Babyn Jar – Binnen 48 Stunden über 33.000 erschossene jüdische Menschen: Das unvorstellbare Grauen der Ermordung und des Massakers an den Kiewer Juden
Jüdische Besucher legen Blumen nieder und zünden Kerzen in der Nähe des Minora-Denkmals in Babi Yar an.© Leemage via AFP
Kurz nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Kiew beschloss die NS-Führung die Ermordung der jüdischen Bevölkerung der Stadt. Mehr als 33.000 jüdische Kinder, Frauen und Männer wurden am 29. und 30. September 1941, dem damaligen Yom Kippur Tag, von den Nationalsozialisten unter Mithilfe örtlicher ukrainischer Polizeikräfte und der nationalen ukrainischen Organisation von Bandera und Melnyk in die Schlucht von Babyn Jar getrieben, erschossen und anschließend verscharrt. Kleine Kinder wurden häufig von den Nazis und den ukrainischen Mordhelfern noch auf den Armen der Mütter erschossen. Als sich die Niederlage der Nazis abzuzeichnen begann, versuchten sie ihre Verbrechen zu vertuschen. Im Rahmen der Sonderaktion „1005“ wurden die Toten von Zwangsarbeitern ausgegraben und verbrannt. Die Augenzeugen wurden im Anschluss von Wehrmacht und SS ermordet. (JR)
Als die ungarische Regierung ab 1938 eine Reihe sogenannter Judengesetze, die Berufsverbote, bis hin zum Verbot von Ehen zwischen Juden und Nicht-Juden beschloss, war klar: Auch in Ungarn verschärfte sich die Lage für Juden. Viele flohen nach Österreich, manche sogar nach Deutschland. Andere gingen nach Polen und wiederum andere in die Ukraine. Was auch im Jahr 1941 die SS überraschte:
„Major Wagner erläuterte […]. Bei Kamenetz-Podolsk hätten die Ungarn etwa 11.000 Juden über die Grenze geschoben. In den bisherigen Verhandlungen sei es noch nicht gelungen, die Rücknahme dieser Juden zu erreichen. Der Höhere SS- und Polizeiführer (SS-Obergruppenführer Jeckeln) hoffe jedoch, die Liquidation dieser Juden bis zum 1.9.1941 durchgeführt zu haben"...", ließ am 25. August 1941 der ranghöchste Polizeifunktionär vor Ort, der Höhere SS- und Polizeiführer Russland-Süd Friedrich Jeckeln, ausrichten. Die etwas kryptische Antwort lässt keinen Zweifel: Die Nazis werden handeln.
Und so kam es. Ende August 1941 ermordeten SS-Angehörige beim Massaker von Kamjanez-Podilskyj rund 23.000 jüdische Kinder, Frauen und Männer in der ukrainischen Stadt. Auch in Berdytschiw erschossen die deutschen Besatzer alleine an einem Tag im September mindestens 12.000 Juden. Angesichts der Systematik und Akribie, die an die industrialisierte Massenvernichtung in den Konzentrationslagern erinnert, sprechen viele heute von einem “holocausts by bullets”, der “Holocaust durch Kugeln”.
Der Mann fürs Grobe: Paul Blobel
Die Lage für die ukrainischen Juden spitzte sich weiter zu, als die Deutschen im September 1941 die Hauptstadt Kiew einnahmen. Die deutschen Soldaten begannen nach ihrem Einmarsch damit, die verbliebenen Juden zu registrieren und zu verhaften. Hinter den Wehrmachtsverbänden rückten die sogenannten Einsatzgruppen nach, die Heinrich Himmler organisierte. Unter den Einsatzgruppen verstand man Einheiten, die einerseits aus der Sicherheitspolizei, andererseits aus dem Geheimdienst der SS bestanden. Sie galten als besonders brutal und gnadenlos und wurden oft als “mobile Tötungskommandos" bezeichnet.
Nachdem die Hauptstadt in der Schlacht um Kiew mit erheblichen Verlusten auf beiden Seiten eingenommen wurde, kam es im Zentrum zu vielen Explosionen und Bränden. Die Nazis um Generalmajor Kurt Eberhard, aber auch Friedrich Jeckeln, der bereits das Massaker von Kamenez-Podolsk zu verantworten hatte, trafen sich mit anderen hochrangigen Nazis und erklärten, dass die Juden an den Anschlägen schuld sein sollen.
Die Beschlusslage war klar: Die Kiewer Juden sollen getötet werden. Eine Erklärung machte dies auch unmissverständlich deutlich: „Sämtliche Juden der Stadt Kiew und Umgebung haben sich am Montag, dem 29. September bis 8 Uhr Ecke der Melnykowa- /Doktoriwski-Straße einzufinden. Mitzunehmen sind Dokumente, Geld und Wertsachen, sowie warme Bekleidung, Wäsche, usw. Wer dieser Aufforderung nicht nachkommt und anderweitig angetroffen wird, wird erschossen. Wer in verlassene Wohnungen von Juden eindringt oder sich Gegenstände daraus aneignet, wird erschossen.“ Der Mann fürs Grobe war auch gefunden: Paul Blobel.
