Ghetto meets Broadway: Jüdische Stileinflüsse im Jazz der 1930er und 40er Jahre

Louis Armstrong, Pierre Dudan und Jean-Jacques Perrez im Hamam. Paris, März 1948© © Roger-ViolletRoger-Viollet via AFP

Große jüdische Musiker mit zumeist osteuropäischen Wurzeln wie zum Beispiel George Gershwin mit seinen Welt-Hits „Rhapsody in Blue“ oder „I Got Rhythm“ haben sich nicht nur selbst ein musikalisches Denkmal gesetzt, sondern auch eine kulturelle Brücke zu den afro-amerikanischen Künstlern geschlagen und eine Musikrichtung ganz eigener Art geschaffen. Das tief verwurzelte Gefühl von Leid und Trauer findet sich in der jüdischen Musik sowie im Blues wieder. In beiden musikalischen Traditionen ist auch die Improvisation Bestandteil. Jüdische Künstler trugen nicht nur dazu bei, den Jazz der Afro-Amerikaner populär und gesellschaftlich akzeptabel zu machen, sondern unterstützen auch schwarze Musiker. Der legendäre Louis Armstrong und Sammy Davis Jr. sind zwei von ihnen. Sammy David Jr. konvertierte später sogar zum Judentum. (JR)

Von Sabine Schereck

New York, der 12. Februar 1924. Draußen ist es schon dunkel, als am Abend die fließenden Töne der Rhapsody in Blue durch den Konzertsaal der Aeolian Hall rauschen. George Gershwin wagte es, Jazz und Klassik zu vereinen. Heute genügen die ersten Takte des Glissandos der Klarinette, um die ganze aufregende Epoche Amerikas der 1920er Jahre heraufzubeschwören.

George Gershwin wurde 1898 als Jacob Gershovitz als Sohn russisch-jüdischer Einwanderer in Brooklyn geboren. Natürlich hat er den Jazz nicht erfunden, aber den Beitrag, den jüdische Künstler wie er zum Jazz geleistet haben, ist vielen nicht bewusst.

Gershwin schuf beliebte Jazz-Standards wie Embraceable You, I Got Rhythm, Summertime und They Can’t Take That Away from Me. Zudem schrieb er Musicals wie Lady Be Good, die die Musik populär machte. Den Durchbruch hatte er 1919 mit Swanee, das der Broadway Entertainer Al Jolson in seine Show aufnahm.

Gershwins erste Anstellung in der sogenannten Tin Pan Alley brachte ihn 1913 ins richtige Umfeld. Dort reihten sich Musikverlagshäuser aneinander, deren Geschäft die Unterhaltungsmusik war. Es wimmelte dort von Komponisten, Musikern, Liedtextern.

Einer von ihnen war Irving Berlin – wie Gershwin aus einer russisch-jüdischen Familie stammend. Berlin, zehn Jahre älter als Gershwin, kam 1888 als Israel Beilin noch im russischen Kaiserreich zur Welt. Sein Vater war Kantor und starb früh, so dass Berlin gezwungen war, Geld zu verdienen. Seinen ersten großen Hit hatte er 1911 mit Alexander's Ragtime Band. Der Titel ist interessant, da der Ragtime als einer der Vorläufer des Jazz gilt. Er ging aus der afro-amerikanischen Gemeinde der Südstaaten hervor und wurde von Tanzbands verfeinert ins Repertoire genommen, insbesondere zwischen 1890 und 1910.

