Zum 10. Todestag von Marcel Reich-Ranicki – Der jüdische „Literaturpapst“

Marcel Reich-Ranicki im Deutschen Bundestag
© Leemage via AFP

Er wurde verehrt und gefürchtet – Marcel Reich-Ranicki war über viele Jahrzehnte, trotz seiner polnisch-jüdischen Herkunft, die Instanz der deutschen Literaturkritik. Der aus Polen stammende Jude, Autor und Publizist überlebte das Warschauer Ghetto und das Morden der Nationalsozialisten. Trotz schlimmsten Erlebens gehörte er zu denen, die nach dem Krieg wieder in das „Land der Täter“ zurückkehrten. Zu groß war seine Liebe zur deutschen Sprache und Literatur. (JR)

Von Esther Ginzburg

Er war ein Jude aus Polen, der die deutsche Sprache hervorragend beherrschte. Er verbrachte einen Teil seiner Kindheit und Jugend in Berlin und verliebte sich schon früh in die deutsche Literatur. Und es war eine Liebe, die ein Leben lang anhielt. Eine Liebe, die auch durch die Schrecken des Warschauer Ghettos, den Verlust geliebter Menschen, Hunger, Verfolgung und Flucht nicht zerstört wurde. Er verstand es wie kein anderer im Lande, das Interesse an guten Büchern zu wecken. Marcel Reich-Ranicki konnte mit Worten Berge versetzen, aber eines hat er nie geschafft: sein Publikum zu langweilen.

Marcel Reich-Ranicki wurde am 2. Juni 1920 als Sohn einer jüdischen Familie in der schlesischen Stadt Wloclawek geboren, deren Bevölkerung mehrheitlich deutsch war. Marcels Vater, David Reich, war ein Baustoffhändler. Seine Mutter, Helene Auerbach, wuchs in Berlin auf und machte ihre Kinder mit der deutschen Kultur vertraut. Sie gab ihnen auch deutsche Namen: Marcels ältere Schwester hieß Gerda und sein Bruder hieß Herbert. Seine Eltern hielten sich nicht an die strengen jüdischen Sitten - Marcel und seine Schwester wurden auf eine deutsche evangelische Schule geschickt.

In seinem autobiografischen Buch "Mein Leben" schreibt Reich-Ranicki über seine Eltern wie folgt: "David Reich sollte Kaufmann werden, und seine Eltern schickten ihn zum Studium in die Schweiz. Dort besuchte er eine höhere Handelsschule, brach aber bald sein Studium ab und kehrte nach Hause zurück. Im Jahr 1906 heiratete er meine Mutter Helena Auerbach, die Tochter eines armen Rabbiners. Hätte jemand meinen Vater gefragt, wer er sei, hätte er geantwortet: "Natürlich ein Jude und sonst niemand." Natürlich hätte meine Mutter auf die gleiche Weise geantwortet. Sie ist in Deutschland aufgewachsen, in Preußen. Alle ihre Vorfahren väterlicherseits waren Rabbiner."

 

Emigration nach Berlin

1929 begann die Weltwirtschaftskrise, der sein Vater, wie Millionen andere, zum Opfer fiel. Infolgedessen zog die Familie kurz nach der Katastrophe nach Berlin und geriet in Abhängigkeit von wohlhabenden Verwandten: Marcels Onkel, ein Rechtsanwalt, lebte in Berlin; ein anderer Onkel besaß eine Zahnarztpraxis.

Nachdem die Nationalsozialisten 1933 in Deutschland an die Macht gekommen waren, begannen die Juden unterdrückt zu werden. Es wurde ihnen verboten, im öffentlichen Dienst und in Krankenhäusern zu arbeiten, Theater und Bibliotheken zu besuchen. In Parks wurden gelbe Bänke mit der Aufschrift "Nur für Juden" aufgestellt, und an den Türen vieler Restaurants und Cafés hingen Schilder mit der Aufschrift "Juden sind nicht willkommen". Lehrer, die Hitlers Machtergreifung kritisch gegenüberstanden, begannen aus dem Gymnasium, das Marcel besuchte, zu verschwinden. Einer nach dem anderen wurden deutsche Schriftsteller vom Lehrplan ausgeschlossen: einige, weil sie nicht dem "Geist des Nationalsozialismus" entsprachen, andere, weil sie Juden waren, und wieder andere, weil sie von biblischen Motiven fasziniert waren.

