Französische Revolution: Der lange Weg der Juden zu vollen Bürgerrechten
Mit der Französischen Revolution verbesserten sich die Rechte der Juden nach und nach. © 1st-art-gallery.com.WIKIPEDIA
In Zeiten von Absolutismus und Aufklärung machte es für Juden keinen großen Unterschied, in welchem Teil Europas sie lebten – Benachteiligungen und Verfolgungen waren überall verbreitet. Zu Beginn der Französischen Revolution von 1789 befanden sich die Juden in vollständiger Rechtlosigkeit und als nach der Erstürmung der Bastille am 14. Juli 1789 in ganz Frankreich Bauernunruhen ausbrachen, fanden im Elsass Pogrome statt. Doch nach kontroversen Debatten wurde in der französischen Nationalversammlung die bürgerliche Gleichberechtigung der Juden beschlossen. Die Losung der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, war nicht nur an das eigene Volk, sondern an die gesamte Menschheit gerichtet. Es ist aber nicht zu übersehen, dass auf der einen Seite der Antisemitismus als dauerhaftes und allgegenwärtiges Phänomen im katholischen Frankreich nach der Revolution keinesfalls ausgestorben ist und auf der anderen Seite der eingeleitete Prozess der Emanzipation für viele Juden auch eine Entfremdung bedeutete. (JR)
Durch die großen Judenvertreibungen aus Spanien und Portugal ab 1492 ließen sich zahlreiche Juden in Frankreich nieder. Die Sepharden siedelten sich in Frankreich vor allem im Elsass an. In Zeiten von Absolutismus und Aufklärung machte es für Juden keinen großen Unterschied, in welchem Teil Europas sie lebten – Zurücksetzungen, Benachteiligungen, Verfolgungen waren überall verbreitet. Zu Beginn der Französischen Revolution von 1789 befanden sich die Juden in vollständiger Rechtlosigkeit. Und als nach der Erstürmung der Bastille am 14. Juli 1789 in ganz Frankreich Bauernunruhen ausbrachen, fanden im Elsass Pogrome statt. Mehr als 1.000 Juden flohen daraufhin in die Schweiz. Das vorweg.
Die Zahl der Juden in Frankreich war durch die Einverleibung des Elsass (1648) und den zeitweiligen Besitz Lothringens, erheblich vermehrt worden, und hier nahm die Steuerpolitik der Regierung ganz besonders drückende Formen an. So musste in Metz jede Familie jährlich 40 Livres für das Niederlassungsrecht entrichten, und 1718 wurde bestimmt, dass die Zahl der Juden in Metz 480 Familien nicht übersteigen dürfe. Diese mussten außerdem in besonderen Vierteln wohnen und hatten jährlich 20.000 Livres und verschiedene andere staatliche und kirchliche Abgaben zu zahlen. Nicht besser ging es den zahlreichen elsässischen Juden, die z. T. auf dem Lande wohnten, sich von Getreide-, Vieh- und Juwelen-Handel ernährten und an die Feudalherren, von denen sie abhängig waren, als Schutzabgaben entrichten. So bestand neben Passbeschränkungen lange Zeit ein Leibzoll („peage corporel“), der für jeden durch das Elsass reisenden Juden, wie für ein Stück eingeführten Viehs, erhoben wurde. Die staatliche Verwaltung mischte sich außerdem in die autonomen Institutionen der Juden ein.
Schon vor der Revolution setzte ein Geist der Duldung ein, der dazu führte, dass 1784 der Leibzoll fiel, nachdem die Wohnungsbeschränkungen bereits vorher nach und nach gemildert worden waren. In den letzten Jahren vor der Revolution wurde die „Judenfrage“ in einer Regierungskommission behandelt. Dieser Kommission gehörten auch Vertreter der Juden an, die die völlige Gleichberechtigung für ihre Glaubensbrüder verlangten. Doch noch konnte sich die Regierung nicht zu einer so radikalen Reform entschließen.
Der Weg zur bürgerlichen Gleichberechtigung
1787 veröffentlichte Honoré Gabriel Victor de Riqueti, Comte de Mirabeau, seine Schrift „Über Mendelssohn und die politische Reform der Juden“, in der er für die bürgerliche Freiheit der Juden eintrat. In der französischen Nationalversammlung wurde kontrovers die Frage der Emanzipation debattiert und am 28. Januar 1790 wurde die bürgerliche Gleichberechtigung der Juden beschlossen. Nach monatelangen heftigen Auseinandersetzungen fasste die Nationalversammlung am 27. September 1791 einen Beschluss, nach dem „sämtliche hinsichtlich der Juden aufgenommenen Klauseln und Ausnahmeverfügungen außer Kraft“ gesetzt werden sollten. Die Losung der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, war nicht nur an das eigene Volk, sondern an die gesamte Menschheit gerichtet, sollte auch für Juden gelten, für die die Befreiungsparole zu ihrem Schibboleth wurde.
