Die Ärztin Ella Lingens – Gerechte unter den Völkern

Ella Lingens© WIKIPEDIA

Die Ärztin und Juristin Ella Lingens ist eine von 115 Österreichern, die von der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern geehrt wurden. Gemeinsam mit ihrem Mann Kurt verhalf sie Juden vor dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich zur Flucht und versteckte jüdische Freunde in ihrem Haus, was dazu führte, dass sie für mehr als zwei Jahre als Lagerärztin in den Konzentrationslagern Auschwitz und Dachau interniert wurde.

Von Esther Ginsburg

Die Ärztin und Juristin Ella Lingens ist eine von 115 Österreichern, die von der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern geehrt wurden. Gemeinsam mit ihrem Mann Kurt verhalf sie Juden zur Flucht vor dem Anschluss Österreichs an Hitler, was dazu führte, dass sie mehr als zwei Jahre als Lagerärztin in den Konzentrationslagern Auschwitz und Dachau interniert wurde. Vor der Deportation war ihr einziger Sohn Peter Michael knapp drei Jahre alt. "Es waren nicht Mitleid und Pflichtgefühl, die in mir siegten - es war der Hass auf das System, das mich brechen wollte, das mich meiner Ehre und Selbstachtung berauben wollte. Also sagte ich in Gedanken zu meinem kleinen Sohn: "Kind, du wirst vielleicht eine Weile auf deine Mutter warten müssen, aber wenn sie zu dir zurückkommt, wird sie dir in die Augen schauen können, dann brauchst du dich nicht zu schämen, dass deine Muttersprache Deutsch ist."

Ella Lingens (geb. Reiner) wurde am 18. November 1908 in Wien als fünftes Kind der Familie des Eisenbahnbeamten Friedrich Reiner und seiner Frau Elsa geboren. Ihr Vater besaß in Slowenien, das damals zu Jugoslawien gehörte, ein großes Landgut, das er nach seiner Pensionierung verwaltete. Nach dem Abschluss der Volksschule studierte Ella, die davon träumte, Richterin zu werden, in Wien und Zürich Rechtswissenschaften und promovierte 1932. Ellas Traum konnte leider nicht verwirklicht werden, denn während ihres Praktikums in England meldete ihre Mutter sie bei der Wiener Polizei ab und Ella wurde jugoslawische Staatsbürgerin mit Aufenthaltsrecht in Slowenien. Dies hatte zur Folge, dass ihr der Eintritt in den österreichischen Staatsdienst verwehrt wurde. 1935 begann Ella ein Medizinstudium. Nachdem sie an der Universität Wien studiert hatte, absolvierte sie in den Sommersemestern Praktika in Deutschland - in München und Marburg. Im Jahr 1938 gab sie ihre jugoslawische Staatsbürgerschaft auf und wurde Staatsbürgerin des Deutschen Reiches.

Ella zeichnete sich von Kindheit an durch einen starken Charakter und einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit aus. Aus Protest gegen die konservative Atmosphäre in ihrer Familie trat sie 1926, im Alter von 17 Jahren, der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bei. Während des „Österreichischen Bürgerkriegs“ 1934 stellte Ella der Redaktion der damals verbotenen sozialdemokratischen Arbeiter-Zeitung ihre Wohnung zur Verfügung und behielt deren Ausgaben.

Im März 1938 heiratete Ella ihren Studienkollegen Kurt Lingens, ein Mitglied des antifaschistischen Untergrunds. Im August 1939 bekamen sie einen Sohn, Peter Michael. Ellas Mann wurde in Düsseldorf geboren. Sein Vater war Polizeipräsident in Köln, verlor aber 1936 seine Stelle, weil er der katholischen Zentrumspartei angehörte, die gegen den Nationalsozialismus und die Verfolgung von Katholiken war.

 

Bleiben, um zu helfen

Nach dem Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland im März 1938 stand das Ehepaar Lingens als Gegner des NS-Regimes vor der Wahl, auszuwandern oder in Österreich zu bleiben. Ella wollte das Land nicht verlassen, und dann entschied ihr Mann: "Gut, aber wir bleiben hier unter einer Bedingung: Wir werden niemandem, der uns um Hilfe bittet und vom Regime verfolgt wird, die Hilfe verweigern." Kurt Lingens selbst wurde 1933 von den Nazibehörden wegen seiner antinazistischen Aktivitäten als Student von den deutschen Universitäten verbannt. Er arbeitete später als Assistenzarzt in der Sanitätskolonne.

Nach der Reichspogromnacht am 9. November 1938 engagierten sich Ella und Kurt in der direkten Hilfe für Juden: Ihre geräumige Wohnung wurde zur Zuflucht für zehn jüdische Kommilitonen. Später, zwischen 1941 und 1942, versteckte das Ehepaar Lingens trotz der ständigen Gefahr für sich und ihren kleinen Sohn mehrere Monate lang eine junge Jüdin, Erika Felden, in ihrer Wohnung. Sie kauften für sie Rationskarten von Mitgliedern des Untergrunds. Als das Mädchen an einer Magen-Darm-Infektion erkrankte, gab die Haushälterin der Lingens ihre Identitätskarte an Erika weiter, damit sie unter ihrem Namen behandelt werden konnte.

