Martin Sabrows Abschiedsvorlesung: Essay über die Zeitenwende-Metapher
Was bedeutete die Zeitenwende 1933 für die deutschen Juden? Für sie wurde ihre Heimat über Nacht zum Feindesland, die gewohnte Verbindung der Zeiten zerbrochen. Der inzwischen abgedroschene Terminus „Zeitenwende“ ist gemäß Professor Sabrow geeignet, eine grundsätzliche Neuordnung zu fassen. Danach ist nichts mehr so, wie es einmal war. Die Umwälzung erzeugt eine „neue politische und kulturelle Ordnung mit eigenen Maßstäben von Gut und Böse“. (JR)
Martin Sabrow war bis 2022 Professor für Neueste und Zeitgeschichte an der Berliner Humboldt-Universität. Sein historisches Fachgebiet umfasst die Jahre vom Ende des Ersten Weltkrieges bis zur Zeitenwende des Jahres 1933. Die dazwischen liegenden fünfzehn Jahre waren Jahre, die Deutschland fundamental veränderten – von der Novemberrevolution des Jahres 1918, der Installierung der ersten Deutschen Republik bis zu deren Ende durch die Inmachtsetzung Hitlers am 30. Januar 1933. Die Erforschung von Leben, Bedeutung und Schicksal Walther Rathenaus sind seine wissenschaftliche Lebensleistung. Im Frühjahr 2005 wurde Sabrow zum Vorsitzenden der von der Bundesregierung eingesetzten Expertenkommission berufen, die den Auftrag hatte, ein Konzept für einen dezentral organisierten Geschichtsverbund zur Aufarbeitung der SED-Diktatur auszuarbeiten. Die 2006 der Öffentlichkeit vorgestellten und in einer öffentlichen Anhörung diskutierten Empfehlungen lösten eine intensive Debatte über den zukünftigen Umgang mit der DDR-Vergangenheit aus.
„Der Rathenaumord“
Zum 100. Todestag Rathenaus erschien seine Monografie über das Attentat auf Walther Rathenau im Juni 1922, das er in den Kontext der deutschen Novemberereignisse des Jahres 1918 einordnet. Seine Studie, die sich auf seine Dissertation „Der Rathenaumord“ (1993) stützt, zeichnet das Bild einer republikfeindlichen Verschwörung der „Organisation Konsul“, die die erste deutsche Republik weniger aus abwehrentschlossener Stärke, denn aus ahnungsloser Schwäche erlebte. Sabrow rekonstruiert die Verschwörung gegen die Republik von Weimar, spricht von einer verdrängten Verschwörung, nennt den Rathenau-Mord, Teil einer deutschen Gegenrevolution. Der 1922 infolge seiner Ermordung zum Märtyrer der Republik von Weimar gewordene Außenminister Rathenau hatte bei der Übernahme seines ersten Ministeramtes geäußert, er sei nicht als Mitglied einer Partei berufen worden.
Dieser Tatsache entnehme er das Recht, seinen Aufgabenkreis so unpolitisch zu behandeln wie möglich – „vielmehr privatwirtschaftlich und industriell“. Eine merkwürdige Aussage. Gleichwohl wurde er nicht wegen seiner „unpolitischen Politik“ von rechtsradikalen Republikfeinden ermordet, sondern allein, weil er Jude war. In den 14 Jahren ihres Bestehens wetteiferten in der Weimarer Republik eine demokratische mit einer gegenrevolutionären Strömung, die mit putschistischer Gewalt zum autoritär-monarchistischen und/oder militärischen Geist der vorausgegangenen Zeit zurückzukehren erstrebte. Das war eine radikale Abkehr der republikanischen Zeitenwende von 1918/19.
Abschiedsvorlesung im Juli 2022
In der vorliegenden Publikation – eine erweiterte und mit einem üppigen Anmerkungsapparat versehenen Fassung seiner im Juli 2022 gehaltenen Abschiedsvorlesung an der Humboldt-Universität – fasst Sabrow noch einmal seine Forschungsergebnisse der letzten Jahre zusammen, wobei er zugleich an seine Antrittsvorlesung zwölf Jahre zuvor anknüpft. Er bündelt dies, den Begriff „Zeitenwende“ variierend, in Kapitel, die lauten: Der unbewältigte Epochenwechsel 1918/19; Zeitenwende 1933?; Zäsurenbewältigung nach 1945; der Umbruch von 1989/90; der Ukrainekrieg als Erfahrungszäsur.
Sabrow diskutiert in seinem Essay mit intellektueller Schärfe diese unterschiedlichen Begrifflichkeiten souverän auf der Höhe des aktuellen Wissenschaftsstandards. Ihm geht es darum, den Ort der Zeitgeschichte und Erinnerungskultur in der Gegenwart zu bestimmen: Er widmet sich dem Verlust tradierter Gewissheiten, der mit dem Ukrainekrieg einhergeht und in der vielzitierenden Kanzlerrede von der „Zeitenwende“ seinen beredten Ausdruck gefunden hat. Dabei beschreibt Sabrow das letzte Vierteljahrhundert als „schleichende Auflösung eines geschichtskulturellen Grundkonsenses“. Die kritische und selbstkritische Auseinandersetzung mit der Last der Vergangenheit deutet er als „Ära der Aufarbeitung“. Gleichwohl werden die scheinbar festgefügten Gewissheiten in seiner Wahrnehmung immer stärker in Frage gestellt, was auf einen geschichtskulturellen Epochenumbruch vom Universalismus zum Partikularismus schließen lasse.
