Buchbesprechung: Breslau. Die Stadt der Geretteten
© Agnieszka Bormann/Schlesisches Museum
Eine Rezension der veröffentlichten Erinnerung von Mieczyslawa Wazacz an ihr Leben im Breslau der Nachkriegszeit. Nach der Ermordung des Vaters durch die Nationalsozialisten wandert die aus dem Ostpolen der Vorkriegsära, respektive teilweise auch aus der Sowjetunion stammende jüdische Familie in der Welt der Holocaust-Überlebenden, DP`s (Displaced Persons) und der Umsiedler ins polnisch gewordene Breslau aus, das noch in Trümmern lag. (JR)
Das Buch schildert im Kern das Erleben der am 26. Oktober 1942 geborenen Autorin, Tochter jüdischer Eltern, im Breslau der Jahre 1945 bis zu ihrem Abitur. Als Ort des Geschehens spielt die Breslauer Dominsel mit ihren „farbenfrohen Häusern“ (S. 48) nur am Rand eine Rolle, denn das „Breslau unserer Kindheit war voller Trümmer“ (S. 48) – auch und besonders menschlicher Trümmer.
Wir erinnern uns: Nach einer klaren Grenzziehung mitten durch Niederschlesien mit seiner Hauptstadt Breslau entlang des Flüsschens Neiße ab 1945 ist kulturell seit Ende der 1990er Jahre eine Annäherung der Woiwodschaft Niederschlesien und dem bei Deutschland verbliebenem Teil Niederschlesiens, der Schlesischen Oberlausitz, zu beobachten. Nicht ganz zufällig hat sich also das dortige Schlesische Museum in Görlitz dieses Projekt einer Erinnerungsliteratur zu eigen gemacht; jüdische und schlesische Motive finden sich hier ineinander verschränkt.
Da der Vater der Autorin wenige Tage vor ihrer Geburt „in einem deutschen Lager zu Tode gequält“ (S. 64) verstarb, erhielt sie seinen Vornamen Mosze – in der polnischen, weiblichen Form lautet er Mieczyslawa. Diese erste von vielen Geschichten des Mädchens im Nachkriegs-Breslau ist eigentlich das Framing des Buchs, denn der Vorname der Autorin war ja nicht direkt der hebräischen Bibel entnommen, sondern bezog sich auf einen jüdischen Menschen, ihren Vater. Dieser indirekte Bezug zum Judentum wird die Autorin im täglichen Leben in Breslau bei ihren Begegnungen und Erfahrungen immer wieder bewusst werden.
Neubeginn in Breslau
Durch den Tod des Vaters sind die drei Mitglieder der Familie, die Autorin, ihre etwas ältere Schwester und die Mutter nach unfreiwilliger Wanderschaft von dem nun der Ukraine zugeordneten Ostpolen nach Breslau dort auf sich selbst gestellt. Für die Autorin selbst gilt: „Ich sehnte mich in Breslau nach einer großen Familie.“ (S. 88). Dadurch sensibilisiert werden andere Familien und Menschen interessant und berichtenswert. Man bekommt eine Ahnung der Begeisterung der Mutter für die klassenlose Gesellschaft und erfährt von ihrem Willen, den Staatssozialismus mit aufzubauen. Der christlichen Umwelt wird entsprochen, indem die beiden Töchter der Familie getauft werden. Ob sich für die Familie an ihrem von ihr selbst wahrgenommenem jüdischen Status etwas ändert, wird nicht ganz klar. Obschon getauft, erzählt die Autorin einer Mitschülerin, „dass ich Jüdin sei“ (S. 51). Zumindest glaubensmäßig bleibt auch die Mutter in der Unschärfe; sie „betete, flehte zu Gott, an den sie nicht glaubte“ (S. 122).
Die Autorin wächst in Breslau in einer fast nur migrantischen Umgebung auf, in der nicht nur für sie, sondern für alle alles neu war. – „Wir hatten ein Klavier, ein schwarzglänzendes, ehemals deutsches Klavier.“ (S. 36). Die Garantenstellung, dass dieser Besitz legitim war, füllten die „neuen rechtmäßigen Verwaltungsbehörden“ (S. 36) aus wie überhaupt die sichtbaren Garanten der öffentlichen Ordnung eine erstaunlich große Rolle spielen.