Während der Revolution, so das „Jüdische Lexikon“ aus dem Jahre 1927ff., standen Juden in der republikanischen Armee, beteiligten sich aber weder am „roten Terror“, noch gehörten sie radikalen Kreisen an. Napoleon I., der sich in der Rolle des großen Reformators der Juden gefiel, war zu der Ansicht gelangt, dass sie, trotz der Emanzipation, immer noch ein disparates Element im Staat darstellten. Er erließ daher am 30. Mai 1806 ein Dekret, das 1. die Vollstreckung aller Schuldforderungen jüdischer Gläubiger an die Landbevölkerung auf ein Jahr hinausschob, 2. die Einberufung einer jüdischen Notablen-Versammlung forderte. Zweck des Dekretes und Aufgabe der Versammlung sollten u. a. sein, die „Gefühle bürgerlicher Moral zu wecken, die infolge eines langwährenden Verharrens im Zustande der Erniedrigung, den wir weder unterstützen noch erneuern wollen, bei einem beträchtlichen Teil dieses Volkes geschwächt worden“ sind.
Am 29. Juli 1806 trat die Notabeln-Versammlung in Paris zusammen. Die Antworten, die die Versammlung auf die ihr vorgelegten Fragen erteilte, entsprachen in ihrem Inhalt ganz den vom Kaiser gehegten Erwartungen, sollten jedoch erst noch durch den ebenfalls von Napoleon einberufene Sanhedrin – so hieß in hellenistisch-römischer Zeit der jüdische Gerichtshof - die religiöse Sanktionierung erhalten. Dieser trat am 9. Februar 1807 zusammen und bestätigte vor allem die von der Notabeln-Versammlung abgegebenen Erklärungen über die Bereitschaft der Juden zur Zurückstellung aller religionsgesetzlichen Pflichten hinter die staatsbürgerlichen. So schienen alle Voraussetzungen für eine völlige Gleichstellung der Juden gegeben zu sein. Indes hatte Napoleon inzwischen seine Ansichten in der „Judenfrage“ wieder geändert. Er führte durch ein Dekret vom 17. März 1808 die jüdische „Staatskirche“, das Konsistorialsystem, ein, durch das die französischen Juden in zehn „Konsistorien“ unter Leitung eines Zentralkonsistoriums in Paris organisiert wurden. Doch erließ er zeitgleich auch das für zehn Jahre bestimmte, unter dem Namen „infames Dekret“ bekannte Ausnahmegesetz, das angeblich ebenfalls der staatsbürgerlichen Erziehung der Juden dienen sollte, in Wirklichkeit aber in brutalster Weise die Rechte der Juden auf dem Gebiet des Handels, der Gewerbefreiheit und sogar der Freizügigkeit einschränkte. So hatte es zunächst den Anschein, als ob alle Errungenschaften der Revolutionszeit wieder verloren gegangen seien.
Ab 1809 trat eine gewisse Entspannung der Lage für die Juden ein, indem das „infame Dekret“ immer mehr abgebaut oder unbeachtet gelassen wurde. Eine wirkliche Besserung für die Juden erfolgte erst mit der Restauration nach dem Sturz Napoleons im Jahre 1815.
Religiöse Toleranz
Unter den Bourbonen wurde zwar die katholische Religion Staatsreligion, aber auch alle übrigen Bekenntnisse der Bevölkerung wurden tolerant behandelt: So genossen auch die Juden völlige politische und religiöse Gleichberechtigung. Seit 1831 erhielten jüdische Institutionen Staatsmitteln, was ausdrücklich mit der Gleichberechtigung der Juden begründet wurde. Nunmehr konnten Juden sogar wichtige Regierungsämter bekleiden.
Auch unter dem judenfreundlichen Napoleon III. gestaltete sich die Lage der Juden positiv. Im Deutsch-Französischen Kriege von 1870/71 nahmen zahlreiche Juden auf französischer Seite teil, zeichneten sich auch aus, und als Elsass-Lothringen 1871 zu Deutschland kam, verließen viele Juden ihre Heimat und siedelten nach Frankreich über.