"Ich fiel auf Leichen, die sich dort in blutiger Masse befanden."
SS-Obersturmführer August Häfner, der auch an den Besprechungen zum Massaker von Babyn Jar teilnahm, drückte seine Gefühle so aus. „Wir mussten die Drecksarbeit machen. Ich denke ewig daran, dass Generalmajor Kurt Eberhard in Kiew sagte: ‚Schießen müsst ihr!‘“. Es sollte als Vergeltungsaktion für die Anschläge sein, obwohl gar nicht klar war, wer für diese verantwortlich war.
Doch das zählte nicht. Generalfeldmarschall Reichenau forcierte sogar die “Aktion” sogar persönlich, wie aus einem Bericht der SS nach Berlin hervorgeht: „Wehrmacht begrüßt Maßnahmen und erbittet radikales Vorgehen“.
Am 29. September wurden die Kiewer Juden in Gruppen aus der Stadt und zur Schlucht geführt. Sie mussten sich nackt ausziehen und wurden erschossen. Doch da Munition teuer war, gab es auch noch andere Möglichkeiten, wie die Überlebende Dina Pronitschewa im ZDF berichtete: “Die Menschen wurden aufgestellt. Direkt an der Schlucht war ein flacher Vorsprung. Die Menschen wurden am Abhang entlang hingetrieben. Am Ende standen die Schützen und erwarteten sie. Und wenn jemand nicht gleich runter gefallen ist, wurde er mit dem Kolben hinuntergestoßen.”
Auch Dina wurde an den Rand der Schlucht getrieben. Ihre Kleidung durfte sie anbehalten. Es wurde dunkel und die Deutschen schienen langsam müde zu werden. Dann tat sie etwas, was man sich 90 Jahre später kaum mehr vorstellen konnte. "Ich nahm all meine Kraft zusammen und sprang in das Loch", sagte sie. "Ich fiel auf Leichen, die sich dort in blutiger Masse befanden." Sie stellte sich tot. Ein Deutscher, trat auf ihre Brust und Hand, doch sie machte keinen Laut und überlebte.
Die Nazis versuchten, das Massaker zu vertuschen
Die Aussagen der deutschen Zeitzeugen sind neben einer erschreckenden Klarheit vor allem von Larmoyanz geprägt. "Man kann sich gar nicht vorstellen, welche Nervenkraft es kostete, da unten diese schmutzige Tätigkeit auszuführen. Es war grauenhaft. Ich musste den ganzen Vormittag über unten in der Schlucht bleiben,” so Kurt Werner, Mitglied des Sonderkommandos. Doch er war einer der Täter, kein Opfer. Kurt Werner war ein Mörder.
"Gleich nach meiner Ankunft im Exekutionsgelände musste ich mich zusammen mit anderen Kameraden nach unten in diese Mulde begeben. Es dauerte nicht lange, und es wurden uns schon die ersten Juden über die Schluchtabhänge zugeführt. Die Juden mussten sich mit dem Gesicht zur Erde an die Muldenwände hinlegen. In der Mulde befanden sich drei Gruppen mit Schützen, mit insgesamt etwa zwölf Schützen. [...] Die Schützen standen jeweils hinter den Juden und haben diese mit Genickschüssen getötet," schilderte Werner gegenüber dem Spiegel.
Aufgrund der psychischen Belastung für die Schlächter suchten die Nazis Wege, um eine größere Distanz von Opfern und Tätern herzustellen. Die Lösung war Gas. Erste Versuche mit dem tödlichen Gas Zyklon B wurden in Auschwitz unternommen. Die „Vorteile“ überzeugen die Nazis: Man benötigt weniger Personal und schont die Täter.
Gleichzeitig plant die SS die Sonderaktion 1005. Die Leichen in den Massengräbern in der Sowjetunion, also auch in Kiew, sollen wieder ausgegraben werden, um die Spuren zu verwischen. Der Tatortreiniger der ganz besonderen üblen Art ist ein Mann, der das Massaker von Babyn Jar ausgeführt hat: Paul Blobel. Er soll dafür sorgen, dass es nach den Säuberungen der Tatorte keine Spuren mehr gibt. Wie zynisch: Der oberste Schlächter, der Mann fürs Grobe, der für zehntausende Tote gesorgt hat, vertuscht nun seine eigenen Verbrechen.
Dazu nutzt Blobel wiederum jüdische Häftlinge, die gezwungen werden, die Leichen, teilweise mit bloßen Händen, auszugraben. Später werden sie selbst ermordet, damit auch diese Spuren beseitigt werden. Bis ins Jahr 1944 werden so die Opfer exhumiert und verbrannt. Obwohl die SS Listen geführt hatten, versuchten die Nazis mit aller Macht, das Massaker von Babyn Jar zu vertuschen.
Innerhalb von 48 Stunden wurden mehr als 33.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordet.
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