feuchtwanger, Walter Mehring, Franz Werfel, Hannah Arendt, Heinrich Mann, Max Ernst, Walter Benjamin und all die anderen, gehörten zu den Hilfesuchenden, die sich irgendwann in Marseille einfanden. Sie alle hatten die gleichen Fluchtrouten und man musste auch kein Jude sein, um von den Nazis aus Deutschland verjagt zu werden wie zum Beispiel der sich große Verdienste um Deutschland erworbene Politiker Rudolf Breitscheid, 1918/19 Preußischer Innenminister und einige Jahre SPD-Fraktionsvorsitzender im Reichstag, der, zunächst in Marseille versteckt, dort im August 1940 verraten, verhaftet, nach Vichy gebracht, der Gestapo ausgeliefert und nach Buchenwald deportiert wurde. Dort kam er bei einem amerikanischen Luftangriff im August 1944 ums Leben.
Kollaborateure und Fluchthelfer
Die Franzosen hatten sich im Waffenstillstandsabkommen vom Juni 1940 verpflichtet, Deutsche auszuliefern. Doch gingen sie weit über die pflichtschuldige Auslieferung auf Verlangen hinaus und spürten eigeninitiativ unliebsame Menschen auf und übergaben diese den Nazi-Behörden. Am 30. Oktober 1940 hatte Marschall Pétain in einer Rundfunkansprache erklärt, dass er ab sofort den Pfad der Kollaboration einschlagen werde.
Die seit Anfang der 1940er Jahre im südfranzösischen agierenden Fluchthelfer handelten nicht aus Abenteuerlust, sondern waren vom humanitären Geist beseelte Widerstandskämpfer, die sich den Kaskaden der obwaltenden NS-Gewalt, die die europäischen Länder erschütterte, mutig entgegenstellten und ein hohes Risiko eingingen. Einige, wie das Fluchthelfer-Ehepaar Hans und Lisa Fittko, haben ihre Biografen gefunden, die meisten jedoch schafften es nicht einmal in die Enzyklopädie des Holocaust.
Zentrale Figur im Wittstock’schen Buch ist Varian Mackey Fry (1907-1967), ein US-amerikanischer Journalist und Fluchthelfer in Frankreich, der mindestens 2.000 Menschen das Leben gerettet hat. Er führte in Marseille ein Rettungsnetzwerk, das Menschen ermöglichte, vor den Nationalsozialisten zu fliehen. Ihm gelang es, trotz vieler Widerstände auch der US-Botschaft, Flüchtlingen den Weg über die Grenze nach Spanien ins neutrale Portugal zu ermöglichen, von wo sie in die Vereinigten Staaten weiterreisen konnten. Fry und seine Mitstreiter riskierten uneigennützig Leib und Leben, um die Verfolgten außer Landes zu schmuggeln. Vielen von diesen schafften es nicht, in die Freiheit zu gelangen, andere nahmen sich aus Angst vor den Verfolgern das Leben.
Ein besonders tragischer Fall stellt das Schicksal des Walter Benjamin dar, der bereits seit September 1933 in Paris lebte, Hannah Arendt kennengelernt hatte und von ihr unterstützt worden war: Der Philosoph und Literatur-Kritiker war dank der Hilfe französischer Freunde zunächst aus einem Internierungslager entlassen, doch im Mai 1940 wieder interniert worden. Im Gegensatz zu anderen Exilierten war Benjamin sich der Gefahr durch die Nazis und ihren französischen Helfershelfern durchaus bewusst.
Es waren die Fittkos, österreichische Widerstandskämpfer und im Zweiten Weltkrieg Fluchthelfer über die Pyrenäen zwischen Frankreich und Spanien, die Walter Benjamin zur Flucht verhelfen wollten. Der 48-jährige Benjamin litt jedoch an Herz-Rhythmus-Störungen. Weitere Schwierigkeiten standen den Flüchtenden noch bevor, bis sie die spanische Grenze, den Ort Port Bou erreichten. Doch die spanischen Grenzer verweigerten den rettenden Stempel „entrada“. Benjamin hatte kein Ausreisevisum aus Frankreich und ohne dies durfte er Spanien nicht durchqueren. Ihm wurde noch erlaubt, unter Aufsicht die Nacht in einem Hotel zu verbringen. Benjamin war völlig erschöpft. Ein Arzt wurde gerufen, der ihm eine Injektion gab. Am nächsten Morgen, dem 26. September 1940, wurde noch einmal ein Arzt gerufen, der einen Schlaganfall feststellte. So starb der große Philosoph Walter Benjamin, einer der bedeutendsten deutsch-jüdischen Schriftsteller, dessen Schriften in alle Weltsprachen übersetzt wurden, ein Polyhistor, ein „Homme de lettres“, wie er sich selbst gerne bezeichnete.
Marc Chagalls Fluchtgeschichte
Da ist auch das Beispiel Marc Chagall, damals schon ein international anerkannter Maler, der, realitätsfremd, die Gefahr nicht erkennend, in der er sich als Jude im besetzten Frankreich befand. Die Nazi-Behörden und ihre Helfershelfer hatten es auf jeden einzelnen Juden abgesehen. Das Ehepaar Marc und Bella Chagall, ausgestattet mit einem Visum, das Varian Fry besorgt hatte, benötigte noch ein Affidavit, um in die USA zu gelangen – und hatte 3000 Dollar Garantiesumme vorzuweisen.
In Marseille geriet Chagall in eine Polizei-Razzia und wurde festgenommen. Varian Fry fand heraus, welcher Sicherheits-Offizier für die Verhaftung verantwortlich war und rief ihn an. Daraus ergab sich folgender Dialog: „Wissen Sie, wer Marc Chagall ist?“ fragte Fry. „Nein“. „Er ist einer der größten lebenden Künstler“. „Oh!“ „Sollte die Nachricht von seiner Verhaftung durchsickern, so wäre die ganze Welt entsetzt“. Wenn Chagall nicht innerhalb einer halben Stunde auf freiem Fuß sei, wolle er, Fry, den Korrespondenten der „New York Times“ in Vichy von dem Skandal unterrichten. „Ich werde mich sofort um den Fall kümmern“, lautete die Antwort. Chagall wurde freigelassen und wenige Tage später bestieg er mit seiner Familie ein Schiff. Am 23. Juni 1940 kamen sie in New York an.
Man hätte erwarten können, dass die von Uwe Wittstock beschriebenen Fluchthelfer und Menschenretter nach Kriegsende als Helden geehrt und geachtet worden wären. Dem war nicht so. Varian Fry, pars pro toto, ist, wie anderen Fluchthelfern auch, wenig Anerkennung zuteilgeworden, obwohl die deutsche Kulturgeschichte ihm doch viel zu verdanken hat. Eine deutschsprachige Biografie über ihn ist noch nicht geschrieben.
Uwe Wittstock: Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur, Verlag C. H. Beck, München 2024, 351 S., 26 Euro
Sehr geehrte Leser!
Die alte Website unserer Zeitung mit allen alten Abos finden Sie hier:
alte Website der Zeitung.
Und hier können Sie:
unsere Zeitung abonnieren,
die aktuelle oder alte Ausgaben bestellen
sowie eine Probeausgabe bekommen

in der Druck- oder Onlineform

Werbung