Der wahre Tag der Deutschen Einheit ist der 17. Juni

Sowjetischer IS-2-Panzer in Leipzig am 17. Juni 1953
© WIKIPEDIA; Bundesarchiv_Bild_175-14676

Der 3. Oktober war nicht etwa ein Tag der Unabhängigkeit oder des Volksaufstandes für Freiheit – das Datum der Deutschen Einheit 1990, 45 Jahre nach dem Ende der Terrorherrschaft der Nationalsozialisten, hat sich vielmehr aus einem verwaltungstechnischen Akt ergeben. Entsprechend gedämpft wird alljährlich der 3. Oktober begangen. Dabei wäre der 17. Juni ein würdiger und historisch wichtiger Tag, der in der BRD bis zur Wiedervereinigung als „Tag der deutschen Einheit“ und Staatsfeiertag begangen worden ist. 1953 hatten sich in der DDR mutige Menschen gegen das SED-Regime erhoben. Sie forderten freie Wahlen und die Wiedervereinigung Deutschlands. Nur wenige Jahrzehnte nach der dunkelsten Zeit ihrer Geschichte haben die Deutschen 1989 die seltene Gelegenheit bekommen, ihr Land, das durch das Verschulden Hitlers und der Nazis geteilt worden ist, wiederzuvereinigen. Der schon einmal gemachte Versuch am 17. Juni 1953 war noch kläglich gescheitert. Dieser Tag wäre nach der geglückten Wiedervereinigung, der richtige Tag gewesen - auch für die Juden Ostberlins, die unter dem faktischen antijüdischen Vorbehalt und der Israelfeindlichkeit des ost-zonalen Regimes erheblich gelitten haben. (JR)

Von Sebastian Biehl

Fast jedes Land hat einen Nationalfeiertag. Oft ist es der Tag der Unabhängigkeit, oder ein Tag an dem ein patriotisches Ereignis stattfand, etwa ein Volksaufstand für Freiheit, eine Revolution oder eine bedeutende Schlacht.

Deutschland hat seit 1990 den 3. Oktober, den „Tag der Deutschen Einheit“ als seinen Nationalfeiertag. An diesem Tag wurde der Einigungsvertrag gültig und die Deutsche Demokratische Republik (DDR) trat der Bundesrepublik Deutschland bei. Damit hörte die DDR also als Staat auf zu existieren. Die Bundesrepublik Deutschland vergrößerte damit ihr Staatsgebiet um etwa ein Drittel und seine Bevölkerung um etwa ein Viertel. Der 3. Oktober 1990 bildete den Abschluss des politischen Einigungsprozesses, der vorher von den Unterhändlern der zwei deutschen Staaten ausgehandelt wurde.

Am 23. August 1990 hatte das Parlament der DDR, die Volkskammer, die bereits am 18. März 1990 in allgemeinen und freien Wahlen demokratisch legitimiert war, mit großer Mehrheit beschlossen, dass die DDR am 29. September dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitreten würde, womit die Voraussetzung für die Vereinigung der beiden deutschen Staaten geschaffen wurde. Es musste ein Termin nach der KSZE-Außenministerkonferenz am 2. Oktober, wo die Außenminister über die Ergebnisse der 2+4 Verhandlungen (die vier Siegermächte USA, Großbritannien, Sowjetunion und Frankreich sowie die zwei deutschen Staaten hatten den Prozess zur Wiedervereinigung verhandelt) informiert wurden, als Vereinigungsdatum gefunden wurden. Der Terminkalender war schon recht voll und es mussten auch bald Wahlen für die neuen ostdeutschen Bundesländer und für den gesamtdeutschen Bundestag abgehalten werden, daher wurde der 3. Oktober als frühestmöglicher Termin gewählt.

 

Nur ein verwaltungstechnischer Akt?

