Eine schicksalhafte Begegnung in letzter Not: „G‘‘tt bestellte einen hohen Beamten, der mich freiließ.“
Dayan Mordechai Jaakow Bereisch (vorne) wird vor dem Duisburger Stadttheater von SS-Männern misshandelt.© Copyright: Dr. L. J. Heid
Im März 1933 wird der im Zarenreich geborene und in Deutschland wirkende Thoragelehrte und Rabbiner Mordechai J. Bereisch in Duisburg bei dem sogenannten „Judenumzug“ von Schergen der SS öffentlich misshandelt und beinahe gelyncht. In letzter Minute griff ein couragierter deutscher Polizist ein, nahm den Rabbi in Schutzhaft und rettete ihm damit das Leben. Rabbiner Bereisch kann im Nachgang aus dem Deutschen Reich in die Schweiz fliehen, wo seine Gemeinde in Zürich unter seinem Rabbinat prosperierte und „zu einem der größten ostjüdischen Zentren Europas“ gewachsen ist. Seine talmudischen Werke gehören zu den unverzichtbaren Klassikern der rabbinischen Welt. (JR)
Der 23. März 1933 war ein Donnerstag, ein Tag, der sich in das Gedächtnis der Duisburger Juden eingebrannt hat. Auch in das Gedächtnis der übrigen Stadtbevölkerung.
Die Macht des nationalsozialistischen Terrors in Deutschland begann allerspätestens mit der Inmachtsetzung Hitlers am 30. Januar 1933: Man darf nicht annehmen, dass die offen ausgeübte Gewalt allein ein Terror der Straße, des Pöbels war. Sie hatte längst alle möglichen Gesellschaftsbereiche erfasst. Und wo sie am wenigsten vermutet wurde und sich im eigentlichen Sinne ad absurdum führte, das war der Bereich der Justiz, die verfassungsmäßig verbriefte dritte Gewalt im Staat – im staatsphilosophischen Denken unantastbar und unabhängig, losgelöst von den beiden anderen Gewalten Legislative und Exekutive. Aber die Judikative hatte in der heraufziehenden Diktatur längst ihre Unschuld verloren.
Bereits vor dem groß angelegten „Tag des Judenboykotts“ vom 1. April 1933 sah sich die Justiz in Duisburg mit antisemitischen Angriffen auf jüdische Richter und Rechtsanwälte konfrontiert. Die antijüdische Stimmung wurde besonders durch die Duisburger „National-Zeitung“ manipuliert und aufgeheizt, die in ihrer Ausgabe vom 22. Februar 1933 die Juden als „plattfüßige Jordanplanscher“ und „krummnasige, asiatische Gewächse“ verunglimpfte.
Der 23. März 1933 ist ein Tag, an dem sich antisemitische Gewalt an verschiedenen Stellen der Stadt Duisburg entlädt: SA-Trupps stürmen vormittags das Duisburger Landgericht am König-Heinrich-Platz, jagen die jüdischen Juristen aus ihren Amtsräumen. Eine symbolische Handlung sei es gewesen, schreibt die „National-Zeitung“ tags darauf, und dass die nationalsozialistischen Juristen nunmehr gewillt seien, die „Säuberungsaktion mit aller Schärfe“ durchzuführen. „In Zukunft dürfte über einen deutschen Mann niemals wieder ein rassefremder Richter zu Gericht sitzen.“
Die SA zieht an diesem 23. März 1933 in einer Art Prozession durch eine immer dichter werdende Menschenmenge Richtung Dellplatz, wo die „Symbole der Schmach und Schande deutscher Geschichte“, womit vor allem die deutschen Reichsfahnen gemeint waren, so tönt die „National-Zeitung“, für die gesamte Öffentlichkeit weit sichtbar, verbrannt wurden. Das ist eine Art vorweggenommene reichsweite „Bücherverbrennung“, die bereits vor dem 10. Mai 1933 in Duisburg beginnt.
