Begegnungen in Israel und Einladung zum Apfelstrudel
Israel – schon das Wort bekommt in diesen Tagen einen besonderen Klang. Geradezu ängstlich harrt man der neuesten Botschaften aus einem ins Herz getroffenen Land. Und wünscht sich ein Stück Normalität zurück, wohlwissend, dass das Leben angesichts der permanenten Bedrohungslage auch vorher nicht normal war. Der grausame Überfall der Hamas vom 7. Oktober 2023 hat das Land und seine Menschen verändert. Sie trotzen bei aller Wehrhaftigkeit der Angst, ihrer und unserer Angst. Umso wichtiger ist es den Menschen nahe zu kommen. Nähe schafft Vertrauen und ist die Grundlage jeden Mitgefühls.
In verdienstvoller Weise hat das Michael G. Fritz in seinem letzten Buch getan, einem Buch, das angesichts der neuesten Entwicklungen an Aktualität gewinnt. Das Buch ist eine Brücke in das vom Terror gedemütigte Land. Es gibt den Menschen eine Stimme und uns das gute Gefühl, an ihrer Seite zu sein.
In vielen Reisen nach Israel spricht Fritz mit den Menschen. Unvoreingenommen geht er den Lebensgeschichten nach, mit Einfühlungsvermögen beobachtet und notiert das Wesentliche, das Besondere, das Ungewöhnliche und zuweilen auch Alltägliche. Es sind Geschichten, die das Leben schreibt. Und doch sind sie anders, schon weil sie mit dem Judentum und Israel eine eigene Färbung erhalten. Lobenswert beherrscht Fritz die Kunst der Zurückhaltung, des Beobachtens, des Zuhörens, schon um nichts besser zu wissen als der Gesprächspartner selbst. Nur so entsteht ein ungetrübtes aussagekräftiges Bild.
Authentische literarische Porträts
Die Texte versammelt der in Dresden wie in Berlin lebende Schriftsteller in seinem neuesten Buch. Die meisten Begegnungen sind dem Zufall geschuldet, andere vereinbart. Fritz baut kein Puzzle, in dem sich alle Teile planvoll und vorhersehbar ineinanderfügen. Lücken und Widersprüche dürfen bleiben, ja scheinen beabsichtigt, um den literarischen Porträts Glaubwürdigkeit zu verleihen. Vollständigkeit ist nicht sein Ziel, wie denn auch bei einer so heterogenen Einwohnerschaft.
Fritz spricht mit einem Ziegenhirten und einer Rabbinerin, er besucht in der arabischen Altstadt von Akko das jüdische Restaurant des besten Fischkochs der Levante und in der Nähe des Gazastreifens ein Rockfestival. Er übernachtet in einem Kibbuz, wo er einer Holländerin begegnet, die als Freiwillige nach Israel kam und dort die Liebe ihres Lebens fand. Er wird von einem Beduinen in sein Dorf zum Essen eingeladen. An der Reaktion der jungen Frauen merkt er, dass sie selten Fremde zu Gesicht bekommen. Fritz lernt in Haifa eine arabische Christin kennen, die von getrennten Schulen für Araber und Juden erzählt. Und von Ehen, die zwischen beiden in Israel kaum vorkommen, da es die Zivilehe nicht gibt. Im Ergebnis wird im Ausland geheiratet, die sogenannte Zypernehe ist weit verbreitet. Und das nicht nur, weil sie staatlich anerkannt ist. „Mit 300 Euro, alles in allem, ist man dabei“, so die Gesprächspartnerin. Beim Baden im Toten Meer trifft er eine Deutsche, die sich in einen Israeli verliebte, der sie jedoch verließ. Wegen ihrer Tochter im Teenageralter kann sie nicht zurück nach Deutschland. Über sie erfährt Fritz, wie alleinstehende Frauen in Israel leben, selbst intime Details. Ein unbestechliches Zeugnis von Vertrauen zwischen dem Autor und der Gesprächspartnerin.
Mit der Gefahr arrangiert
Dieses Buch ist wohltuend unideologisch. Die Figuren sind authentisch und lassen ein Bild des Lebens in Israel entstehen. Fritz zeigt den Alltag des Landes, wie die Menschen miteinander umgehen, trotz und gerade wegen der politischen Umstände. Dabei ist die Auseinandersetzung mit den „Palästinensern“ nicht der einzige Konflikt, der die Menschen beschäftigt. Auch die Glaubens- und Kulturkämpfe verschärfen sich im eigenen Land mit dem wachsenden Einfluss der Orthodoxen. Dazu kommt eine hochsensible innenpolitische Lage mit einer Reihe von knappen Wahlergebnissen und schwierigen Regierungsbildungen. All dies hinterlässt Spuren.