Am Datum 3. Oktober wird oft kritisiert, dass an diesem Tag nur ein verwaltungstechnischer Akt vollzogen wurde, und dass der Tag willkürlich gewählt wurde als Abschluss eines Prozesses von etwa einem Dreivierteljahr, wo sich die beiden deutschen Staaten immer schneller Richtung Einheit bewegten. Es fehlt für diesen Tag auch ein Symbol, wie etwa der Fall der Mauer, ein Volksaufstand oder ähnliches. Entsprechend gedämpft und ohne patriotische Begeisterung wird alljährlich der Tag der Deutschen Einheit begangen.

Das eigentliche Schlüsseldatum, welches den Prozess der Wiedervereinigung auslöste, war der 9. November 1989, der Tag des Mauerfalls. Natürlich ereignete sich dieses nicht spontan und war nur möglich, weil die DDR-Regierung schon vorher stark unter Druck war durch regelmäßige und immer weiter wachsende Montagsdemonstrationen, zivilen Ungehorsam, massiver Republikflucht und auch das sich schnell ändernde internationale Umfeld mit mehr und mehr Reformen in den „sozialistischen Bruderländern“ in Osteuropa. Trotzdem war der 9. November 1989 ein Schlüsselereignis, der Punkt, wo eine Rückkehr nicht mehr möglich war und alles ins Rollen geriet.

 

Ein folgenreiches Missverständnis

Kurz nochmal zu den Ereignissen: der gerade ins Amt gekommene Staatsratsvorsitzende Egon Krenz, der den uneinsichtigen Erich Honecker ersetzte, musste, um den Druck aus dem Kessel zu nehmen, der Bevölkerung etwas bieten. Krenz meinte, dies mit „erleichterten Reiseregelungen für Reisen in die BRD“ tun zu können und ließ es durch den Ost-Berliner SED-Chef Günther Schabowski in einer Pressekonferenz ankündigen. Scheinbar war die ganze neue Reiseregelung ad hoc aufgestellt und ohne sich der möglichen Konsequenzen bewusst zu sein. Als Schabowski während der Pressekonferenz von einem Journalisten gefragt wurde, ab wann diese neue erleichterte Reiseregelung gelte, stammelte er, „seines Erachtens sofort, unverzüglich“.

Sofort brachen Scharen von Menschen zu den Grenzübergängen in Berlin und anderswo auf und forderten lautstark Durchlass nach West-Berlin bzw. West-Deutschland. Die Grenzsoldaten, ohne klare Anweisungen und ob der Massen auch verunsichert, gaben schließlich nach und öffneten die Schlagbäume. Nun, der Rest ist Geschichte, voll von Symbolik und unvergesslichen Momenten, das Ereignis des späten 20. Jahrhunderts schlechthin, mit freudentaumelnden Menschen aus Ost und West, die sich in den Armen lagen und das kommunistische System, was innerhalb von Stunden zerbröselte.

 

Der 9. November

Ereignisse, die erst zur Demokratisierung der DDR und später zur Wiedervereinigung führten, machten diesen Tag und die nachfolgenden Monate zur Sternstunde Deutschlands. Welcher Tag wäre also geeigneter als der 9. November 1989 als Deutscher Nationalfeiertag? Es wurde darüber diskutiert, als sich das wiedervereinigte Deutschland einen neuen Feiertag suchte. Das Problem ist allerdings, dass der 9. November als Datum arg vorbelastet ist. An diesem Tag 1938, 51 Jahre vor dem Mauerfall, fand die Reichspogromnacht statt (welche sich mehrere Tage hinzog), die staatlich gesteuerten Pogrome gegen Juden in Deutschland mit mehreren hundert Toten, Tausenden Verletzten, noch viel mehr traumatisierten Menschen und unzähligen verwüsteten Synagogen, Geschäften und Wohnungen. Wie könnte man also dieses Datum wählen, wo die Freude über den Mauerfall von der Schande der Pogromnacht überschattet werden würde?