Demütigung und Gewalt
Am Vormittag des gleichen Tages um 11.30 Uhr werden mehrere Ostjuden gewaltsam aus ihren Wohnungen in der Duisburger Altstadt gezerrt. Die verängstigten Juden müssen erste körperliche Attacken über sich ergehen lassen. Einer dieser Opfer ist der „Prediger“ der ostjüdischen Gemeinde, Jaakow Mordechai Bereisch, seit 1929 Dayan des chassidischen Vereins Machsika Hadas („Erhalter des Glaubens“). Zusammen mit zwei weiteren Juden wird er durch die Duisburger Straßen bis zum König-Heinrich-Platz geführt. Der „Judenzug“ bewegt sich in „aufgelöster Ordnung“, dem 30 SS-Männer folgen.
Der Düsseldorfer Oberstaatsanwalt hat die Ermittlungen in diesem Fall von Misshandlung eines Juden aus Duisburg aufgenommen, dem man den Bart abgeschnitten und durch die Straßen gejagt hat. Bei diesem, euphemistisch „Judenumzug“ genannten Gewaltmarsch durch die Straßen Duisburgs, werden den Juden die verhasste demokratische schwarz-rot-goldene Fahne um den Hals gehängt, die dann von einem nachfolgenden Juden schleppenartig dem Vordermann nachgetragen wird. Man zwingt sie, Heil-Rufe auf Hitler zu deklamieren. Bei dieser Gelegenheit, so will der Polizeibericht glauben machen, wird Bereisch der Bart abgeschnitten.
Der polnische Konsul richtet eine Beschwerde an den Regierungspräsidenten zu diesem Vorfall. Aus diesem Schreiben werden weitere Einzelheiten von den Misshandlungen, in die auch die Familie des Bereisch einbezogen ist, bekannt: Nachdem Bereisch vor dem Stadttheater „freigelassen“ worden sei, schreibt der Konsul, sei er in Richtung jüdisches Gemeindehaus geflüchtet. Die Volksmenge sei hinter ihm hergehetzt. Als er die Tür des Gemeindehauses erreicht habe, habe ein SA-Mann versucht, ihn zurückzuziehen, was jedoch noch rechtzeitig durch das Eingreifen einer dritten Person, die wir nicht kennen, verhindert worden sei. Die daraufhin alarmierte Polizei hätte Bereisch zum Polizei-Kommissariat ins Rathaus gebracht, wo er in Schutzhaft genommen worden sei. In einem Antwortschreiben des Duisburger Polizeipräsidenten auf das Protestschreiben des polnischen Konsuls heißt es, dass die drei Betroffenen bereits vor dem Theater in Schutzhaft genommen und bis zu ihrer Ausreise „wirksam polizeilich geschützt“ worden seien.
Die internationale Presse ist sogar aufmerksam geworden. Gegen einen der beteiligten SS-Männer kommt es – zumindest formell – zu einem strafrechtlichen Verfahren. Der Polizeipräsident wälzt in seinem Bericht vom 3. April 1933 an den Düsseldorfer Regierungspräsidenten die Verantwortung für die Einzelaktionen auf die Bürgerschaft ab, die, seit langem gegen die Ostjuden und deren Geschäftsgebaren aufgebracht, ihrem Hass in den revolutionären Verhältnissen Luft mache. Es seien vor allem Zivilpersonen, die „unverantwortliche SA- oder SS-Männer“ zu Einzelaktionen treiben würden. Hier gegen gehe er mit aller Schärfe vor und hoffe, dass es keine weiteren Klagen geben werde. Soweit die administrative Stellungnahme über die Geschehnisse am 23. März 1933.