Dennoch, trotz der täglichen Bedrohung der Hamas aus dem Gazastreifen und der Hisbollah aus dem Libanon, hat es die israelische Gesellschaft vermocht, ein funktionierendes Gemeinwesen aufzubauen und seinen Bürgern bestmöglichen Schutz zu bieten. Das Buch zeigt, dass sich die Menschen offenbar mit einem Leben in Gefahr arrangiert haben. Immer wieder hört Fritz das Argument, islamistisch motivierte Attentate kämen schließlich auch in Deutschland vor. Als Beispiel wird der Breitscheidplatz Berlin genannt. Ohnehin ist bemerkenswert, wie genau der Blick von Israel aus auf Deutschland ist. Das mag auch mit der Attraktivität Deutschlands zusammenhängen, die gerade auf junge Israelis eine besondere Anziehungskraft ausübt.
Verlässliche Zahlen gibt es nicht, aber allein in der Berliner Hauptstadtregion werden bis zu 30.000 Israelis vermutet. Glaubt man einer Studie der Bertelsmann-Stiftung wurden als Umzugsgründe „Freiheit, Selbstverwirklichung und die vergleichsweise niedrigen Lebenshaltungskosten“ genannt. Inwiefern auf Grund der Entwicklungen in Israel und der erschreckenden Zunahme an antisemitischen Straftaten und Vorfällen dieser lebendige Austausch ausgerechnet mit Deutschland beibehalten wird, ist abzuwarten.
Fritz hat in seinem Buch auch den „Berliner Isrealis“ das Wort gegeben. So, Ron Segal, einem in Rehovot bei Tel Aviv geborenen Schriftsteller. Segal ist nach Charlottenburg gezogen. Dorthin, wo einst seine Großmutter lebte. Als einzige der Familie schaffte sie es, sich als junges Mädchen ins britische Mandatsgebiet zu flüchten. Die Familie wurde von den Nazis nach Riga deportiert und dort ermordet. Sie, die Segal Deutsch beibrachte, hat natürlich ein zwiespältiges Verhältnis zu Deutschland. Doch auch sie hört nicht auf, Berlinerin zu sein.
Inwiefern Deutschland, seine Kultur und Sprache noch Bezugspunkt ist, wird auch an einer anderen Begegnung geradezu berührend deutlich. Einmal tritt eine ältere Frau an Fritz heran, erkennt sofort in ihm den Deutschen und bittet ihn um einige Worte in seiner Sprache. Ihr Vater war Deutscher, sie höre diese Sprache so gern.
Einladung zum Nachdenken
Nach vielen Romanen, der letzte trägt den hintergründigen Titel „Auffliegende Papageien“, und Erzählbänden erweist sich der Schriftsteller auch mit diesem Reisebuch als ein meisterhafter Erzähler, der neben politisch-analytischen Passagen auch die sinnlichen Eindrücke wahrzunehmen und zu beschreiben in der Lage ist, wodurch dem Leser ein farbiges, schillerndes Bild des zeitgenössischen Israel vermittelt wird.
Das Buch ist eine Einladung zum Nachdenken über Israel und zur Reise in dieses Land, das auf eine viertausendjährige Tradition zurückblickt, auf die man allerorten stößt und auf die sich Israel auch bezieht. Es erfasst nicht mehr die neue, traurige Realität, die seit dem 7. Oktober Einzug gehalten hat. Das ist kein Nachteil. Zwar ist die Unbeschwertheit, mit der der Schriftsteller das Rockfestival in der Negev besuchte, dahin. Aber wenn man sich diese Tatsache vor Augen hält, kann man dieses Buch auch als ein Zeugnis einer friedlicheren Zeit betrachten. Selbst wenn sie gar nicht so friedlich war, erscheint sie uns heute so. Zu den beängstigenden aktuellen Botschaften zählt auch die Aussicht auf eine ungewisse Zukunft in einer fragilen Welt. Umso wichtiger ist es, aufeinander zuzugehen, Vorurteile abzubauen und für ein Miteinander zu werben. Genau dies macht das Buch von Michael G. Fritz. Keine Frage, es ist ein großer Gewinn, denn es versöhnt auf seine Weise.
Übrigens ist Ron Segal vor kurzem trotz des Krieges nach Israel geflogen, um mit seiner Familie die Großmutter zu beerdigen, die mit 103 Jahren gestorben ist.
Michael G. Fritz, „Meinen Apfelstrudel sollten Sie sich nicht entgehen lassen – Schalom, Begegnungen in Israel“, Mitteldeutscher Verlag, 20,00 €.
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