 

Songbooks reflektieren auch Identität

Aus Berlins Feder stammen die Evergreens Let’s Face the Music and Dance, Cheek to Cheek, Puttin’ on the Ritz und There’s No Business Like Show Business. Wie Gershwin schrieb er Musicals, doch finden sich viele seine Songs auch in Filmmusicals bzw. Tanzfilmen wieder, darunter Top Hat. Die Tatsache, dass seine Titel quer durch die Jahrzehnte von Stars gesungen wurden wie The Andrews Sisters, Fred Astaire, Louis Armstrong, Frank Sinatra, Sammy Davis Jr., Ella Fitzgerald, Judy Garland, Doris Day, Elvis Presley, Barbra Streisand, Diana Ross, Bob Dylan, Leonard Cohen und Christina Aguilera sagt viel über die kulturelle Bedeutung seiner Lieder aus. Als Teil des Great American Songbooks reflektieren sie nicht nur Qualität, sondern auch Identität, amerikanische Identität. Dazu später mehr.

Ebenfalls fast gleichbedeutend mit amerikanischem Jazz ist der Name Benny Goodman. Der Klarinettist und Big Band Leader galt als King of Swing und verhalf dem Jazz durch seine ausgearbeiteten Arrangements und seinem virtuosen Spiel zu weiterer Anerkennung bei einem weißen Publikum. Auch Goodmans Eltern waren jüdische Immigranten aus dem Russischen Kaiserreich. Sie ließen sich in Chicago nieder, wo Benjamin David 1909 das neunte von zwölf Kindern war. Armut bestimmte den Alltag, dennoch war dem Vater wichtig, ihnen eine musikalische Sensibilität zu vermitteln und nahm sie zu kostenlosen Bandkonzerten im Park. Als 10-Jähriger erhielt Goodman Musikunterricht in der Synagoge vom deutschstämmigen Klarinettisten des Chicago Symphony Orchestra Franz Schoepps. Die Klarinette erhielt der Junge, da er von feiner Statur war. Bereits zwei Jahre später, mit nur zwölf Jahren, spielte er in verschiedenen Orchestern. Zudem war er vom aufkommenden Jazz begeistert. Er hörte genau zu, wenn beispielsweise King Olivers Creole Jazz Band spielte. Mit von der Partie war der junge Louis Armstrong.

 

Jazz als Brücke

Was führte dazu, dass viele jüdische Musiker den Weg in die Jazzwelt nahmen? Und wie wurde das von der afro-amerikanischen Gemeinde gesehen, die den Jazz hervorgebracht hatte?

Da ist zum einen die musikalische Nähe. Das tief verwurzelte Gefühl von Leid und Trauer findet sich in der jüdischen Musik sowie im Blues der Afro-Amerikaner wieder. In beiden musikalischen Traditionen ist auch die Improvisation Bestandteil.

Zum anderen – heute kaum noch bekannt – wurden auch Juden damals vom Mainstream der US-amerikanischen Gesellschaft ausgegrenzt. Das war zwar weniger offensichtlich als bei der Rassentrennung gegenüber Schwarzen, aber Diskriminierung gab es dennoch. Die Unterhaltungsindustrie stand ihnen allerdings beruflich offen.

Ziel war es zudem, sich zu integrieren. Das funktionierte bestens darüber, was Amerikas Identität ausmachte: der Jazz als ureigenes amerikanisches Produkt. Dabei schufen die Neuankömmlinge in Amerika nicht nur eine amerikanische Identität für sich, sondern förderten damit gleichzeitig die Identität Amerikas selbst.

Die Beziehung schwarzer Musiker zu Juden war etwas komplizierter. Es bestanden Vorwürfe, von jüdischen Geschäftsmännern und Nachtclubbesitzern schlecht behandelt und ausgenutzt worden zu sein. Doch in zwei Fällen ist die Beziehung zwischen Schwarzen und Juden besonders bemerkenswert: bei Louis Armstrong und Sammy Davis Jr.

 

Eine besondere Freundschaft

Armstrong wuchs in ärmlichen Verhältnissen in New Orleans auf. Als 6-Jähriger begann er 1907 für die Karnofskys zu arbeiten, aus Russland stammende Juden. Er half ihnen beim Lumpen sammeln und Kohle ausliefern und machte mit einem Blechhorn Kunden auf sie aufmerksam. Er aß mit der Familie, hörte die Mutter Lieder singen und dank eines ihrer Söhne konnte er eine Trompete erwerben – der Anfang seiner Karriere. Er blieb den jüdischen Menschen zeitlebens verbunden und trug später einen Davidstern am Hals.