Die Dritte Republik (seit 1871) verfolgte gegenüber den Juden eine Politik absoluter Gleichberechtigung. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts brachte der Kampf zwischen der republikanischen Partei einerseits und den royalistischen und klerikalen Parteien andererseits ein Aufflammen des Antisemitismus mit sich, der seine schärfste Form in der Dreyfus-Affäre (1894ff.) annahm. Diese Episode wurde jedoch überwunden, und mit dem Ministerium Pierre Waldeck-Rousseau flaute der Antisemitismus wieder ab.
Als 1905 in Frankreich die Trennung von Staat und Kirche durchgeführt wurde, wurde auch das napoleonische Konsistorialsystem der französischen Judenheit durch die Institution der freien Religionsgesellschaften ersetzt. Juden waren nunmehr Franzosen „israelitischer“ Religion.
Bis in die Gegenwart wird die Emanzipation unter den französischen Juden unter dem Aspekt diskutiert, inwieweit die Französische Revolution für die Juden einen Janus-Charakter gehabt, indem sie einseitig der Ideologie der Assimilation Vorschub geleistet habe. Es ist nicht zu übersehen, dass der von der Revolution eingeleitete Prozess der Emanzipation auch eine Abkehr von religiösen Traditionen und eine Entwicklung zur Entwurzelung der Juden bedeutete. Auch das deutsche Judentum sah sich mit diesem innerjüdischen Problem konfrontiert.
Die neuere Geschichte der französischen Juden spiegelt exakt die widerstreitenden Kräfte, die das moderne Frankreich insgesamt beherrscht haben – Revolution und Tradition, Gastfreiheit und Fremdenhass, Nationalismus und Rücksichtnahme auf Minderheiten. Am Anfang des 19. Jahrhunderts stand der ernsthafte Versuch, den Status der Juden zu normalisieren, an seinem Ende mit der Dreyfus-Affäre ein empörender antisemitischer Skandal.
Lage der Juden in Preußen
Wie war während er genannten Zeitepochen die Lage der Juden in Preußen? Friedrich II., von seinen Untertanen zu seinen Lebzeiten bereits allgemein auch als „der Große“ verehrt, war seiner scheinbar geübten Toleranz wegen gut beleumundet. Seine auf die Religion gemünzte Formel, dass jedermann nach seiner eigenen „Fasson“ glücklich sein möge, ist ein Satz, der nachgerade sprichwörtliche Wertigkeit besitzt und – zurecht oder unrecht - seinen unverrückbaren Platz in der preußisch-deutschen Geschichte gefunden hat. Doch wenn es um die Duldsamkeit gegenüber Juden, autochthonen wie zuwandernden, ging, verließ den aufgeklärten Monarchen seine christliche Nächstenliebe, und er ging mit denjenigen preußischen Beamten ins Gericht, welche die „Abhaltung solchen Gesindels aus Unseren Landen obgelegen, wegen Vernachlässigung ihrer Pflicht“ nicht zur Verantwortung gezogen wurden. Die Juden aber hätten sich durch „allerley falsche Vorwendungen“ den Eingang und Aufenthalt in den preußischen Landen zu verschaffen gewusst. Friedrich fand es nötig, neue Bestimmungen zu erlassen, die künftig genauer und zuverlässiger „beobachtet und ausgeübet“ werden sollten. Die alten Verordnungen und Edikte waren dahin zu „extendieren“, dass, so lautete der erste Artikel seines Erlasses aus dem Jahre 1780, kein fremder Jude überhaupt, von nun an „in Unsere Lande eingelassen“, sondern sofort am Grenzort zurückgewiesen werden sollte. Die Rede war von den Juden des russischen Zarenreichs, den „Betteljuden“, den „Ostjuden“. Das war die Sprache eines „aufgeklärten“ Monarchen in der Epoche des Absolutismus im ausgehenden 18. Jahrhundert, doch klingt sie inhaltlich, auf die Gegenwart bezogen, höchst aktuell.
Eine der alten Verordnungen, von denen der preußische König Friedrich II. sprach, war das „revidierte General-Privilegium und Reglement für die Juden in den Preußischen Landen“ vom 17. April 1750, eine Mischung mittelalterlicher und moderner Elemente, die die Juden zwar enger mit dem Staat verknüpfte, ihnen aber weniger Freiheiten bot. Alles in allem ging es dem König darum, die Juden entsprechend ihrem ökonomischen Nutzen für den Staat zu bewerten. Juden wurden in Klassen eingeteilt, so wie es dem Standesdenken preußischer Obrigkeit entsprach.