Zeitenwende durch die Nationalsozialisten
Was bedeutete die Zäsurwende 1933 für die deutschen Juden? Für den Schriftsteller Hans Sahl war das Heimatland Deutschland, das er im Berliner „Romanischen Café“ zu treffen gewohnt war, über Nacht zum Feindesland geworden, er selbst sah sich zur Flucht gezwungen, die gewohnte Verbindung der Zeiten zerbrochen. Der Verleger Gottfried Bermann Fischer fasste in seinen Memoiren zusammen, wie er die denkbar radikalste Zeitenwende des nationalsozialistischen Machtantritts erlebte: „Eine Welt, die Welt meiner Kindheit, meine Jugendjahre, die Welt des Rechts, der Moral, der Achtung vor dem Nächsten, war zusammengebrochen“. Abgeschnitten von der vertrauten Vergangenheit, schrumpfte für Sahl - und mit ihm für Tausende verfolgte deutsche Juden - die zerfallene Einheit der Zeit auf die Gegenwart zusammen. Einige Juden, deren Gedanken um die verlorene Beziehung zu einer zerbrochenen Zeitordnung, die keinen Halt mehr bot, kreisten, kapitulierten vor der Zeitenwende durch die Nationalsozialisten und entschieden sich für einen Freitod wie Kurt Tucholsky oder Stefan Zweig.
Innerhalb der deutschen Historiographie hat sich ein Paradigmenwechsel vollzogen – von der historischen Heroisierung hin zur historischen Viktimisierung. Nicht mehr der Held stehe im Mittelpunkt unserer Geschichtskultur, mein Sabrow, sondern das Opfer. Die opferzentrierte Erinnerungskultur habe die Beschwörung des Ruhms durch die Auseinandersetzung mit der Schuld ersetzt. Die neue Sicht habe neue Zuordnungen geschaffen, indem sie die Auseinandersetzung erst mit der NS-Zeit und ihren Verbrechen und später auch mit der kommunistischen Herrschaft in den Kategorien von Tätern und Opfern organisierte. Sabrow spitzt die „opferidentifizierte Erinnerungskultur“ dahingehend zu, dass mit dem Generationswechsel „von der Tätergesellschaft zur Nachgeborenengesellschaft“ das „Erlösungsversprechen ausgeprägt, und das „aufrichtige Gedenken“ mit der „Aussicht auf Versöhnung“ belohnt habe. Inwieweit diese Feststellung auf eine gesamte Generation zutrifft, lässt Sabrow offen.
Zukunftsunsicherheit
Was den mit dem Ukrainekrieg verbundenen gegenwärtigen Epocheneinschnitt von den Erwähnten unterscheidet: Er ist nicht mit einem staatlichen Umbruch oder gar Systemwechsel verbunden, sondern ereignet sich innerhalb einer unverändert fortbestehenden Gesellschaftsordnung, meint Sabrow. War das real-existierende Russland nie anders als es sich gegenwärtig präsentiert? Haben die Repräsentanten der westlichen Welt in der Vergangenheit etwas übersehen? Übersehen wollen? Hat Russland, hat Putin, nunmehr seine Maske fallen gelassen, eine Maske, mit der der alte stalinistische Ballast nach Glasnost und Perestroika nur übertüncht war? Alles wie gehabt? Was festzuhalten bleibt, auch angesichts der vielen Corona-Toten und des bedrohlich aufscheinenden Klimawandels, ist die Frage nach einer beherrschbaren Zukunft. Der bis zuletzt nicht für möglich gehaltene Angriffskrieg auf die Ukraine haben Zeitgewissheit in Zukunftsunsicherheit schlagartig ins Ungewisse verwandelt.
Sabrow weiß um die Doppelbödigkeit und Problematik des Zeitenwende-Begriffs, der im Kontext der deutschen Wehrfähigkeit ausgesprochen wurde, erst recht vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte. Als gegenwartsprägender Terminus hat es die Zeitenwende-Metapher zum Wort des Jahres 2022 gebracht und es gar als Lehnwort in den englischen und französischen Sprachraum geschafft. Kurz: Die „Zeitenwende“ ist zu einem Begriff geworden, der, so Sabrow, ein unsere Denkwelt beherrschendes Zeitgefühl transportiert, das bis in die politikfernsten Lebensfelder ausstrahlt.
Der inzwischen abgedroschene Terminus „Zeitenwende“ ist nach Sabrow geeignet, eine grundsätzliche Neuordnung „nach sich ziehenden Epocheneinschnitte“ zu fassen. Danach ist nichts mehr so, wie es einmal war, so war zuletzt allenthalben zu hören, so wurde das Erleben von Zeitenwenden beschrieben. Sabrow definiert eine „Zeitenwende“ als Ergebnis einer „siegreichen Umwälzung“, die eine „neue politische und kulturelle Ordnung mit eigenen Maßstäben von Gut und Böse“ erzeugt. Was für die Novemberereignisse des Jahres 1918 zutreffen mag, lässt sich dies, politisch korrekt, so ohne Weiteres auf die vom Kanzler apostrophierte Äußerung übertragen? Zäsuren strukturieren unser Leben, so ein fein unterscheidender Sabrow, Zeitwenden stellen es jedoch in Frage. Mit anderen Worten: Der Begriff „Zeitenwende“ gliedert sich in verschiedene Bedeutungsschichten.
Martin Sabrow: Zeitenwende in der Zeitgeschichte, Wallstein Verlag, Göttingen 2023, 88 S., 18,00 Euro.
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