Kristine von Soden: „Ob die Möwen manchmal an mich denken?“ – Ein Buch über die „judenreinen“ Bäder der Ostsee
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In ihrem Buch „Ob die Möwen manchmal an mich denken?“ – Die Vertreibung jüdischer Badegäste an der Ostsee - taucht Kristine von Soden in die Jahre 1880 bis 1937 und zeichnet nach, wie es jüdischen Besuchern entlang der Ostseeküste erging. Die freie Journalistin und Autorin öffnet damit ein Kapitel jüdischer Geschichte, das bisher unbeachtet blieb, aber von kulturhistorischer Bedeutung ist. (JR)
Alles hinter sich lassen. Vor sich: die Weite des Meeres, das Licht, ein leichter Luftzug, der die Lebensgeister wieder weckt. Dazu das beruhigende, rhythmische Rauschen der Wellen. Vergessen das tägliche Großstadttreiben mit dem Tramgebimmel, den vorbei hastenden Menschen, der grimmige Blick der Verkäuferin, die vielleicht ahnt, dass man nicht, wie sie, zur Kirche geht.
Die Küste schenkt allen ihre erholsamen Kräfte – die dortigen Bewohner teilen diese naturgegebenen Schätze jedoch nicht gern mit jedem. In ihrem Buch „Ob die Möwen manchmal an mich denken?“ – Die Vertreibung jüdischer Badegäste an der Ostsee taucht Kristine von Soden in die Jahre 1880 bis 1937 und zeichnet nach, wie es jüdischen Besuchern entlang der Ostseeküste erging. Die freie Journalistin und Autorin öffnet damit ein Kapitel jüdischer Geschichte, das bisher unbeachtet blieb, aber von kulturhistorischer Bedeutung ist: auch Sommerurlaube sind prägende Abschnitte im Leben.
Von Sodens Route führt von den Seebädern Cranz und Rauschen, die damals zu Ostpreußen gehörten, westwärts bis nach Heiligenhafen in Holstein. Die Richtung ist historisch begründet: In Cranz erkennt man früh die wohltuende Wirkung des Meeres und entwickelt es 1816 zum Seebad. Es wird zum beliebtesten Badeort Ostpreußens und Ziel jüdischer Urlauber aus Russland, dem Baltikum und Polen. Ein Höhepunkt war die dort 1912 errichtete Synagoge. Sie wurde von der jüdischen Gemeinde Königsberg gefördert; die damals drittstärkste im Deutschen Reich nach Berlin und Breslau und 25 km südlich von Cranz lag. Nicht jedem ist Cranz geläufig und man vermisst im Buch die Information, dass der historische bedeutsame Ort heute auf der Karte unter dem Namen Zelenogradsk zu finden ist – er liegt nun in Russland. Die Synagoge gibt es nicht mehr. Sie wurde nach 1990 entfernt.
Antisemitismus am Strand
Ein Gegenpol zu Cranz ist Heiligenhafen, nicht nur geografisch. Dort wird bereits 1880 für jüdische Gäste eine erhöhte Kurtaxe in Erwägung gezogen. Auf der anderen Seite der Lübecker Bucht, in Warnemünde, begegnet jüdischen Besuchern der Antisemitismus am Strand. Der Ort rühmt sich seiner vielen „Zellen“, d.h. ihren Umkleidekabinen. Manch ihrer Innenwände sind jedoch mit judenfeindlichen Worten beschmiert. Die Kunde davon erreicht sogar das liberale Leipziger Tageblatt.
Wie war zwischen den zahlreichen Badeorten, ihren Unterkünften und Restaurants zu navigieren, um derart unangenehmen Vorkommnissen zu entgehen? Jüdische Publikationen gaben Orientierung. Bereits im Juni 1896 vermerkt das vom Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens herausgegebene Blatt, dass Zinnowitz auf Usedom „jüdischen Besuch“ ablehne. Später erstellt die jüdische Presse Listen der Badeorte, an denen Antisemitismus beobachtet wurde. 1905 nennt die damalige Jüdische Rundschau in ihrer Rubrik „Antisemitische Bade-, Kur- und Erholungsorte“ auch Hotels und Pensionen. Die Zusammenstellung beruht auf Aussagen jüdischer Badegäste, Selbstauskunft von Hotels und Pensionen sowie Badeverwaltungen vor Ort.
Gleichzeitig war Inseraten dieser Publikationen zu entnehmen, wo jüdische Mitbürger willkommen waren, noch dazu ohne religiöse Richtlinien zu kompromittieren. In Swinemünde, z.B., öffnete 1905 die „Restauration und Pension Berolina“ ihre Türen und vermerkt „Unter Aufsicht der Israelitischen Synagogengemeinde Adass Jisroel, Berlin.” Im Sommer 1910 führt die Jüdische Rundschau eine Anzeigenseite ein mit dem Titel „Bäder, Kurorte u. Hotels“. Darin präsentierte sie deutschlandweit jüdische und judenfreundliche Unterkünfte.
Bei Anzeigen anderer Zeitungen, Broschüren und Reiseführern galt es Schlüsselworte zu dekodieren: „christlich“, „deutsch“ und „empfohlen vom Deutscher Offizier-Verein“ waren Hinweise, sich nicht an diese Häuser zu wenden. Der Verein druckte ein Reisehandbuch mit „gut-bürgerlichen“ Hotels und Pensionen, ohne dezidiert zu schreiben, dass diese keine jüdischen Gäste aufnahmen.