Einen großen Teil des Buchs widmet die Autorin dem eigenen Verhalten und dem anderer Menschen. Da ist beispielsweise der bisweilen in der Öffentlichkeit betrunken herumlaufende Nachbar, da sind freundliche, neckende und erzählende Altersgenossen; so etwa die Bleistiftkinder: Juden, welche vor 1945 als Säuglinge in christlichen Kinderheimen abgegeben worden waren, weil deren Mütter sich für sie dort besseren Schutz versprachen und welche dort in die Verzeichnisse nur mit Bleistift eingetragen wurden.
Neue Wege
Geschildert werden zudem die tägliche familiäre Selbstorganisation und öffentliche Organisation in Breslau. Die Mutter „beteiligte sich am Aufbau der neuen Ordnung, die vom Großteil der aus allen Ecken des früheren Polens zusammenströmenden Bevölkerung nicht allzu enthusiastisch aufgenommen wurde.“ (S. 37). Die Mutter orientierte sich dabei am „Glauben an die Humanität. Ihre Idee war die Klassenlosigkeit.“ (S. 51) hergestellt durch den Staatssozialismus.
Die Autorin Mieczyslawa Wazacz schreibt über ihre Erinnerungen in Breslau.© Agnieszka Bormann/Schlesisches Museum
Die Familie hält an dem neuen Leben in Breslau nicht fest und auch viele Personen des familiären Umfelds werden noch einmal weiterwandern. Für die Autorin beginnt dieser eigene Weg bei einem zufälligen Treffen ihrer Mutter auf der Straße. Die mütterliche Begrüßung war „Wie siehst du denn aus?“ (S. 89). Die Mutter wirkte hierbei „nur zornig und kalt“ (S. 90). Damit beginnt das Loslösen der Autorin von ihrer Mutter: „Ich führte einen inneren Monolog und schwieg.“ (S. 90). Der Weg der Mutter ist: „Sie ging aus dem Holocaust mit einem gestärkten Glauben an die Klassenlosigkeit hervor und natürlich mit dem Glauben an unsere, ihrer Kinder, leuchtende Zukunft.“ (S. 56). Doch dem wird von der Autorin nicht mehr entsprochen „Die leuchtende Zukunft war eine Art Wegweiser, Warnung und Drohung zugleich.“ (S. 56). So folgte eine Fortsetzung der Wanderschaften. Die Mutter wandert 1968 nach Israel aus und ist „nun bereit, neue Städte in die Wüste zu bauen, Arad zum Beispiel.“ (S. 105). Die Autorin wird kurze Zeit später nach London umziehen, wo sie bis heute wohnt.
Treffende Illustrationen
Eine besondere Erwähnung verdienen die Illustrationen. Sie sind von Piotr Dumala. Es sind schwarz-weiß gehaltene Zeichnungen, welche erkennbaren Bezug auf die jeweiligen Stellen des Buchs haben. Das gilt etwa für die Grafik des Buchcovers, die sich auch auf S. 98 findet. Sie zeigt eine Frau und ein Kind, wohl die Autorin des Buchs mit ihrer Mutter, welche aufrecht, aber mit gesenktem Kopf nach rechts aus dem Bild gehen. Links oberhalb ihrer Köpfe findet sich eine Hand, welche mit ausgestrecktem Zeigefinger den Weg nach rechts weist. Bei genauerem Hinsehen kann die Hand auch als Wolfskopf erkannt werden.
Drei Interessen bedient dieses Buch:
Man kann dem Buch entnehmen, wie säkulares Judentum trotz sehr engem Eingebundensein seiner Protagonisten in nichtjüdische Lebenszusammenhänge sich seinen Weg bahnt. Wie eigentlich ging es 1945 seit dem Verschwinden der Deutschen aus dem Niederschlesien jenseits der Neiße mit dem Leben der Menschen in der niederschlesischen Hauptstadt Breslau weiter? Schließlich zeigt das Buch genau das, was der Titel andeutet: Gerettete Menschen - Holocaust und erzwungene Wanderschaft aus Ostpolen waren vorbei - konstruieren miteinander ein Sozialleben in einer für alle bis dahin unbekannten Stadt.
Mieczysława Wazacz: Breslau. Die Stadt der Geretteten
Görlitz: Schlesisches Museum zu Görlitz April 2023.
ISBN: 978-3-9823231-3-8
140 Seiten, € 8,00
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