Buchrezension: Zur Neuauflage von Hyam Maccobys Hauptwerk „Der Heilige Henker“

 

Der britische Reformrabbiner und Judaist Hyam Maccoby beleuchtet in seinen Werken die Ursprünge des Antisemitismus. Neben der Judaslegende zeigt er, welche theologischen Dogmen des Christentums den Juden-Hass bis heute befeuern. In der heutigen Zeit ist es der Islam, der die Tradition des Antisemitismus in wiederum überaus gewalttätiger Form perpetuiert. (JR)

Von Dr. Peter Gorenflos

Der „Heilige Henker“, das Hauptwerk von Hyam Maccoby noch vor „Der Mythenschmied“ wurde in der Bundesrepublik 1999 zum ersten Mal im Jan Thorbecke Verlag veröffentlicht, immerhin mit einer Verspätung von 17 Jahren nach seiner Erstveröffentlichung in Großbritannien. Nach der Insolvenz von Thorbecke war es lange noch ruhiger geworden um dieses Meisterwerk. Die NZZ-Rezension aus dem Jahr 2000 könnte man eher als einen Verriss bezeichnen. Die aktuelle Debatte um das virulente Wiederaufleben des Antisemitismus in der westlichen Welt - nicht jedoch in Ländern ohne monotheistische Tradition! – erfordert aber einen vertieften Blick auf die religiösen Ursachen dieser antiaufklärerischen Pest, der vor allem deshalb vermieden wird, weil er mit den Interessen der einflussreichen Kirchen kollidiert, der allerdings seit einigen Jahrzehnten nachlässt. In Berlin z.B. sind gerade noch 20% der Bevölkerung Mitglied in einer der Amtskirchen. Glücklicherweise kam es 2021 zu einer Neuauflage von „Der Heilige Henker“ bei Ahriman, die der unabdingbaren Auseinandersetzung um die religiösen Implikationen des Antisemitismus neuen Auftrieb verleihen könnte.

 

Präzise Analyse

Selbst in den angelsächsischen Ländern, wo Maccoby längere Zeit durch das Theaterstück „Die Disputation“ Aufsehen erregt und Resonanz gefunden hatte, läuft er langsam Gefahr, in Vergessenheit zu geraten. Gemessen an dem Inhalt von Maccobys Arbeit ist das erstaunlich, denn kein anderer Autor hat nach präziser Erforschung aller zugänglichen Quellen – ganz in der Tradition jüdischer Gelehrter seit dem Mittelalter und auf deren Wissen aufbauend - die Ursprünge des Christentums so präzise analysiert, wie er. Um es ganz kurz zu machen: Nicht der jüdische Jesus, sondern der mit dem Judentum nur oberflächlich vertraute Konvertit und Grieche Paulus war der Gründer des Christentums. Er hatte Jesus nie persönlich kennengelernt und interpretierte seinen Tod am Kreuz im Sinne hellenistischer Mysterienreligionen. Dort wird ein Gott stellvertretend für die Sünden der Menschen geopfert, erlangt danach neues Leben, an welchem die Gläubigen teilhaben und damit selbst den Tod überwinden. Eine Geschichtsverdrehung der Extraklasse war geschaffen, denn historisch war die Kreuzigung die Todesstrafe der Römer für Jesu Anspruch auf den jüdischen Thron und für seinen Kampf für eine unabhängige jüdische Monarchie, für das Ende der römischen Besatzung, die Befreiung Judäas von den römischen Götzendienern. 

Die Gnosis gibt diesem paulinischen Mythenmix das äußere Gerüst mit einem „Höchsten Gott“, der vom Himmel herabsteigt, um einige Eingeweihte durch geheimes Wissen zu erleuchten und vom Demiurgen zu befreien, einer untergeordneten Macht, den diese hellenistische, antisemitische Denkrichtung mit dem jüdischen Gott Jehova gleichsetzte. 

Dass diese unerwünschten Einsichten unter den Teppich gekehrt werden, liegt an der Gewalt, die von den christlichen Organisationen ausgeht, deren Religion schlagartig ihre gesamte Substanz verliert, wenn sich Maccobys Analyse durchsetzt, Gewalt in dem Sinne, dass selektiert wird, wer an Universitäten, Schulen, in den Medien eine Multiplikatoren-Rolle bekommt oder nicht, denn überall dort haben die Kirchen ihre Repräsentanten positioniert, üben Einfluss aus, beziehen Geld, verhindern Aufklärung.

