Die Fotografie des 20. Jahrhunderts und die jüdischen Welten hinter den Bildern

Das Museum für Fotografie in Berlin.


Die Ausstellung „Chronorama – Treasures of the 20th Century“ im Museum für Fotografie in Berlin zelebriert das goldene Zeitalter der Fotografie zwischen den 1910er und 1970er Jahren mit Bildern aus dem Archiv von Condé Nast – dem Verlagshaus, das u.a. die Modezeitschrift Vogue herausgibt. Portraits wie das der jüdischen Bildhauerin René Sintenis haben eine außergewöhnliche Symbolkraft und lassen tief in die Seele der jeweiligen Schaffenszyklen blicken. Die Ausstellung läuft noch bis zum 20. Mai 2024. (JR)

Von Sabine Marie Wilke

Auf den ersten Blick ist dies keine Ausstellung mit jüdischem Bezug. Sehen würde man diesen sowieso nicht auf den etwa 270 gezeigten Fotos: keine Menorah, Synagoge, Kippa oder sonstiges. Die Ausstellung „Chronorama – Treasures of the 20th Century“ im Museum für Fotografie in Berlin zelebriert das goldene Zeitalter der Fotografie zwischen den 1910er und 1970er Jahren mit Bildern aus dem Archiv von Condé Nast – dem Verlagshaus, das mitunter die Modezeitschrift Vogue herausgibt. Die Welt des Glamours steht in Vordergrund. Der amerikanische Unternehmer Condé Nast hatte das kleine New Yorker Gesellschaftsmagazin 1909 gekauft und machte es zum Trendsetter in Sachen Stil und gutem Geschmack. Zudem bot er seiner Leserschaft aus der High Society Kunst und Kultur. Stars wie Charles Chaplin, Marlene Dietrich oder Igor Stravinsky wurden nicht nur abgebildet, sie wurden auch von den Stars der Fotografenzunft ins rechte Licht gesetzt, darunter Cecil Beaton, George Hoyningen-Huene, Horst P. Horst, Irving Penn und Bert Stern.

 

Auf Spurensuche

Aber es gibt doch Hinweise, von denen sich ein jüdischer Bezug ableiten lässt: New York und das 20. Jahrhundert. Eine frühe Generation jüdischer Emigranten hatte Europa schon um 1900 verlassen, um ein besseres Leben für sich in den USA zu schaffen. In den 1930er Jahren vertrieb dann das NS-Regime jüdische Fotografen aus Europa, die in New York oder andernorts im Exil begannen, für Condé Nast zu arbeiten. Der prominenteste unter ihnen ist der nach Australien geflohene Helmut Newton. Seiner Stiftung ist auch diese Ausstellung zu verdanken, die in Kooperation mit der Pinaut Collection entstand, die Teile des Condé-Nast-Archivs erwarb.

Interessanter als dieser bekannte Fakt sind die Entdeckungen, die sich ergeben, wenn man einige Spuren von Machern und Werk über die Ausstellung hinaus verfolgt – zumal die Ausstellung nur spärlich über sie Auskunft gibt. Chronologisch konzipiert, geben lediglich die Wandtexte – einer für jedes Jahrzehnt – einen groben Überblick über das, was damals in der Welt geschah und vor welchem gesellschaftlich-historischen Hintergrund die Bilder zu verstehen sind. Die Geschichten, die mit ihnen verbunden sind, bleiben verborgen.

Die Ausstellung beginnt 1910 und nimmt den Besucher auf eine Zeitreise durchs vergangene Jahrhundert. Die Anfänge liegen in einer Gesellschaft, die gern Dinnerpartys gab. Für die Damen von 1910 war es wichtig, was dazu getragen wurde. Neue Modeschöpfungen wurden zunächst in farbenfrohen Illustrationen vermittelt, bis Vogue die Modefotografie einführte. 1913 stellte sie eigens Adolph de Meyer dafür an. 1868 in Paris geboren, hatte er einen deutsch-jüdischen Bankier zum Vater und eine aus Schottland stammende Mutter. Vor seiner Kamera posierten Stummfilmstars wie Mary Pickford und Lillian Gish. Hier zu sehen ist allerdings eine beeindruckende Modeaufnahme von 1919, auf der ein Mädchen neben einem Globus sitzt. Das Bild fällt auf, da das Mädchen einen derart ernsten Blick hat, dass einem erwachsenen Model von heute gleicht. Zudem trägt sie einen Pagenhaarschnitt, d.h. fast einen Bubikopf, der erst in den 1920er Jahren modern wurde. Sie ist also ihrer Zeit voraus.

 

Portrait der Bildhauerin René Sintenis

Ein weiteres Bild, das durch seine Modernität besticht, ist Steffi Brandls Portrait der Bildhauerin René Sintenis von 1929. Anders als bei den meisten Studioaufnahmen der Zeit, liegt hier ein weißer Hintergrund vor. Sintenis’ extremer Kurzhaarschnitt und markanten Gesichtszüge könnten sie als jungen Mann durchgehen lassen. Ihr langärmliges gestreiftes T-Shirt gibt nichts über seine Zeit preis. Der androgyne Look und kühle Blick können einen leicht glauben lassen, das Bild sei erst gestern entstanden. Es ist unklar, wie das Bild ins Condé-Nast-Archiv gelangte. Beide waren während der Weimarer Republik in Berlin tätig. Allerdings zeigte das Museum of Modern Art in New York 1931 Sintenis’ Werke, was ein Anlass gewesen sein könnte, die moderne junge Frau im Magazin vorzustellen. Brandl und Sintenis waren jüdischer Herkunft. Während Brandl 1938 in die USA floh, überstanden Sintenis und ihr Mann die NS-Zeit zurückgezogen auf dem Lande.