 

Volksaufstand am 17. Juni 1953

Das bringt uns zum anderen Tag der Deutschen Einheit, der bis 1989 in der Bundesrepublik als solcher gefeiert bzw. eher gedacht wurde, nämlich der 17. Juni 1953. An diesem Tag fand in der kaum 4 Jahre alten DDR ein Volksaufstand statt, der, ausgehend von Ost-Berlin und von Protesten der Bauarbeiter gegen die Erhöhung der Produktionsnormen, sehr schnell auf andere Gegenden und Berufsgruppen übergriff, nachdem sich die Unzufriedenheit mit zahlreichen Maßnahmen der Regierung wie Bodenenteignung und die Zerschlagung der föderalen Struktur schon vorher aufgebaut hatte. Obwohl die Regierung die Normenerhöhung zurückzog, ging der Aufstand weiter und gipfelte in der Forderung nach freien Wahlen und der Vereinigung der beiden getrennten Hälften Deutschlands. Nach Schätzung waren bis zu einer Millionen Bürger auf die ein oder andere Weise am Aufstand beteiligt. Die DDR-Sicherheitskräfte verloren die Kontrolle und konnten des Aufstandes nur mit Hilfe von Truppen und Panzern der Sowjetunion, welche in der DDR stationiert waren, Herr werden. Der Aufstand wurde brutal niedergeschlagen mit Dutzenden Toten und vielen Verhaftungen.

In der Bundesrepublik Deutschland wurde dieser Tag offiziell der Nationalfeiertag, auch wenn die Ereignisse sich ausschließlich auf dem Gebiet der DDR ereigneten. Mit dem Tag wurde einerseits an die mutigen Menschen erinnert, die der kommunistischen Diktatur die Stirn boten und freie Wahlen und eine Vereinigung forderten, andererseits wurde mit dem Tag explizit die Hoffnung auf eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten verbunden und daran erinnert, dass diese das Ziel und Streben des Deutschen Volkes sei. Die Bundesrepublik Deutschland erkannte wegen des Einheitsgebotes auch die DDR lange Zeit nicht als Staat an.

 

Geschichtsträchtige Tage

In der DDR war der Nationalfeiertag der 7. Oktober 1949, als auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone die „Deutsche Demokratische Republik“ proklamiert wurde. Damit wollte man den vermeintlich dauerhaften Charakter des „sozialistischen Deutschlands“ untermauern. In der Bundesrepublik Deutschland wurde explizit der Gründungstag 23. Mai 1949 nicht zum Nationalfeiertag erhoben, um eben auf den provisorischen Charakter der Bundesrepublik und das Ziel der Vereinigung in der Zukunft hinzuweisen.

Noch ein Tag der Deutschen Einheit ist der 18. Januar 1871, als die deutschen Fürsten unter der Leitung des preußischen Reichskanzlers Otto von Bismarck nach dem Sieg über Frankreich das Deutsche Kaiserreich im Spiegelsaal von Versailles gründeten. Dieser Tag setzte sich allerdings nicht als Nationalfeiertag durch und stattdessen wurde eher der Tag des Sieges bei Sedan (2. September 1870) und der Geburtstag des Kaisers jährlich begangen. Einen offiziellen Nationalfeiertag gab es im Kaiserreich nicht. In der Weimarer Republik wurde der 11. August 1919, „die Geburtsstunde der Demokratie“, als Reichspräsident Ebert die Verfassung unterzeichnete, zum Nationalfeiertag erklärt. Im Dritten Reich war der 1. Mai, der Tag der Arbeit, der Sozialisten aller Couleur sehr wichtig ist, der Nationalfeiertag.

Man könnte argumentieren, dass der blutleere 3. Oktober nicht wirklich ein würdiger und emotional begeisternder Tag der deutschen Einheit ist. Der 9. November, der diese Voraussetzung erfüllt, scheidet wegen der Verbindung mit der Reichspogromnacht aus. Der 17. Juni 1953 bleibt ein für das Deutschland nach dem 2. Weltkrieg bedeutender Tag und vereint sowohl Ost- als auch Westdeutsche. Es wäre ein würdiger Nationalfeiertag.

 

Sebastian Biehl, Jahrgang 1974, wuchs in Südhessen auf. Zum Studium ging er nach Südafrika, wo er 23 Jahre blieb und lange Zeit als Rechercheur und Journalist arbeitete. Seit 2019 wohnt er mit seiner Familie in Berlin.

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