70 Jahre Luxemburger Abkommen: Versuch einer „Wiedergutmachung“ des NS-Unrechts am jüdischen Volk
Der Weg zur finanziellen Entschädigung der Opfer der NS-Verbrechen.
Anlässlich des 70. Jahrestages des Luxemburger Abkommens wurde im Berliner Abgeordnetenhaus am 6. Juni zu einer Ausstellungseröffnung in der Wandelhalle des ehemaligen Preußischen Landtages geladen. Die Ausstellung, die die Vorgeschichte, Entstehung und Auswirkungen des Luxemburger Abkommens zeigt, wurde gemeinsam vom Bundesministerium der Finanzen, der Jewish Claims Conference und dem Knesset-Museum konzipiert. Am 10. September 1952 hatten Deutschland, Israel und die Jewish Claims Conference eine Einigung über Entschädigungszahlungen an die jüdischen Opfer der NS-Verbrechen vereinbart. Völkerrechtlich stellte das Luxemburger Abkommen angesichts des unfassbaren und beispiellosen Ausmaßes des Verbrechens an den europäischen Juden eine Besonderheit und ein Novum dar, da bis dato Reparationsleistungen des Kriegsverlierers an den Kriegsgewinner üblich waren, jedoch keine individuellen Leistungsansprüche von Opfern. (JR)
Das jüdische Leben in Deutschland war nach dem Zivilisationsbruch der Shoah und dem Vernichtungsfeldzug der Nationalsozialisten seiner materiellen und physischen Existenz sowie der Tradition der gesellschaftlichen Verankerung beraubt. Zahlreiche Familien waren vollständig oder teilweise ermordet, verschollen oder emigriert. Das Ende des NS-Regimes bedeutete jedoch nicht automatisch ein Ende der Not, da die Überlebenden ihrer Existenzgrundlagen beraubt waren.
Am 10. September 1952 schlossen die Bundesrepublik, der Staat Israel und die Conference on Jewish Material Claims Against Germany das nach seinem Unterzeichnungsort benannte Luxemburger Abkommen, in welchem die Entschädigungsansprüche von Überlebenden der Shoah sowie jüdischer Opfer des Nationalsozialismus geregelt wurde. Anlässlich des 70. Jahrestages dieser Vereinbarung mit historischer Bedeutung für die Entwicklung der deutschen und europäischen Nachkriegsordnung lud das Abgeordnetenhaus von Berlin am 6. Juni 2023 zu einer Ausstellungseröffnung in der Wandelhalle des ehemaligen Preußischen Landtages ein. Die Ausstellung, die Vorgeschichte, Entstehung und Auswirkungen des Luxemburger Abkommens zeigt, wurde gemeinsam vom Bundesministerium der Finanzen, der Jewish Claims Conference und dem Knesset-Museum konzipiert.
In Ihrem Grußwort zur Eröffnung der Gedenkveranstaltung betonte die Präsidentin des Berliner Abgeordnetenhauses Cornelia Seibeld (CDU) die Bedeutung dieser Zusammenarbeit sowie der Bewahrung dieses Abkommens. Prof. Dr. Luise Hölscher (CDU), Staatssekretärin im Bundesministerium der Finanzen, das für die Begleichung der daraus resultierenden Ansprüche federführend zeichnet, zeigte sich bei der Ausstellungseröffnung erfreut darüber, dass dieses historische Dokument auch heute noch seine Wirkung entfaltet. In der anschließenden Gesprächsrunde mit der Berliner Shoah-Überlebenden Ruth Winkelmann erzählte diese von ihrem bewegenden Leben und ihren eigenen Erfahrungen mit der Inanspruchnahme der Entschädigungsleistungen. Doch wie kam es zu diesem historischen Dokument und welche Folgen ergaben sich daraus für die deutsche Nachkriegsentwicklung im Umgang mit den jüdischen Opfern des NS-Regimes?
Das erste Rückerstattungsgesetz
Die westlichen Siegermächte Großbritannien, Frankreich und USA brachten nach der Beendigung des Zweiten Weltkrieges durch die bedingungslose Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945 erste Entschädigungsregelungen in ihren Besatzungszonen auf den Weg. So wurde das erste Rückerstattungsgesetz Nr. 59 im November 1947 von der amerikanischen Militärverwaltung erlassen. Dieses regelte die Rückerstattung unrechtmäßig enteigneten Besitzes und schuf damit einen Rechtskörper für geraubtes Vermögen jüdischer Deutscher. 1948 wurde der Staat Israel in der historischen Heimat des jüdischen Volkes proklamiert, im darauffolgenden Jahr wurde die Bundesrepublik Deutschland aus den drei Westzonen gegründet.
Bundeskanzler Konrad Adenauer erklärte sich im September 1951 „zur moralischen und materiellen Wiedergutmachung“ und zu dahingehenden Verhandlungen mit Israel über Entschädigungsleistungen für die jüdischen Opfer des NS-Regimes bereit. Kurz darauf formierte sich in New York die Conference on Jewish Material Claims Against Germany als weltweite Vertretung jüdischer Organisationen und Stimme der Betroffenen bei den Verhandlungen. Die moralische Dimension konnte aus jüdischer Sicht nicht Gegenstand von Verhandlungen sein, die materielle jedoch durchaus, woraus sich der Name der Organisation ableitet.
