Jüdisches Leben bis 1933: Ausstellung „Zwischen Emanzipation und Assimilation“

Ausstellungsansicht: Zwischen Emanzipation und Assimilation 
© Credit: Mitte Museum


Portraits prominenter jüdischer Berliner finden sich in der Dauerausstellung „Wir waren Nachbarn“ im Rathaus Schöneberg wieder. Darin werden etwa 150 Biografien vorgestellt, darunter Alfred Kerr, Kurt Tucholsky, Walter Benjamin oder Nelly Sachs. Das Mitte Museum in Wedding richtet nun den Blick auf jüdische Künstlerinnen und Künstler in Tiergarten vor 1933 mit der bildreichen Darstellung „Zwischen Emanzipation und Assimilation“ - eine Ausstellung, die gerade in diesen schrecklichen Tagen eine ungeahnte zusätzliche Bedeutung bekommt. (JR)

Von Sabine Marie Wilke

Wer jüdisches Leben in Berlin erkunden möchte, stößt schnell auf Stadtspaziergänge durch das Scheunenviertel, das nördlich des Alexanderplatzes liegt. Damals außerhalb der Stadttore gelegen, forderte Friedrich Wilhelm I. 1737 Juden ohne eigenes Haus auf, sich dort anzusiedeln. Da Juden nur durch die Stadttore im Norden in die Stadt durften, ließen sich später ostjüdische Einwanderer ebenfalls dort nieder.

Auch der wohlhabende Bezirk Charlottenburg ist bekannter für sein jüdisches Leben: die 1911/12 gebaute Synagoge in der Pestalozzistraße ist heute noch gut besucht und die zur gleichen Zeit entstandene prächtige Synagoge in der Fasanenstraße erinnert als Gemeindehaus seit den 1950er Jahren gleichermaßen an die Zeit.

Wer viel in der Stadt unterwegs ist, weiß, dass auch Schöneberg seiner ehemaligen jüdischen Mitbewohner gedenkt, gerade im Bayrischen Viertel, eine gutbürgerliche Gegend. Dort gibt es im U-Bahnhof Bayrischer Platz Informationstafeln und über dem Bahnhof das Café Haberland, das die prominenten Bewohner des Bezirks porträtiert. Diese finden sich auch ein paar hundert Meter weiter in der seit 2005 existierenden Dauerausstellung „Wir waren Nachbarn“ im Rathaus Schöneberg wieder. Darin werden etwa 150 Biografien vorgestellt, darunter der Alfred Kerr, Kurt Tucholsky, Walter Benjamin und Nelly Sachs.

 

Hansa- und Tiergartenviertel

Das Mitte Museum in Wedding richtet nun den Blick auf jüdische Künstlerinnen und Künstler in Tiergarten vor 1933 mit der kleinen Ausstellung „Zwischen Emanzipation und Assimilation“. Besonderes Augenmerk liegt auf das Hansaviertel und das Tiergartenviertel. Das Hansaviertel war damals nicht das, was heute damit verbunden wird: Moderne Wohnblöcke aus den 1950er Jahren. Das Hansaviertel in der Weimarer Republik und zur Kaiserzeit entsprach mehr dem Stadtbild, das man von Charlottenburg oder eben Schöneberg kennt. 1874 als bürgerliches Wohnviertel konzipiert, entstand es kurz nach Baubeginn der S-Bahnstrecke, die das Viertel mit dem Zentrum verbindet.

Die Ausstellung stellt über Fotos und fein säuberlich auf DIN A4 Bögen gebracht 12 Persönlichkeiten vor. Es sind bekannte Namen dabei, denen man bereits in Schöneberg begegnete wie Kurt Tucholsky und Nelly Sachs. Es überrascht zu erfahren, dass auch Alfred Kerr und Max Liebermann eine Zeit lang eine Adresse in Tiergarten hatten. Des Weiteren gingen auch Gabriele Tergit, Charlotte Behrend-Corinth, Fritzy Massary und Else Lasker-Schüler abends dort nach Hause.

In welcher Situation befanden sie sich, als sie dort ihre Wohnungen bezogen?

Alfred Kerr kam 1887 als Student mit knapp zwanzig Jahren von Breslau nach Berlin. Am Lützowufer 30 schlug er Quartier auf, bevor er zu Berlins angesehenstem Theaterkritiker wurde.

Auf den Spuren Liebermanns

Max Liebermann, dem man heute vor allem im Max Liebermann Haus am Brandenburger Tor und in seiner Villa am Wannsee würdigt, verbrachte seine ersten Ehejahre mit Martha Marckwald in Tiergarten. Nach ihrer Hochzeit 1884 richteten sie sich in der Beethovenstraße 4 / Ecke In den Zelten ein, wo ein Jahr später ihre Tochter geboren wurde. Als sein Vater 1894 starb, erbte er das Elternhaus am Pariser Platz 7 und zog dahin zurück. Das Haus bot genug Platz für Staffelei, Ölfarben, Pinsel, Kreiden und Papier, um Kunst zu schaffen und befreundete Mitglieder der Künstlervereinigung „Berliner Secession“ einzuladen.

Sein Malerfreund Lovis Corinth zieht mit seiner Frau Charlotte und zwei Kindern in die Klopstockstraße 48. Erst mieteten sie eine Wohnung, dann das ganze Haus, indem sie auch unterrichteten. Sie behielten das Haus bis Corinths Tod 1925. Charlotte Berend-Corinth war selbst profilierte Malerin und liebte das Theater, weswegen viele Bühnenstars ihre Arbeit kennzeichnen, darunter die Operettensängerin Fritzi Massary. Beide Frauen mussten emigrieren und die Corneliusstraße 4a gilt als Massarys letzte Adresse in Berlin.