Im Sommer 1942 begann die Deportation der Juden aus Wien in die Konzentrationslager. Einige von ihnen wandten sich an die Lingens und baten um Hilfe bei der Organisation ihrer Flucht vor der Deportation. Es gab auch einige, die ihre Wertsachen vor der Deportation in die Konzentrationslager in Sicherheit brachten.

1939 lernte das Ehepaar Lingens den aus einer wohlhabenden Adelsfamilie stammenden Antifaschisten Baron Karl von Moresiczky kennen, der an der Universität Wien Medizin studierte. Nachdem er sich mit den Lingens angefreundet hatte, lud der Baron sie ein, in seinem Haus in Hinterbrühl, einem Vorort von Wien, zu wohnen. Hier versteckte von Moresiczky Juden und Mitglieder des antifaschistischen Widerstands, die sich vor der Deportation versteckten.

 

Deportation in Konzentrationslager

Am 13. Oktober 1942 wurden Ella und Kurt Lingens sowie Karl von Moresiczky verhaftet. Ella wurde verhört und verbrachte vier Monate im Gestapo-Gefängnis in Wien. Gemeinsam mit Karl von Moresiczky wurden sie nach Auschwitz deportiert. Kurt von Moresiczky überlebte Auschwitz nicht - er starb dort am 25. Juni 1943. Kurt Lingens, damals Assistenzarzt in der Wehrmacht, wurde aus dem Dienst entlassen, degradiert, einem Strafbataillon zugeteilt und an die Ostfront geschickt, wo er schwer verwundet wurde.

Als "deutsch-arische" Ärztin wurde Ella dem berüchtigten Dr. Josef Mengele - Dr. Tod, wie er in Auschwitz genannt wurde - zugeteilt. Bei der Selektion der neu eingetroffenen Häftlinge auf der Lagerplattform spielte er stets die Rolle des "Schicksalsentscheiders". "Wenn eine Gruppe von Juden in solche eingeteilt wurde, die noch arbeitsfähig waren, und solche, die in den Tod gehen sollten", erinnerte sich Ella, "pfiff Mengele eine Melodie und klopfte dabei rhythmisch mit dem Finger auf die linke oder rechte Schulter, was 'Gas' oder 'Arbeit' bedeutete."

Als Arzt im Frauenlager versuchte Dr. Lingens, das Leben vieler weiblicher Häftlinge zu retten, indem sie sie vor der Selektion zur Vernichtung in den Gaskammern versteckte. "Wir versteckten die Frauen in den Baracken", erinnert sie sich. Die SS befahl ihnen, bei der Selektion die Namen auf ihren Karteikarten zu schreiben. „Wir schmuggelten sie in die "arischen" Baracken oder in jene Baracken, in denen die Selektion bereits stattgefunden hatte. Wir setzten ihre Namen auf die Liste der Patienten, die aus dem Lazarett entlassen werden sollten" erinnert sich Ella.

In Auschwitz lernte Ella den studentischen SS-Arzt Werner Rohde kennen, bei dem sie 1938 an der Universität Marburg Medizin studiert hatte, und wurde von ihm betreut. Im April 1943 erkrankte Ella schwer an Typhus. Rohde rettete ihr das Leben, indem er sie von Birkenau in die Krankenstation des Stammlagers Auschwitz verlegte und anschließend die notwendigen Maßnahmen zur Verbesserung der hygienischen Verhältnisse im Frauenlager durchführte. Nach Kriegsende wurde Rohde wegen seiner sadistischen Gräueltaten an KZ-Häftlingen bei medizinischen Experimenten zum Tode durch den Strang verurteilt und am 11. Oktober 1946 hingerichtet. 1964 sagte Ella Lingens im "Auschwitz-Prozess" über ihn aus: "Er (Werner Rohde) hat mir das Leben gerettet, aber er hat auch Zehntausende von Häftlingsfrauen in den Tod getrieben".

Ella Lingens blieb bis Dezember 1944 in Auschwitz, dann wurde sie auf einen Todesmarsch ins KZ Dachau geschickt. Wenige Tage später kam Ella in das Außenlager Giesing, wo schreckliche Hungersnöte und Epidemien herrschten.

Dr. Ella wartete im Stammlager Dachau auf die Befreiung durch die amerikanische Armee, wo sie als Ärztin im Frauenkrankenhaus arbeitete. Hier konnte sie manchmal unter großer Gefahr für sich selbst den Häftlingen Krankenurlaub verschreiben und sie so zumindest vorübergehend von der schweren und schädlichen Arbeit befreien. Nach der Befreiung von Dachau am 29. April 1945 trafen viele Reporter ein. "Sie versuchten zu verstehen, was hier geschah", erinnert sich Ella, "damit sie der Welt davon berichten konnten, obwohl wahrscheinlich niemand, der das alles nicht selbst erlebt hatte, es jemals wirklich verstehen konnte“.

Im Januar 1980 wurden Ella und Kurt Lingens für ihren Heldenmut und ihre Tapferkeit bei der Rettung jüdischen Lebens von der Gedenkstätte Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern geehrt. Eine Sporthalle und eine Straße in ihrer Heimatstadt Wien sowie ein Platz in München wurden nach Ella Lingens benannt.

Dr. Ella Lingens starb am 30. Dezember 2002 im 95. Lebensjahr.

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