Mordechai Bereisch schildert die Misshandlungen
Aus der subjektiven Sicht Bereischs erhalten wir einen anderen Blick auf die Ereignisse, die sich an jenem 23. März 1933 vor dem Duisburger Stadttheater und während des weiteren Verlaufs abspielten. In einem seiner Bücher (Responsen) mit dem Titel „Chelkath Yaakow“ („Jakobs Besitzteil“) gibt Mordechai Jaakow Bereisch in seiner Vorrede einen Eigenbericht von den Misshandlungen, die er 1933 von SS-Leuten in Gegenwart einer riesigen Volksmenge erleiden musste. Nachdem er auf Ereignisse zu sprechen kommt, die sich bereits am 18. März 1933 ereignet haben, kommt er auf den „Judenumzug“ fünf Tage später zu sprechen. Er schreibt: „Ich danke G‘‘tt von ganzem Herzen für die große Gnade, die er mir erwiesen hat, daß er mich im Jahr 5693 [= 1933], als ich noch Rabbi in Duisburg am Rhein war, vor den Deutschen (der Name der Frevler möge verwesen!) gerettet hat, als das Reich des Frevels (sein Name möge ausgelöscht sein!) anbrach und das Land sich in ein Land des Blutvergießens verwandelte.
Am 25. des Monats Adar [= 23. März 1933] um 10 Uhr morgens kamen wieder Kriegsleute der SS, ein noch größerer Haufen, holten mich heraus und schleppten mich, unter Begleitung der verruchten Frevler, durch alle Straßen hindurch, Menschen zu Hunderten und Tausenden liefen hinter ihnen her, und es war keiner unter ihnen, der protestiert hätte, als sie die Demütigungen, Beleidigungen und auch Schläge sahen, die sie mir auf dem ganzen Weg antaten. Als eine Stunde vergangen war, als ich zu dem weiträumigsten Platz in dieser Stadt, am Theater, ankam und Tausende von Menschen mich umringten, rissen sie mir Haare vom Kopf und vom Bart aus und warfen sie mit Flüchen und Verwünschungen unter die Volksmassen. Es gab allerlei Schläge, und dann war da neben mir eine große Feuerflamme, und es sah so aus, als ob sie mich vor der ganzen Volksmasse auf den Scheiterhaufen werfen würden, und hätte sich G‘‘tt nicht meiner erbarmt, so hätten sie mich gewiß später in das verruchte Todeslager von Dachau abgeführt“.
Unerwartete Rettung
Dann kam es unerwartet zu seiner Rettung, die Bereisch so beschreibt: „G‘‘tt ließ Seine Gnade nicht ausbleiben. Er bestellte unter die Volksmasse einen hohen Beamten, der die verruchten Frevler anflehte, mich freizulassen. Es war ein reines Wunder, daß ich den Zähnen der Bestien in Menschengestalt entging und den Kiefern der Raubtiere. Ich verließ sofort das bluttriefende Land Deutschland [...]“.
Es gab unter den Zuschauern, die sich sensationslüstern vor dem Duisburger Stadttheater versammelt hatten, einen Gerechten. Seinen Namen kennen wir nicht. Dieser Mann hat sich der losgelösten Gewalt entgegengestellt, ein Polizist, der ganz offensichtlich nicht vor der SS kuschte. Ein Mann, der vor der zutage getretenen rohen Gewalt noch nicht so eingeschüchtert war, dass er sich traute, ihr couragiert entgegenzutreten, und die Ordnung wiederherstellte.
Bereisch spricht von einem Polizeibeamten, der die „Frevler“ angefleht habe, von ihm und den beiden Mitopfern abzulassen. Dieser „hohe Beamte“ ist ein Ordnungspolizist, der über hinreichende Autorität verfügt, die SS, die eine „wilde“ Aktion durchführte, einzuschüchtern und die Juden - diesmal im Wortsinn - in Schutzhaft zu nehmen. Oder, wie es in einem Nachruf auf Mordechai Jaakow Bereisch heißt, sei es diesem „im letzten Augenblick“ gelungen, den „bereits nach ihm ausgestreckten Nazipranken“ zu entkommen.