Darüber hinaus berichten jüdische Zeitungen darüber, was an verschiedenen Städten zu erwartet war. Über Kolberg schreibt 1910 Lucia Jacoby im Israelitischen Familienblatt, dass dort auf den Straßen Polnisch, Russisch, Deutsch, Hebräisch und „Jargon“ zu hören sei, gemeint ist damit Jiddisch. Des Weiteren befänden sich dort zwei Synagogen der Gemeinde Kolberg sowie das Gotteshaus des Jüdischen Kurhospitals: „Beide Gebetsstätten sind besonders an den Sabbat-Gottesdiensten weit überfüllt.“ Zudem besaß das Seebad sechs jüdische Hotels. Dies gehörte zu den Ausnahmen.
Erinnerungen der Badegäste
Von Soden hat tiefgründig und weitreichend recherchiert. Neben historischen Publikationen wie denen des Verbands Deutscher Ostseebäder, Reiseführern aus verschiedenen Jahrzehnten, Ratgebern und lokalen Zeitungen, fließen in ihr Portrait auch Erinnerungen prominenter und weniger prominenter Urlaubsgäste ein.
Nach Kolberg reiste auch Else Lasker-Schüler. Sie liebte es und kehrte mehrmals zwischen 1915 und 1931 zurück. Über sie, genauer gesagt über ihre Verbindung zur Familie Hirschfeld, erfährt man viel über das weitreichende Wirken des Arztes Hermann Hirschfeld, Vater des in Berlin bekannten Sexualforschers Magnus Hirschfeld. Seine Schwester Agnes leitete die Pension „Villa Sommerheim“, in der Lasker-Schüler ihre Ferien verbrachte. Das Kapitel birgt viele interessante Erkenntnisse über die dort gut etablierte jüdische Gemeinde.
In den 1920er Jahren entfacht entlang der Osteseeküste der sogenannte „Flaggenstreit“. Politische Bekenntnisse werden über Fahnen und Wimpel an Strandkörben und Sandburgen kundgetan. Da sind die Fahnen mit Hakenkreuz, die schwarz-weiß-roten der Kaisertreuen sowie die schwarz-rot-goldenen der Anhänger der Weimarer Republik. Sie werden mit den Freunden des Judentums gleichgesetzt werden, da die Republik Juden die Gleichberechtigung verlieh. Über Nacht wurden Flaggen zertreten, zerrissen oder gestohlen.
Victor Klemperers Tagebucheintrag von 1926 leitet die Betrachtung über Heringsdorf ein. Zu dem Zeitpunkt reiste er seit 21 Jahren an das Seebad auf Usedom. Das Geschehen um die Zeit auf Rügen kommentiert 1924 Joseph Roth. Der Journalist bringt zu Papier, wie fleißig schon die Hakenkreuzfahnen gehisst wurden.
Die bereits um 1900 durch Antisemitismus aufgefallenen Seebäder Zinnowitz und Warnmünde machen ihre Gesinnung nun in ihren Anzeigen öffentlich. In Zinnowitz markiert schon 1920 das Hotel „Zur Ostsee“ seine Annonce mit Hakenkreuzen; das „Haus Seerose“ erklärt 1929 am Ende in ihrer Beschreibung „Juden finden keine Aufnahme“.
Widerstand gegen die braune Vorherrschaft
Zwischen Zinnowitz und Warnemünde liegen zwei besondere Orte Hiddensee und Ahrenshoop. Beide waren unter Künstlern sehr beliebt. Dennoch gab es Unterschiede. Der dänische Stummfilmstar Asta Nielsen richtete sich 1928 auf Hiddensee ein. Die Insel bot den jüdischen Malerinnen Clara Arnheim und Julie Wolfthorn Inspiration und zur Erholung reisten illustre Gäste wie Albert Einstein, Otto Klemperer, Friedrich Hollaender und Marlene Dietrich an. Sie war wie Nielsen nicht jüdisch, dennoch setzten beide ein Zeichen gegen den Nationalsozialismus. Dietrich nahm die amerikanische Staatsbürgerschaft an; Nielsen kehrte 1934 nach Dänemark zurück.
Ahrenshoop zeichnet sich durch seinen Widerstand gegen die braune Vorherrschaft aus. Von Soden schreibt, dass es keine Hinweise auf Gastwirte gibt, die nur ein „christliches Publikum dulden oder sich als ausdrücklich ‚deutsch’ definieren“ – bis zum Ende der Weimarer Republik. Selbst danach gewähren Pensionen Juden noch Unterkunft, später sogar Unterschlupf, während diese woanders Repressalien ausgesetzt waren.
Die Aufenthalte an der Ostsee von Kurt Tucholsky, Alfred Kerr, Erich Kästner und Käthe Kollwitz, werden ebenfalls skizziert, selbst wenn letztere beiden nicht jüdisch sind. Ihre Eindrücke illustrieren markant Ort und Zeit.
Das Buch erschien erstmals 2018, nun liegt eine Neuausgabe vor mit viel zusätzlichem Text- und Bildmaterial, darunter Fotos von Bädern und Personen, Annoncen und Ansichtskarten, Dokumenten, Briefen und Zeitungsartikel. Diese reiche Bebilderung vermittelt einen guten Eindruck über die rege Reisebranche damals und die Menschen jener Zeit. Das Buch liest sich gut und ist eine wahre Fundgrube an Wissen. Das war auch von Sodens Werk „Und draußen weht ein fremder Wind ...“ Über die Meere ins Exil, das sich mit jüdischen Schicksalen beschäftigte.
Ergänzend zum aktuellen Buch gibt es die Ausstellung »Die Vertreibung jüdischer Badegäste an der Ostsee«. Bis 10.8. 2023 ist sie im Max-Samuel-Haus in Rostock zu sehen, von 18.8.–15.10.2023 im Kunstmuseum Ahrenshoop.
Kristine von Soden: „Ob die Möwen manchmal an mich denken?“, AvivA Verlag, 240 S., 22 €
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