Sammy Davis Jr. ging einen Schritt weiter: er konvertierte zum Judentum. Es gibt viele Geschichten, was ihn dazu veranlasste. Eine davon ist, dass er dem jüdischen Entertainer Eddie Cantor seine Karriere verdankte. Eddie Cantor war nur ein Künstlername, seine Geburtsname Isidore Iskowitz verrät schon seine russische Herkunft. Ironischerweise war eine seiner Bühnenfiguren eine schwarze, wofür er sein Gesicht schwarz anmalte, um dann eine Karikatur derselben zu präsentieren. Im Vaudeville war dies damals gängige Praxis.

Der Film The Jazz Singer von 1927 greift dies auf. Die unglaubliche Bedeutung des Films liegt aber auf anderer Ebene: Er erzählt nämlich die Geschichte vom Sohn eines jüdischen Kantors, der davon läuft, um Jazzsänger zu werden. Dazu tritt er mit schwarz gefärbtem Gesicht auf. Die Titelrolle spielt Al Jolsen. Es dürfte kaum überraschen, dass er, wie so viele in der Branche, russisch-jüdische Wurzeln hatte. Als Asa Yoelson 1885 in Russland geboren, kam er mit 9 Jahren nach New York.

 

Eine Bereicherung für die Jazzwelt

Jüdische Künstler trugen nicht nur dazu bei, den Jazz der Afro-Amerikaner populär und gesellschaftlich akzeptabel zu machen, sondern unterstützen auch schwarze Musiker. Benny Goodman beispielsweise setzte sich mutig über Amerikas Rassentrennungsgesetze hinweg, als er bei seinem legendären Carnegie Hall Konzert 1938 schwarze Musiker gemeinsam mit weißen auftreten ließ. Das war das erste Mal auf einer amerikanischen Konzertbühne und eigentlich tabu. Seine offene Haltung schwarzen Kollegen gegenüber, wie dem Pianisten Teddy Wilson und Lionel Hampton, die er in seine Band aufnahm, ist mitunter auf das positive Vorbild seines ehemaligen Lehrers Franz Schoepps zurückführen. Dieser unterrichtete neben jüdischen Kindern auch schwarze, was zu der Zeit unerhört war.

Ebenfalls deutscher Herkunft war der 1908 in Schöneberg geborene Alfred Löw. Seit seiner Jugend in Berlin war er begeisterter Jazzfan, doch die Nationalsozialisten zwangen den Juden zur Flucht. 1939 gründete er unter dem Namen Alfred Lion in New York das Blue Note Label. Gemeinsam mit Max Margulis, einem amerikanischen Musiker und linken Aktivisten, bereicherte er die Jazzwelt um zahlreiche Plattenaufnahmen. Wie Goodman setzte Lion auf Qualität, nicht auf Hautfarbe. Als erstes hatte er die schwarzen Boogie-Woogie-Pianisten Albert Ammons und Meade Lux Lewis ins Studio geholt. Der erste Hit folgte mit Sidney Bechets Einspielung von Summertime; er war ein schwarzer Saxophonist und Klarinettist.

Summertime ist ebenfalls ein markantes Stück im Geflecht von jüdischen Musikmachern, Jazz und afro-amerikanischer Kultur. Es stammt aus Gershwins Oper Porgy und Bess (1935), die das Leben Schwarzer in Charleston, South Carolina um 1870 zeigt. Gershwin nahm seine Figuren ernst. Er war nach South Carolina gefahren, um deren Milieu zu studieren und ließ die Figuren von schwarzen Darstellern verkörpern. Erst spät fand das musikalische Hybrid zum Erfolg. Bis dahin hatten die von einem Juden für afro-amerikanische Sänger geschriebenen Songs längst einen festen Platz in der Jazzwelt.

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