 

Die Rolle des Menschenopfers

In dem Meisterwerk „Der Heilige Henker“ geht Maccoby noch einen Schritt weiter in seiner Untersuchung und analysiert die Rolle des Menschenopfers, das lange Zeit eine grausame soziale Realität war, sei es bei der Abwehr einer Katastrophe, wie z.B. einer Epidemie oder eines Erdbebens, sei es um eine gute Ernte zu erwirken oder bei der Gründung einer Stadt oder eines neuen Stammes. Wie sich dieser entsetzliche Ritus aus der Jungsteinzeit auf die Entwicklung der Religionen im östlichen Mittelmeerraum auswirkte, das beleuchtet der britische Reformrabbiner und zeigt, wie das Menschenopfer im Judentum überwunden wird, angefangen beim Mythos von Kain und Abel, bis zu der Erzählung von der „Bindung des Issak“, der Akedah, in der es durch ein Tieropfer ersetzt wird. In der weiteren Entwicklung spielt das Opfer im Judentum eine zunehmend geringere Rolle und wird durch eine bewusste, selbstbestimmte und vernünftige Konfliktbewältigung ersetzt, durch das Gesetz, die Tora, den Bund. Der erste Gesellschaftsvertrag war geschaffen.

Die hellenistischen Mysterienkulte dagegen verklären das Menschenopfer. Es wird quasi symbolisch, rituell, „sublimiert“ weiter praktiziert. An seine Stelle tritt die Opferung eines Gottes und bleibt mit einem Schuldgefühl behaftet – einem zentralen psychologischen Mechanismus – dem man ausweicht, indem man die Schuld an seinem Tod einem zwiespältigen „Heiligen Henker“ in die Schuhe schiebt. Man braucht und verehrt ihn, weil er die erforderliche böse Tat ausführt, muss sich aber auch von ihm distanzieren, verachtet ihn, denn die Profiteure des Opfers wollen keine Verantwortung dafür übernehmen. In diesem primitiven Stadium bleiben die Erlösungsreligionen stehen und entwickeln sich nicht weiter Richtung Rationalität, Richtung „Gesetzesreligion“, wie das Judentum. Maccoby erklärt auch, weshalb die Mysterienreligionen in der Antike, nachdem sie lange Zeit kollektiv praktiziert wurden, zunehmend individualistische, ja, eskapistische Züge annahmen. Verantwortlich für diese Entwicklung war die wachsende Isolierung und Ohnmacht des Einzelnen gegenüber starken, straff organisierten Militärreichen nach dem Niedergang der Stadtstaaten. Ein Vergleich zur Gegenwart drängt sich auf.

 

Fataler Transformationsprozess

Paulus setzt mit seiner neuen Religion, dem Christentum, die Tradition der hellenistischen Kulte fort, allerdings mit einigen Besonderheiten. Die Rolle des geopferten Gottes pfropft er dem jüdischen Jesus auf, der historisch von den Römern durch die Kreuzigung hingerichtet wurde, wie so viele vor und nach ihm. Detailreich zeigt Maccoby, wie Paulus diesen Transformationsprozess vom geschichtlichen Ereignis zum religiösen Mythos durchkonstruiert, welche verheerenden Auswirkungen dieser Rückfall zum „Menschenopfer“ hatte, nachdem die Juden den jüdischen Krieg im Jahre 70 n.d.Z. verloren hatten und die Evangelisten ihre Geschichtsfälschung in den Evangelien vollendeten. Da die Christen im Römischen Reich aus Opportunismus den Konflikt mit den Römern vermeiden wollten, wurde die Rolle des „Heiligen Henkers“, auf die Juden verschoben. Nachdem das Christentum unter Kaiser Konstantin im 4. Jahrhundert n. d. Z. zur Staatsreligion wurde, nachdem es nach dem Untergang des weströmischen Reiches von den Franken auch nördlich der Alpen verbreitet wurde, war der Weg nicht mehr weit zu einem virulenten Antisemitismus, der im Holocaust kulminierte. Unter der Frankenherrschaft wurde das Christentum auch zum ideologischen Grundpfeiler des Feudalismus, der freie Bauern zu Leibeigenen degradierte.

Die Abwehr des Schuldgefühls, vom Tod des Gottes zu profitieren, die Grausamkeit der Tat aber einem „Heiligen Henker“ in die Schuhe zu schieben, dieser „Distanzierungsmechanismus“, wie es Maccoby nennt, spielt eine zentrale Rolle in der Geschichte der christlichen Religion, des christlichen Europas, die auch eine Geschichte des Antisemitismus ist. Maccoby deckt die verschlungenen Pfade vom archaischen Menschenopfer zum antiken Gotteslamm auf und legt die verborgenen Wurzeln des Christentums frei, das man freilich besser als „Paulinismus“ bezeichnen sollte. 

Nach der Lektüre dieses Buches wird klar, weshalb es nur so schwer seinen Weg an die Öffentlichkeit findet und weshalb es die Catholica am liebsten in einem akademischen Giftschrank verschwinden lassen würde. Es entlarvt die Päpste über die Jahrhunderte - wenn sie nicht gerade Zyniker waren, die ihre Schäfchen aus Profitgründen gezielt in die Irre führten - als blinde Blindenführer.

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