Mordechai Jaakow Bereisch (links mit Zigarette) im Gespräch mit Raw Moshe Solowiejczyk. © Copyright: Dr. L. J. Heid
G‘‘tt schickte einen hohen Beamten - Kurt Nabakowski
Es gibt den Bericht eines Polizeihauptmanns über die Ereignisse am 23. März 1933, hinter dem sich möglicherweise der Judenretter verbirgt als derjenige, der die drei gepeinigten Juden in Schutzhaft nimmt und anordnet, dass die Fahnen, die die drei Opfer gezwungen sind mitführen, durch Parteimitglieder zur Kreisleitung der NSDAP gebracht werden. Auf seine Frage an die SS-Leute, wer die Aktion leite, erhält er keine Antwort. Seinen Mut lässt er auch erkennen, als er in seinem schriftlichen Bericht die Bestrafung der durch keinen NS-Erlass „legitimierten“ Gewalttäter fordert.
In seinem Bericht fordert der Polizist, den Vorfall untersuchen zu lassen und schreibt: „Ich bitte, die [namentlich] aufgeführten SS-Leute zur Verantwortung zu ziehen, da dieselben sich m.E. nicht entspr. des Aufrufs der Reichsregierung verhalten haben“. Tatsächlich: Drei beteiligte SS-Männer werden disziplinarisch zur Rechenschaft gezogen. Ob diese Bestrafungen tatsächlich erfolgen, bleibt zweifelhaft.
Dieser Polizeihauptmann, den auch Bereisch in seinem Erinnerungsbericht erwähnt, ist derjenige, der die SS-Männer zur Räson bringt und ihnen die Opfer entwindet, ist - es kann nicht anders sein - auch derjenige, der die drei Ostjuden in Schutzhaft nimmt, wobei sich das Wort diesmal wirklich auf „Schutz“ bezieht, und der schließlich einen Polizeibericht verfasst, in dem er die Bestrafung der Täter fordert. Mehr noch: Schoul Breisch, der Sohn des misshandelten Rabbiners, berichtet, dass der Polizeioffizier auf der Wache den Rabbiner zur Seite nahm und ihm dringend riet, das Land so schnell wie möglich zu verlassen. Bereisch und seine beiden Leidensgenossen erhalten noch am gleichen Tage auf eigenen Wunsch ein Visum für Belgien.
Bei dem Polizisten handelt es sich den Polizeihauptmann Kurt Nabakowski.
Nabakowski ist am 31. Oktober 1895 im schlesischen Marienwerder geboren, evangelisch und verheiratet. Im Bundesarchiv (Militärarchiv) Freiburg befindet sich seine Personalakte.
31 Jahre lang, mindestens, trägt Nabakowski als Soldat und Polizist Uniform.
Als Major und Batteriechef nimmt Nabkowski zunächst am „Polenfeldzug“, dann am „Feldzug im Westen“ teil. Er beendet seine militärische Laufbahn mit dem Dienstgrad Oberst. Während seines Kriegseinsatzes wird er einige Male beurteilt, Urteile, die eine eher negative Tendenz aufzeigen. Einen Superlativ lassen alle Beurteilungen vermissen. Will man seine Benotung in einem Wort zusammenfassen, wäre „Durchschnitt“ die passende Bezeichnung. Die Spannbreite der Beurteilungen changiert zwischen „Umsicht“, „Sachkenntnis“, „Entschlossenheit“ bis „persönlichen Mut“, wofür er mit dem Eisernen Kreuz und weiteren Orden ausgezeichnet wird.
In sämtlichen Beurteilungen ist das Urteil im ideologischen Sinne für das Regime stets günstig, wenn es z. B. heißt, dieser trete jederzeit für den NS-Staat ein, sei vom Nationalsozialismus „durchdrungen“ und zur Vermittlung des weltanschaulichen Unterrichts und nationalsozialistischen Gedankengutes „vollbefähigt. Von einer Mitgliedschaft in der NSDAP ist in der Personalakte nirgendwo die Rede.