Das friderizianische Diktum, die Religionen müssten alle toleriert werden und jeder solle „nach seiner Faßon selich werden“, war, das versteht sich von selbst, nachgerade von den Juden freudig aufgenommen worden. Für den König war es eine Randglosse auf einer Behördenvorlage zur Frage der Religionsausübung im Jahre 1740. Doch war das nichts als ein kluger Satz, wohlmöglich als Zitat für die Nachwelt formuliert, der vordergründig nach Toleranz klang, indes noch kein Staatsbürgerrecht einräumte.
Friedrichs Generalreglement, das er 1750 für die Juden kundtat, und das bereits gegenüber noch rigideren Vorschriften, man staune, „revidiert“ war, war ganz und gar rückwärts gerichtet. Dieses Edikt betrachtete die Juden lediglich vom Standpunkt der Nützlichkeit, die sie für den Herrscher besaßen: Die reichsten Juden erhielten das „Generalprivileg“, die am schlechtesten gestellte Gruppe war das Dienstpersonal der privilegierten Juden, die nicht heiraten und nur so lange in der Stadt bleiben durften, als ihr Arbeitsverhältnis bestand. Nein, den Geist der Toleranz atmete dieses königliche Edikt wahrlich nicht und deswegen fand es den scharfsinnigen Kommentar des französischen Aufklärers Graf Mirabeau, der das Edikt als „eines Kannibalen würdig“ verspottete.
Die Judenpolitik Friedrichs II. war außer von dem Wunsch, Staatskasse und Wirtschaft zu füllen und zu fördern, auch von einer persönlichen Abneigung des Königs geprägt. Seine deistischen Überzeugungen, denen zufolge er einen überkonfessionellen Gottesglauben auf die Vernunft gründete, ließen ihn in den Juden eine primitive, abergläubische Sekte erblicken.
Gegensatz zur Aufklärungsidee
Während Frankreich die jüdische Minderheit beim Aufbau demokratischer Strukturen zu beteiligen und sie in selbstbewusste und aktive Staatsbürger zu verwandeln suchte, stand in den deutschen Landen zu dieser Zeit der Absolutismus noch in hoher Blüte. Dagegen steht das königlich-preußische Judendekret, das jeglichen Christensinn und das Gebot der gegenseitigen Nächstenliebe, der Menschenliebe und –achtung vermissen lässt, in dem ein bizarrer Gegensatz zu der Aufklärungsidee aufscheint und das allein vom Gedanken ihres ökonomischen Nutzens bestimmt war. Vom Gedankengut der Französischen Revolution waren die preußischen Judengesetze weit entfernt.
Gotthold Ephraim Lessing, er vor allem, und der mit dem großen jüdischen Aufklärer Moses Mendelssohn befreundete und von ihm beeinflusste Christian Wilhelm von Dohm, der sich um die bürgerliche Verbesserung der Juden verdient gemacht hat - das sind die Ausnahmen. Auch die intellektuellen Träger deutscher Kultur konnten sich nicht für die Juden erwärmen und waren doch kalt bis ans Herz. Die christlich inspirierte und politisch geführte Restauration, die sich um die Rücknahme der Errungenschaften der Französischen Revolution bemühte, stand der Moderne im Wege.
Im Deutschland der Aufklärungszeit erwachten auch bei Juden nationale Leidenschaften. Doch war es so, dass Juden in der Voremanzipationszeit Menschen minderen Rechts waren, ganz und gar rechtlos, allenfalls geduldet. Der Jude war der Fremde an sich. Aufklärer wie Christian Wilhelm Dohm, auch Wilhelm von Humboldt, wollten die Juden zu guten Bürgern erziehen, d.h., verbessern, zu Christen machen, Bürger für einen christlichen Staat.
Indes waren Juden willens, „gute“ Bürger zu werden und bereit, sich an die christliche Umgebungsgesellschaft durch Akkulturation bzw. Assimilation anzupassen, wenn ihnen Rechtsfreiheit gewährt würde, kurz: sie forderten Emanzipation. Diese war durch Dohms Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ von 1781 erstmals in die öffentliche Diskussion gerückt worden. In seinem Buch stellte Dohm sich der judenfeindlichen Politik seiner Zeit entgegen, die er als ein „Überbleibsel der Barbarei der verflossenen Jahrhunderte“ bezeichnete, und wandte sich gegen den „fanatischen Religionshass“, der der „Aufklärung“ der Zeit „unwürdig“ sei. Er schrieb: „… auch der Jude hat auf diesen Genuss der bürgerlichen Gesellschaft, auf diese Liebe Anspruch“. Und dann deutlich: „… nur verfolgungssüchtige Priester haben Märchen von den Vorurteilen der Juden gesammelt, die nur ihre eigenen beweisen“.