Gabriele Tergit zog vergleichsweise spät in die Gegend. Als Gerichtsreporterin verbrachte sie ab 1925 viel Zeit in den Gerichtssälen Moabits und als sie 1929 den Architekten Heinrich Reifenberg heiratete, richteten sie sich beide im Siegmunds Hof 22 ein.

 

Tucholsky, Granach und Struck

Anders als seine hier vorgestellten Kollegen, die im wohlhabenden Teil des Bezirks residierten, wurde Kurt Tucholsky in den kleinbürgerlichen Teil hineingeboren: er kam 1890 in der Lübecker Str.13 in Moabit zur Welt. Als er drei Jahre war, zog die Familie nach Stettin. Später, zurück in Berlin, wohnte er in verschiedenen Bezirken. Als Journalist war er viel in der Stadt unterwegs.

Rudolf Grossmann: Milieustudie im Romanischen Café in Berlin, 1927
© Wikipedia, gemeinfrei

In dem Reigen der aus gut situierten, meist assimilierten jüdischen Familien stammenden Künstler setzen sich hier zwei Figuren ab: der Schauspieler Alexander Granach und der Grafiker Hermann Struck.

Alexander Granach wurde wie Tucholsky 1890 geboren, allerdings weit weg von Berlin, nämlich in einem kleinen Dorf in Ostgalizien unter dem Namen Jessaja Gronach. Ärmliche Verhältnisse prägten seine Kindheit, doch nach dem ersten Besuch im Theater war ihm klar: er musste zur Bühne. Er machte sich auf nach Berlin. Er sprach zwar kein Deutsch, schlug sich aber im Scheunenviertel durch. Er arbeitete in einer Backstube und später in einer Sargtischlerei. Ein Glück war das jiddische Amateurtheater. Dort entdeckte ihn der gesellschaftlich gut vernetzte Hermann Struck, der ihm 1912 zu einer Schauspielausbildung bei Max Reinhardt verhalf. Anschließend spielte er unter den großen Regisseuren seiner Zeit wie Leopold Jessner und Erwin Piscator. Granach war auch in Murnaus Film „Nosferatu“ zu sehen. Er lebte von 1923 bis 1931 in der Cuxhavener Str. 2. Mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten verließ er 1933 Deutschland und nach einer abenteuerlichen Flucht über Wien, Warschau, Moskau, Kiew und die Schweiz schaffte er es 1938 nach Amerika. Dort erschien er in den Filmklassikern „Ninotschka“, „Auch Henker sterben“ und „Das siebte Kreuz“, bevor er 1945 in New York starb.

Hermann Struck, 1876 in Berlin geboren, wurde in einer bürgerlich-orthodoxen Familie groß. Seine Familie hatte sich der Israelitischen Religionsgesellschaft Adass Jisroel angeschlossen, die als Gegenbewegung zum liberalen Judentum entstand. Zudem war Struck Zionist. Wie Liebermann gehörte er der „Berliner Secession“ an. Struck tat sich durch seine Technik des Radierens hervor und unterrichte sogar Liebermann und Corinth darin. Er hatte sein Atelier in der Brückenstraße 33, wo er viele Gäste empfing. Obwohl er bereits 1922 nach Palästina auswanderte, verbrachte er die Sommer bis 1933 an seiner alten Adresse.

 

Treffpunkt für Maler und Bildhauer

Neben den Künstlern werden zwei wichtige Einrichtungen im Viertel präsentiert. Da ist das Institut für Sexualforschung In den Zelten 10, das Magnus Hirschfeld leitete und in dem viel Prominenz ein und aus ging. Ein anderer Treffpunkt war das Atelierhaus im Siegsmund Hof 11, wo Maler und Bildhauer ihre Werke schaffen konnte.

Es ist zwar schön zu sehen, welche berühmte Namen mit dem Bezirk Tiergarten verbunden sind, interessanter wäre jedoch ein tieferer Einblick in ihr Leben dort und zu erfahren, was aus den Häusern geworden ist. Die Adresse In den Zelten existiert beispielsweise nicht mehr; auf dem Gelände steht nun das Haus der Kulturen der Welt. Auch der Siegmunds Hof ist mit seinen in den Himmel ragenden Neubauten nicht wieder zu erkennen.

Es gibt aber ein Detail, das innehalten lässt: die vielen Synagogen, die es in dem Viertel gab und die nun völlig aus dem Stadtbild weggewischt sind: Am Schöneberger Ufer wurde 1875 eine orthodoxe Synagoge eröffnet, ab 1898 feierte die liberale Gemeinde in der Synagoge in der Lützowstraße ihren Sabbat. 1909 entstand in der Flensburger Straße eine weitere Synagoge für orthodoxe Juden und die liberalen konnten ab 1913 zusätzlich in die Synagoge in der Levetzowstraße gehen. Adass Jisroel richtete 1924 eine Synagoge im Atelierhaus Siegmunds Hof ein. Die zahlreichen religiösen Orte reflektieren einerseits die starke Präsenz der Juden in dem Viertel, andererseits ihre Vielfalt. Wer entdecken möchte, wo außerdem Synagogen standen, dem sei die Ausstellung „Missing Synagogues“ im Gotischen Haus in Spandau empfohlen. Sie läuft bis 19.11.2023. Die Ausstellung „Zwischen Emanzipation und Assimilation“ ist bis zum 3.3.2024 zu sehen. Sie wurde vom Verein „Gleis 69“ konzipiert, der, vom Tiergarten ausgehend, an Juden und andere Verfolgte im Dritten Reich erinnert.

Die Kooperation mit dem Mitte Museum war naheliegend, da es sich in den vergangenen Jahren immer wieder durch kleine Ausstellungen zu jüdischen Themen hervorgetan hat.

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