Nabakowsi zieht bei Kriegsende seinen Uniformrock aus und tritt nach 31 Jahren Militär- und Polizeidienst in ein bürgerliches Leben ein, in ein ziviles Leben, das er zuvor nicht gekannt hatte. Aus dem gewesenen Oberst und Regimentskommandeur ist mit einem Mal ein „Industrievertreter“ in Bremen-Lesum geworden, der ab 1951 seinen Lebensabend im baden-württembergischen Bühl verbringt.
Auch wenn Nabakowski eine dem Nationalsozialismus zugeneigte Gesinnung gehabt haben mag, scheint er sich doch ein gewisses Maß an humanistischem Anstand und Mitmenschlichkeit bewahrt zu haben, die er bei seiner Rettungstat am 23. März 1933 für Rabbiner Bereisch an den Tag gelegt hat.
Auswanderung und Rabbinat
Jaakow Bereisch kann nach den spektakulären Misshandlungen und öffentlichen Demütigungen, die ihm im März 1933 vor aller Öffentlichkeit zugefügt worden sind, aus Deutschland fliehen. Auf der Einwohnermeldekarte findet sich der unmissverständliche schönfärberische und zugleich verschleiernde Vermerk: „7.7.1933, Register bereinigt“. Er erhält – nicht zuletzt aufgrund einer Referenz des Duisburger Gemeinderabbiners Manass Neumark - im Mai 1935 bei der Jüdischen Gemeinde Agudas Achim („Vereinigung der Brüder“) in Zürich die Stellung als Gemeinderabbiner. Wie Bereischs 1933 in Duisburg geborener Sohn Schoul Breisch, selbst später Rabbiner in Zürich, schreibt, war sein Vater über vierzig Jahre „mit außerordentlichem Erfolg“ in Zürich tätig gewesen.
Unter seinem Rabbinat sei die Gemeinde „zu einem der größten ostjüdischen Zentren Europas“ gewachsen. Über die väterliche Gelehrsamkeit als religiöser Schriftgelehrter äußert sich Schoul Breisch folgendermaßen: „Seine talmudischen Werke [...] gehören zu den Klassikern der rabbinischen Welt“.
Am 28. März 1969, knapp neun Jahre nach dem ersten, erging in der Entschädigungssache „Markus Jakob Bereisch“ ein zweiter und zugleich letzter Bescheid. Und der fiel niederschmetternd aus. Der Bescheid gliederte sich in drei Punkte: 1. Der Antrag auf Gewährung einer Kapitalentschädigung wegen Schadens an Eigentum wurde als unzulässig zurückgewiesen. Der Antragsteller hatte zweitens keinen Anspruch auf Gewährung einer Kapitalentschädigung wegen Schadens an Vermögen durch Auswanderungskosten und drittens erging die Entscheidung auslagen- und gebührenfrei.
Zu den Ablehnungsgründen hinsichtlich des Eigentumsschadens verwies die Behörde darauf, dass ein Fristversäumnis vorliege. Bereisch hatte seinen Antrag dreieinhalb Monate zu spät eingereicht. Bezüglich der Bahn- und Transportkosten in die Schweiz hatte er die Bagatellgrenze von 500 RM nicht erreicht und damit einen Anspruch auf Gewährung einer Kapitalentschädigung wegen Schadens an Vermögen durch Auswanderungskosten verwirkt. Und mit diesem Bescheid, gegen den innerhalb von drei Monaten kein Widerspruch eingelegt wurde, war sein Wiedergutmachungsverfahren auf beschämende Weise beendet worden. Bereisch hat es ganz offensichtlich vorgezogen, sich nicht länger in einen weiteren Rechtsstreit mit deutschen Behörden einzulassen. Seine Erfahrungen waren ganz anderer Art.