Erst mit Napoleons Truppen wurde auch in den deutschen Staaten den Juden die bürgerliche Gleichstellung gebracht. Es war ein Siegeszug der Ideen der Französischen Revolution. Zuerst geschah dies 1808 in Westfalen unter der Herrschaft von Napoleons Bruder Jérome. Napoleon ließ die noch bestehenden Ghettomauern niederreißen.
Bedingungen der jüdischen Emanzipation
Die Judenemanzipation in Preußen wurde nach der militärischen Niederlage Napoleons ins Werk gesetzt, die in dem Edikt vom 11. März 1812 „betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate“ festgeschrieben wurde. In den meisten deutschen Staaten handelte es sich jedoch lediglich um die Gewährung individueller Staatsbürgerrechte – eine Politik also, die den Menschen, aber nicht den Juden emanzipieren wollte, ganz nach dem Vorbild der Emanzipationsdebatte der französischen Nationalversammlung im Dezember 1789, wo Graf Stanislas de Clermont-Tonnérre den Satz formulierte, der dann zum unumstößlichen Credo der Emanzipationsgegner werden sollte: „Den Juden als Individuen alles, den Juden als Nation nichts“.
Viele deutsche Staaten waren zwar bereit, den Juden die bürgerliche Gleichberechtigung und rechtliche Gleichstellung im Prinzip anzuerkennen, dies aber nur im Zuge einer allmählichen und stufenweise Emanzipation. Doch die Juden mussten über die staatlicherseits erhobenen Forderungen erstaunt sein, sie hätten sich zu Ehre und Sittlichkeit zu läutern, ihre „Fremdartigkeit“ hinter sich zu lassen, kurz: ihre jüdische Identität aufzugeben, um als vollwertige Staatsbürger anerkannt zu werden.
Die Akkulturation an die deutsche Gesellschaft war – wie in Frankreich auch - verbunden mit einer innerjüdischen Krise, die zugleich an die traditionellen religiösen Grundlagen des Judentums rüttelte. Traditionsgebundene Juden befürchteten das Ende alles Jüdischen. Bei der jüdischen Mehrheit, die den Ersatz der traditionellen Gemeindeautonomie durch das allgemeine Recht nicht hinnehmen wollten, stießen die Emanzipationsgedanken auf Widerstand, bedeutete dies doch die Einschränkung der Thora-Geltung auf ein bloßes Religions- bzw. Zeremonialgesetz.
Die erneute revolutionäre Stimmung, die von Frankreich ausging, hatte im März 1848 über ganz Deutschland übergegriffen. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Märzereignisse zugleich eine Hochphase antijüdischer Ausschreitungen waren, in denen Auswüchse eines modernen Antisemitismus aufschienen. Der Judenemanzipation zum Trotz war weder in Frankreich noch in Deutschland der Antisemitismus obsolet geworden. Im Gegenteil.
Das 19. Jahrhundert endete in Frankreich mit der Dreyfus-Affäre, ein antisemitischer Skandal, der die europäische Gesellschaft insgesamt erfasste, und die Bevölkerung in zwei Lager spaltete – in Dreyfus-Gegner und -befürworter. Mit Alfred Dreyfus war 1894 in Paris nicht irgendein x-beliebiger französischer Offizier, sondern ein Jude angeklagt, vor die Schranken des Gerichts gezerrt und zu lebenslänglicher Deportation nach Übersee verurteilt worden. Auch im Revisionsverfahren fünf Jahre später, als klar zutage getreten war, dass Dreyfus zu Unrecht angeklagt worden war, wurde er erneut verurteilt. Ein Prozessbeobachter namens Theodor Herzl kommentierte das Urteil so: „Der Fall Dreyfus enthält mehr als einen Justizirrtum, er enthält den Wunsch der ungeheuren Mehrheit in Frankreich, einen Juden und in diesem einen alle Juden zu verdammen“.
Der Antisemitismus, das hatten diese antisemitisch motivierten skandalösen Urteile im Dreyfus-Prozess gezeigt, hat schließlich in Frankreich nicht obsiegt, sondern zur Stärkung der Demokratie geführt. In Deutschland jedoch bahnte sich über den, alle judenfeindlichen Spielarten umfassenden „modernen“ Antisemitismus hinweg, letztendlich ein Vernichtungsantisemitismus Bahn, der Mitte des 20. Jahrhunderts im millionenfachen Judenmord seine fürchterliche Konsequenz zeitigte.
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