Erwin Blumenfeld und André Kertész retteten sich nach New York und arbeiteten direkt für Condé Nast. Kertész traf 1936 in den USA ein und hatte sich bereits in Europa als Fotojournalist einen Namen gemacht; Blumenfeld etablierte sich Anfang der 1940er Jahre in Amerika als Modefotograf.

Eine andere Riege bilden die jüdischen Fotografen, die bereits in Amerika aufgewachsen waren, aber deren Eltern aus Europa stammten. Dazu gehörte Irving Penn. 1917 in New Jersey geboren, war er der Sohn eines litauisch-jüdischen Juweliers. Penn begann 1943 für Vogue zu arbeiten und produzierte mehr als 100 Titelseiten. Er fotografierte nicht nur Mode, sondern auch Persönlichkeiten wie Marlene Dietrich. Sein 1948 geschaffenes Portrait von ihr zeichnet sich durch schlichte Eleganz aus.

Ein Kollege, dessen Aufnahmen ab den 1960er Jahren das Blatt prägten, ist Bert Stern. 1929 in Brooklyn geboren, war er ebenfalls Kind jüdischer Einwanderer. Bekannt wurde er durch ein Fotoshooting mit Marilyn Monroe, das kurz vor ihrem Tod entstand. Markanter ist jedoch eine Studioaufnahme, die das britische Fotomodel Jean Shrimpton zeigt. Sie sitzt in einem langen weißen Kleid auf dem Boden und lehnt sich an den amerikanischen Entertainer Sammy Davis Jr., der im schwarzen Anzug lachend auf dem Boden liegt. Es gibt hier keine Notiz, wie es 1965 zu dem Foto kam, aber beide bilden eine ungewöhnliche und faszinierende Kombination.

 

Große Symbolkraft

Das Bild, das jedoch den stärksten Eindruck hinterlässt, ist ein völlig unscheinbares, das 1944 in einer Wohnung in New York entstand, also zu einer Zeit, in der in Europa der Krieg tobte. Es hängt gemeinsam mit Aufnahmen von Ruinen, die meilenweit entfernt sind. Sie stehen im starken Kontrast zum friedlichen Stillleben der Inneneinrichtung: ein kleiner Tisch, auf beiden Seiten eine Sitzgelegenheit. Auf dem Tisch eine Vase, aus der karge Zweige herausragen. An einigen Stellen blüht es schon. Die Symbolkraft ist ungeheuerlich. Die kleinen zarten Blüten sind hier mehr als Vorboten des Frühlings. Sie zeigen, wie aus etwas scheinbar Totem wieder Leben erwächst, sowie wie nach der Zerstörung der Städte Europas auch dort neues Leben entstand. Die beiden Sitzgelegenheiten laden gleichzeitig zum Gespräch und Austausch ein.

Der Titel lautet „Interior, Detail inside the Edward Norman Residence“; Norman wird als amerikanischer Finanzier und Philanthrop beschrieben. Eine Recherche ergibt, dass er sich in zahlreichen jüdischen Einrichtungen engagierte wie dem American Jewish Committee. 1939 rief er das American Fund for Israel Institutions hervor, das bei seiner Gründung, als es den Staat Israel noch nicht gab, American Fund for Palestinian Institutions hieß. Von 1936–55 war er zudem Direktor des Joint Distribution Committee. Seine Präsenz in der Ausstellung durch eine scheinbar völlig unpolitische Abbildung einer Inneneinrichtung zwischen Bildern des 2. Weltkrieges gibt dem Abschnitt der Ausstellung eine politische Note, die ohne ein Wort erfolgt. Ob den Kuratoren der Ausstellung Matthieu Humery von der Pinault Collection und Matthias Harder, Leiter der Helmut Newton Stiftung, diese Nuance bei der Anordnung der Bilder bewusst war?

Interessant sind auch die Fotografen des Motivs: Samuel H. Gottscho & William Schleisner. Gottscho war deutschen Ursprungs und spezialisierte sich auf Architekturfotografie, die vielfach New York einfing. Ab 1935 arbeitete er mit seinem Schwiegersohn William Schleisner. Informationen zu ihrer Religionszugehörigkeit waren nicht zu finden, aber man kann sie erahnen.

Ebenso Teil der Ausstellung ist der Architekturfotograf Julius Shulman mit der Außenaufnahme „The Beverly Hills Home of Mr and Mrs Nat Goldstone” von 1956. Goldstone war Produzent und das Haus vom Bauhausstil inspiriert. Shulman ist erwähnenswert, da selten jüdische Fotografen präsentiert werden, die Architektur festhalten – ganz im Gegensatz zu jüdischen Architekten, auf die zuweilen aufmerksam gemacht wird. Shulman war einer der bedeutenden amerikanischen Architekturfotografen der Nachkriegszeit.

Die Ausstellung lässt die hohe Kunst der Fotografie des 20. Jahrhunderts Revue passieren. Sie ist beeindruckend, aber spannender sind die Welten, die sich eröffnen, wenn man über das Abgebildete hinausblickt.

Die Ausstellung „Chronorama – Treasures of the 20th Century“ läuft noch bis zum 20. Mai 2024.

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