Erinnerungsbericht des Sohnes
Der jüngste Sohn Rabbi Bereischs, Schoul Breisch (1933-2019) – Nachfolger seines Vaters in der Gemeinde Agudas Achim, Av Bet Din von Zürich und einer der führenden Poskim in Europa und der Schweiz - der zum Zeitpunkt der Misshandlungen seines Vaters noch gar nicht auf der Welt war - hat im Februar 2009 in einem Brief auf sehr persönliche Weise an seinen Vater erinnert. Über seinen Vater schreibt er: „Die Fakten sind bekannt, die Misshandlungen erschütternd, und die danach unerwartete plötzliche Rettung, ein G’liches [göttliches] Wunder. Nur durch ein Wunder gelang es wenigen, sich vor dem eisernen Ring und breit ausgedehnten Netz der Nazis zu retten. Wer dies in aller Tiefe erkannt hat, gelangt zur Einsicht, dass sein Überleben nur durch die himmlische Gnade möglich war. Er sollte die Gnade des Allmächtigen hervorheben, die verschiedenen teilweise auch kleinen Geschehnisse ineinanderfügen und für das Überleben dem Allmächtigen danken und Ihn in Ehrfurcht gleichzeitig anflehen, uns keinen Moment zu verlassen, sondern seine schützende Hand immer über uns walten zu lassen. Was mich und meine Familie anbetrifft, sehen wir mit aller Deutlichkeit eine Offenbarung vom Himmel, hat man doch uns, die Eltern und Kinder, bei den Händen gefasst und von einem Ort zum andern geführt und getrieben. Es war eine schwere Zeit, ja, eine sehr schwere, doch führten diese Leiden zu unserer Rettung. Dieses Bewusstsein der erlebten Wunder verpflichtete uns, für das Wohl anderer besorgt zu sein und sich dafür voll einzusetzen.“
Er schloss seinen Erinnerungsbericht mit den Worten: „Mein Vater sah es als seine Pflicht und Aufgabe, diese Verherrlichung des weltlichen Studiums in seinem Kreise, den Kampf anzusagen. Er war begnadet mit einer scharfen Intelligenz und Klugheit, mit der er Andersdenkende überzeugen konnte. Er begnügte sich aber nicht mit der Kampfansage, sondern arbeitete mit Kräften daran, der Jugend das Toralernen interessant und angenehm zu gestalten, und das Interesse und die Liebe zum Toralernen zu fördern. In dieser kurzen Zeitspanne gelang es ihm, eine ganze Gruppe Schüler zur völligen Hingabe zum Talmud-Lernen zu erziehen. Diese Schüler entwickelten sich zu Talmudgelehrten und Persönlichkeiten. Wer die Verhältnisse in Deutschland von damals kannte, die unangefochtene Macht der deutschen Kultur, wird diesen bahnbrechenden Erfolg richtig einstufen und daraus eine Lehre ziehen.“
Rabbi Bereisch und der Polizeihauptmann Nabakowski, zwei Männer, die das Schicksal auf zufällige Weise zusammengeführt hat. Bereisch wurde am 6. Mai 1895 in Sokol/Galizien geboren, Nabakowski im gleichen Jahr am 31. Oktober 1895 in Marienwerder, heute Kwidzyn, eine Stadt in der polnischen Woiwodschaft Pommern. Sie sind sich nur einmal im Leben begegnet, am Donnerstag, 23. März 1933, vor dem Duisburger Stadttheater. Kurt Nabakowski starb am 16. Mai 1974 im badischen Bühl; Mordechai Jaakow Bereisch starb am 6. Dezember 1976 oder, nach seiner jüdisch-kalendarischen Rechnung, am 14. Kislew 5737 in Zürich – er wurde in eine bessere Welt abberufen.
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