Marcel machte 1937 sein Abitur, aber er besuchte nie eine Universität. Seine Unterlagen wurden nicht einmal angenommen, denn auf seiner Bewerbung stand kurz und knapp: "Als Jude abgelehnt". Später war es Reich-Ranicki nie möglich, eine höhere Ausbildung zu erhalten, und er gab zu, dass ihn die Bitterkeit und das Bedauern darüber für den Rest seines Lebens verfolgten.

Wenige Tage vor der berüchtigten "Reichskristallnacht" am 9. November 1938, als in ganz Deutschland von den Nazis angezündete Synagogen brannten, wurden im Rahmen der so genannten "Polenaktion" alle in Berlin lebenden, aber in Polen geborenen Juden aus der Hauptstadt des Dritten Reichs in ihre Heimat ausgewiesen. Es waren mehr als 17.000.

 

Deportation und Ghetto

Am 28. Oktober 1938, in den frühen Morgenstunden, stürmte die Polizei das Haus, in dem Marcels Familie lebte, und gab ihnen nur wenige Minuten Zeit zum Packen. Sie durften 5 Reichsmark und einen kleinen Koffer oder eine Reisetasche mitnehmen. Marcel wurde zusammen mit seinen Angehörigen aus Deutschland verschleppt und nach Polen zurückgebracht. Aber auch dort fühlte er sich wie ein Exilant und ein Fremder. Was sollte ich in einem Land mit einer mir völlig fremden Sprache tun", erinnert er sich, "die ich zwar verstand, aber kaum sprechen konnte? Aber als ich dorthin ging, nahm ich etwas Unsichtbares mit. Damals habe ich nicht darüber nachgedacht, als ich mit den Deportierten aus Deutschland in einem kalten Zug saß. Ich konnte nicht ahnen, welche Rolle dieses Gepäckstück in meinem zukünftigen Leben spielen würde. Aus dem Land, aus dem ich vertrieben wurde, habe ich seine Sprache und Literatur mitgenommen."

Am 1. September 1939 überfiel Hitler Polen und der Zweite Weltkrieg begann. Im ganzen Land wurde die jüdische Bevölkerung täglich misshandelt, geplündert und ermordet. In seinen Memoiren beschreibt Marcel Reich-Ranicki detailliert die Misshandlungen der Juden, die man nicht lesen kann, ohne zu erschaudern. Im Oktober 1940 wurde auf Beschluss des polnischen Generalgouverneurs Hans Frank auf dem Gebiet Warschaus ein jüdisches Ghetto eingerichtet, das faktisch die erste Etappe auf dem Weg der Juden in die Todeslager darstellte. Zunächst wurde das unerlaubte Verlassen des Ghettos mit neun Monaten Gefängnis bestraft. Im November 1941 wurde darauf die Todesstrafe verhängt, und ab dem 16. November wurde das Ghetto mit einer hohen Mauer umgeben, die die Juden selbst errichten mussten. Alle Fragen im Zusammenhang mit dem Betrieb des Ghettos wurden vom so genannten Judenrat geregelt, der unter der Kontrolle der deutschen Behörden stand. Adam Chernyakov wurde zu seinem Vorsitzenden ernannt. Um die Ordnung im Ghetto aufrechtzuerhalten, wurde eine jüdische Polizeieinheit geschaffen.

Marcel und seine Familie, die in Warschau lebten, wurden gezwungen, mit anderen Juden in das Ghetto zu ziehen. Es herrschte ein katastrophaler Wohnungsmangel und die Menschen mussten sich auf engstem Raum zusammenpferchen. Lebensmittel und Trinkwasser waren zu knapp bemessen. Überall herrschten schreckliche unhygienische Zustände, die zu Epidemien von Infektionskrankheiten führten; Leichen wurden wochenlang nicht begraben. Ständig gab es Razzien, bei denen die Deutschen ungestraft Juden ausraubten und töteten.

 

Kleines Glück, großes Leid

Marcels ausgezeichnete Deutschkenntnisse kamen ihm dabei zugute. "Der Judenrat stellte mich ein, um die Korrespondenz in deutscher Sprache zu führen", erinnert er sich. Er wurde in einem Büro eingesetzt, das sich mit der Korrespondenz mit deutschen und polnischen Institutionen befasste und die Vorschriften und Anordnungen der NS-Besatzungsbehörden ins Polnische und Jiddische übersetzte. Im Jahr 1943 war es Marcel, der den Befehl des SS-Kommandos zur endgültigen Auflösung des Warschauer Ghettos und zur Verbringung aller Bewohner in die Vernichtungslager Auschwitz und Treblinka aufzeichnen und übersetzen musste.