Solche Gespräche wie von Adenauer avisiert wurden jedoch in Israel selbst zu jener Zeit äußerst kritisch gesehen. Der spätere israelische Ministerpräsident Menachem Begin beispielsweise organisierte Proteste gegen die Zahlung von „Blutgeld“; die Knesset stimmte den Verhandlungen jedoch mit einer knappen Mehrheit zu. Die Gespräche begannen am 21. März 1952 im niederländischen Wassenaar unweit von Den Haag. Die Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik, der Claims Conference und Israel verliefen hart und standen mehrmals kurz vor dem Abbruch. Der Präsident der Claims Conference, Nahum Goldmann, spielte eine wichtige Rolle als Vermittler zwischen der Bundesrepublik und Israel. Am 10. September 1952 konnte das Luxemburger Abkommen schließlich nach langem Ringen durch Bundeskanzler Konrad Adenauer, Ministerpräsident Moshe Sharett und Nahum Goldmann unterzeichnet werden. Neben einer Rechtsgrundlage für die Entschädigung der jüdischen Opfer erhielt Israel finanzielle Leistungen in Höhe von drei Milliarden Deutsche Mark. Dies trug wesentlich zum Wirtschaftsaufschwung in der Frühphase der Staatlichkeit des jungen jüdischen Staates bei, von dessen Bevölkerung 26 % im Jahr 1952 Überlebende der Shoah waren.
Ein völkerrechtliches Novum
Völkerrechtlich stellte das Luxemburger Abkommen ebenfalls ein Novum dar, da bis dato Reparationsleistungen des Kriegsverlierers an den Kriegsgewinner üblich waren, jedoch keine individuellen Leistungsansprüche von Opfern. Die Bundesrepublik schloss in den Jahren von 1959 bis 1964 entsprechende Abkommen mit den anderen westeuropäischen Staaten zur Entschädigung dort lebender jüdischer NS-Opfer. Im Gegensatz zur Bundesrepublik hat sich die DDR unter Berufung auf ihren ‚antifaschistischen‘ Gründungsmythos stets geweigert, solche Leistungen zu bezahlen. Im Kontext der Wiedervereinigung verabschiedete die erste freigewählte Volkskammer der DDR im September 1990 ein Vermögensgesetz zur Regelung NS-verfolgungsbedingter Vermögensverluste. Nach der deutschen Wiedervereinigung und dem Fall des Eisernen Vorhangs 1990/91 wurden auch mit einigen osteuropäischen Staaten solche Verträge geschlossen.
Die Claims Conference leistet weiterhin einen wichtigen Beitrag bei der Unterstützung von Shoah-Überlebenden und der materiellen Wiedergutmachung. Im Jahr 2000 wurde eine Vereinbarung mit der Bundesregierung sowie Vertretern der deutschen Industrie zur Zahlung von über zehn Milliarden Deutsche Mark getroffen, die vor allem den Opfern von Sklaven- und Zwangsarbeit zugutekommen sollten. Einige Jahre später wurden Verhandlungen über Leistungen für die häusliche Betreuung ehemaliger Shoah-Opfer erfolgreich abgeschlossen. Die erste Vereinbarung belief sich auf sechs Millionen Euro im Jahr 2004. Für das Jahr 2022 wurden bereits 622,9 Millionen Euro erreicht.
Kein „moralisches Freikaufen“
Der Begriff „Wiedergutmachung“ wird von den jüdischen Opfern selbst und Organisationen wie der Claims Conference nicht verwendet, da es für die sechs Millionen ermordeter europäischer Juden kein ‚moralisches Freikaufen‘ geben kann. Die deutsche Position hat sich inzwischen damit arrangiert, dass dieser Prozess nicht abgeschlossen werden kann, ohne den Terminus jedoch aufzugeben. Das Luxemburger Abkommen als Versuch einer „Wiedergutmachung“ der Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten gegenüber dem jüdischen Volk ist heute nach wie vor ein wichtiger Baustein des Konsenses der demokratischen Neuordnung Deutschlands nach 1945 und eine bedeutende Grundlage gegen das Vergessen historischer Schuld, die zwar materiell ausgeglichen, aber als moralisches Mahnmal des kollektiven historischen Gedächtnisses nicht vollständig getilgt werden kann. Die im Berliner Abgeordnetenhaus präsentierte Ausstellung leistet einen wichtigen Beitrag dazu, diese Zusammenhänge im historischen Kontext darzustellen und durch Zeitzeugenberichte und individuelle Schicksale flankiert anschaulich zu vermitteln. Bundespräsident Roman Herzog formulierte am 27. Januar 1999: „Für mich ist jeder Versuch, die Verbrechen des Nationalsozialismus aus der geschichtlichen Erinnerung auszublenden, letztlich nur eine besondere Form intellektueller Feigheit“.
Sehr geehrte Leser!
Die alte Website unserer Zeitung mit allen alten Abos finden Sie hier:
alte Website der Zeitung.
Und hier können Sie:
unsere Zeitung abonnieren,
die aktuelle oder alte Ausgaben bestellen
sowie eine Probeausgabe bekommen
in der Druck- oder Onlineform
Werbung