Im Warschauer Ghetto fand Marcel trotz aller Entbehrungen sein persönliches Glück: Er lernte Teofila (Tosia) Langnas kennen, die im Juli 1942 seine Frau wurde. Gleichzeitig begann er, unter dem Pseudonym Viktor Hart Konzertkritiken für die Gazeta Zydowska zu schreiben, und hatte auch eine kleine Nebenbeschäftigung als Deutschlehrer.

Im Januar 1940 wurden Marcels Eltern zusammen mit anderen Ghettobewohnern in das Konzentrationslager Treblinka deportiert, wo sie ermordet wurden. Sein Bruder wurde 1943 in einem Kriegsgefangenenlager bei Lublin erschossen. Sein Schwiegervater beging zur gleichen Zeit Selbstmord, seine Schwiegermutter überlebte den Holocaust ebenso nicht.

"Meine Eltern konnten aufgrund ihres Alters keine 'Lebensnummer' bekommen", erinnert sich Marcel, der seine Eltern persönlich ins Lager begleitete. - Meine Mutter war 58, mein Vater 62, und sie hatten weder die Kraft noch den Wunsch, sich irgendwo zu verstecken. Ich sagte ihnen, wo sie sich in der Schlange anstellen sollten. Mein Vater schaute mich hilflos an, meine Mutter war erstaunlich ruhig. Sie trug einen hellen Mantel, den sie aus Berlin mitgebracht hatte. Ich wusste, es war das letzte Mal, dass ich sie sehen würde...". Doch das Glück war Reich-Ranicki hold: Zusammen mit seiner Frau Tosia gelang ihm die Flucht aus dem Warschauer Ghetto. Im letzten Moment gelang es ihnen, der jüdischen Kolonne zu entkommen, als sie den Zug nach Treblinka bestiegen.

Das Paar flüchtete in den Keller eines baufälligen Hauses am Rande des Ghettos. Dort versteckten sie sich anderthalb Jahre lang bis zum Kriegsende bei dem polnischen Schriftsetzer Bolek Gawin und seiner Frau Geni. Nachts stellten sie Zigaretten her, die ihr Retter auf dem Schwarzmarkt verkaufte. Sie hungerten: Oft bestand ihre tägliche Ration aus einem einzigen Stück Brot. Aber noch schlimmer als der Hunger war die Angst. Die Ghettoinsassen mussten die einheimische Bevölkerung ebenso fürchten wie die Deutschen: "Kein Geld, keine Freunde außerhalb des Ghettos", erinnert sich Marcel, "und jeder würde mich sofort als Juden erkennen, denn die Polen hatten einen erstaunlichen Instinkt dafür.“

"Der mächtigste Mann Europas, Adolf Hitler, hat beschlossen, dass ihr beide sterben müsst", sagte der betrunkene Bolek einmal zu ihnen. - Und ich, ein kleiner Schriftsetzer aus Warschau, habe beschlossen, dass ihr leben sollt. Mal sehen, wessen Wahrheit sich durchsetzen wird!" Das tat seine Wahrheit. Glücklicherweise überlebte das Paar. Im September 1944 wurde der Warschauer Stadtteil am rechten Weichselufer, in dem sich das Ehepaar Reich-Ranicki versteckt hielt, von der sowjetischen Armee befreit.

Als Marcel und Tosia sich von ihrem Retter verabschiedeten, sagte er einen Satz, den sie nie vergessen werden: "Bitte sagen Sie niemandem, dass Sie sich mit uns versteckt haben. Ich kenne diese Leute. Sie werden uns nie verzeihen, dass wir zwei Juden gerettet haben."

Sein Leben ab 1958

Am 21. Juli 1958 kehrte er wieder in das Land der deutschen Literatur zurück. So begann sein zweites Leben in Deutschland. Bald begann er unter dem Doppelnachnamen Reich-Ranicki zu veröffentlichen. In Deutschland fand er Unterstützung bei seinen Schriftstellerkollegen Heinrich Böll und Siegfried Lenz. In kurzer Zeit wurde der Name Marcel Reich-Ranicki zu einem festen Bestandteil des literarischen Lebens des Landes, in dessen Mittelpunkt die Schriftstellerorganisation Gruppe 47 stand. Reich-Ranickis kometenhafte Karriere begann bei der Wochenzeitung Die Zeit. Er wurde auch einer der führenden Kritiker der Gruppe 47 und wurde 1973 zum Leiter des Literaturressorts der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ernannt, das er 15 Jahre lang leitete. Marcel Reich-Ranicki gilt als einer der bedeutendsten deutschen Literaturkritiker und Publizisten. Ihm ist vor allem die Gründung der Frankfurter Anthologie zu verdanken, die mehr als 1.500 Werke deutscher Autoren enthält.

Im Juni 2001 stellte Reich-Ranicki im Spiegel den "Kanon der lesenswerten deutschsprachigen Werke" vor, eine Liste der wichtigsten literarischen Werke in deutscher Sprache, darunter Theaterstücke, Romane, Novellen, Kurzgeschichten und Gedichte. Im Laufe der Jahre veröffentlichte er in Zeitungen und Zeitschriften, trat im Fernsehen auf und lehrte deutsche Literatur an Universitäten in Deutschland, den Vereinigten Staaten, Schweden, Australien und China und erhielt zahlreiche Titel und Auszeichnungen.

Berliner Gedenktafel am Haus Güntzelstraße 53 in Berlin-Wilmersdorf
© WIKIPEDIA / OTFW Berlin

Reich-Ranicki wurde vorgeworfen, er sei nicht nach Israel, sondern nach Deutschland gezogen, in das Land, das den Holocaust ausgelöst und seine Familie vernichtet hat. Vorgeworfen wurde ihm auch, dass er sich als Enkel eines Rabbiners als Jude sieht, obwohl er die jüdische Tradition ablehnt. Darauf antwortete er: "Ich verstehe diejenigen, die sagen, dass man sein Volk nicht verleugnen kann, auch wenn es verfolgt wird, aber die jüdische Religion ist mir weitgehend fremd. Ich bin kein Mitglied der jüdischen Gemeinschaft, aber das bedeutet nicht, dass ich aufgehört habe, ein Jude zu sein".

Marcel Reich-Ranicki hat den Deutschen nie "verziehen". Er sagte, dass seine Eltern und sein Bruder, die von ihnen vernichtet wurden, ihm nicht das Recht dazu gaben. Er erklärte, dass er aus Liebe zu deutschen Büchern und deutscher Kultur nach Deutschland zurückgekehrt sei. "Es waren nicht Thomas und Heinrich Mann, die den Holocaust entfesselt haben. Nicht Alfred Döblin", behauptete er.

 

Ein schonungsloser Kritiker

Reich-Ranicki war für seine harsche Kritik bekannt. Das machte seine Schriftstellerfreunde manchmal fast zu Feinden. Er verschonte niemanden mit seiner Kritik, auch nicht die von ihm hochgeschätzten Autoren wie Günter Grass. Martin Walser versuchte 2002 sogar, sich an ihm für seine abfällige Kritik zu rächen, indem er ihn zum Vorbild für den Protagonisten seines Romans „Tod eines Kritikers“ nahm.

Ein schlechtes Buch ist ein langweiliges Buch, glaubte Reich-Ranicki. Deshalb versuchte er selbst, seine Rezensionen klar und schonungslos zu schreiben und die Rezensenten nicht in Freunde und Feinde einzuteilen, sondern nur die literarische Stärke ihrer Werke zu beurteilen. Reich-Ranicki hatte einen großen Sinn für Humor, und viele seiner Sätze blieben im Gedächtnis und wurden zu Aphorismen. Diese Besonderheit half ihm, die schmerzhafte Wirkung seiner Kritik zu mildern. Viele Schriftsteller bezeichnete er als "Patienten" und einige von ihnen als "schwierige Patienten".

Mit prominenten Schriftstellern wie Heinrich Böll und Günter Grass hatte er Phasen der Annäherung, des Bruchs und der Wiederannäherung. Doch Reich-Ranicki blieb der Unabhängigkeit seines Urteils treu. Er folgte stets seinem Motto: "Gerechtigkeit ist nicht die Aufgabe des Kritikers, sondern die Aufgabe Gottes". Nachdem der Kritiker eine vernichtende Kritik über Günter Grass' Roman „Ein weites Feld“ geschrieben hatte, wurde er auf der Titelseite des Magazins Der Spiegel abgebildet, wie er ein Exemplar des Buches zerreißt.

Erst in seinem achten Lebensjahrzehnt entschloss er sich, seine Memoiren zu veröffentlichen. Im Jahr 1999 erschien seine Autobiografie "Mein Leben", die in viele Sprachen, darunter auch ins Russische, übersetzt wurde und ein Bestseller wurde. Die deutsche Auflage lag bei über 600.000 Exemplaren, was von der großen Popularität Reich-Ranickis in diesem Land zeugt. Im Jahr 2009 wurde das Buch in Deutschland verfilmt.

Ab 1988 strahlt das ZDF Reich-Ranickis Sendung "Das Literarische Quartett" aus, in der er und drei weitere Literaturkritiker über neue deutsche Literatur diskutieren. Die Sendung hat es geschafft, viele Deutsche, die aufgehört hatten zu lesen, wieder in die Reihen der Buchliebhaber zu bringen. "Das Literarische Quartett" dauerte 13 Jahre, besprach 385 Bücher und festigte Reich-Ranickis Image als leidenschaftlicher Literaturliebhaber und als objektiver, wenn auch scharfzüngiger Kritiker weiter. Von seinen Urteilen hing das künftige Schicksal der Schriftsteller unmittelbar ab. Mit Bangen und Hoffen warteten die Autoren auf Reich-Ranickis Rede mit seinen treffenden und schonungslosen Aussagen über dieses oder jenes Werk. In dieser Zeit verdiente er sich seinen Spitznamen als Papst der deutschen Literatur.

2008 wurde Reich-Ranicki für sein erfolgreiches und fruchtbares Lebenswerk und für seine Sendung "Das Literarische Quartett" mit dem Deutschen Fernsehpreis für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Während der Preisverleihung ging er auf das Podium und... verweigerte die Entgegennahme des Preises und protestierte damit gegen die schlechte Qualität vieler deutscher Fernsehsendungen.

Um die skandalöse Situation irgendwie zu glätten, schlug der Moderator Thomas Gottschalk vor, dass Reich-Ranicki später in einer eigenen Fernsehsendung mit den Chefs der führenden deutschen Fernsehsender über die Situation diskutieren sollte. Diese lehnten jedoch alle ab, so dass Gottschalk allein mit Reich-Ranicki sprechen musste. Die Fernsehsendung fand in den deutschen Medien ein breites Echo und sorgte für eine öffentliche Debatte.

 

Ein Leben für die Literatur

Am 27. Januar 2012 hielt Marcel Reich-Ranicki seine berühmt gewordene Rede vor dem Bundestag zum Holocaust-Gedenktag. Mit leiser Stimme sprach er aufgeregt über seine Zeit im Warschauer Ghetto: "Ich muss heute hier zum jährlichen Holocaust-Gedenktag sprechen. Aber ich spreche zu Ihnen nicht als Historiker, sondern als Zeitzeuge, oder besser gesagt als Überlebender des Warschauer Ghettos."

Marcel Reich-Ranicki, einer der bekanntesten deutschen Literaturkritiker, starb am 18. September 2013 an einem Krebsleiden. Er hinterlässt Millionen von Leserinnen und Lesern, die er Jahr für Jahr geduldig und behutsam mit der von ihm so geliebten Literatur vertraut machte. In einem seiner letzten Interviews mit dem Magazin Focus, ein Jahr vor seinem Tod, sagte er: "Es ist unmöglich, sich dem Gedanken an den Tod zu stellen. Er ist etwas Sinnloses und Zerstörerisches. Vielleicht macht nur die Literatur deutlich, dass das Ende des Lebens unausweichlich ist..."

"Der Mann, der uns das Lesen lehrte", titelte die Süddeutsche Zeitung in ihrem Nachruf. Diese Aussage scheint durchaus berechtigt. Schließlich hat Deutschland nach 12 Jahren Nationalsozialismus, in denen überall im Lande Scheiterhaufen mit verbrannten Büchern brannten, das Lesen wieder gelernt. Und in der Rolle des wichtigsten "Literaturlehrers" war derjenige, der 1938 nach dem Abitur an einem Berliner Gymnasium wegen seiner jüdischen Herkunft nicht weiter studieren durfte. Marcel Reich-Ranicki bleibt im Gedächtnis der Deutschen eine unbestrittene intellektuelle Autorität, eine Legende der deutschen Nachkriegsliteratur.

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