Zum Gedenktag Yom Hashoah: Yad Vashem stellt Buch mit den Namen von 4,8 Millionen Opfern der Shoah vor

Staatspräsident Isaac Herzog hat das „Buch der Namen“ in Yad Vashem seiner Bestimmung übergeben. 
© Yad Vashem

Yom Hashoah ist der Tag des Erinnerns an die sechs Millionen jüdische Frauen, Männer und Kinder, die von den Nationalsozialisten ermordet worden sind. Am 18. April, Punkt 10 Uhr, heulen im ganzen Land die Sirenen, das Leben in Israel bleibt für zwei Minuten stehen. In Yad Vashem wurde nun symbolisch ein kollektiver Grabstein in Form eines Buches enthüllt, das die Namen von 4,8 Millionen Opfern der Shoa auflistet. Das „Buch der Namen“ soll die Identität der ermordeten Juden in Schriftform wiederherstellen und der ganzen Menschheit zeigen, dass jedes jüdische Opfer ein Mensch war und einen Namen hatte. (JR)

Von Jürgen Th. Müller

Yom Hashoah ist der Tag der Sirenen. Punkt 10 Uhr heulen sie im ganzen Land. Die Menschen bleiben stehen, Busse, Autos und Straßenbahnen halten an, das Leben in Israel steht für zwei Minuten still. Das Land gedenkt der jüdischen Menschen, die während der Shoah umgebracht wurden. Sämtliche Flaggen wehen landesweit auf Halbmast, viele öffentliche Einrichtungen bleiben geschlossen. Die Radiostationen senden Trauermusik.

Die Feierlichkeiten beginnen bereits mit Sonnenuntergang am 27. Nisan des jüdischen Kalenders und enden am darauffolgenden Abend. Nach gregorianischem Kalender ist das in diesem Jahr der 18. April. Der Tag erinnert auch an den Widerstand gegen die Judenverfolgung durch Hitlerdeutschland und das Heldentum der jüdischen Untergrundkämpfer.

Eine zentrale Rolle kommt der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem zu. Zum Auftakt des Gedenkens werden sechs Fackeln entzündet, die symbolisch für die sechs Millionen jüdischen Opfer des Holocaust stehen.

 

Opfer bleiben nicht namenlos

In diesem Jahr gibt es in Yad Vashem eine Besonderheit: Rechtzeitig vor dem Gedenktag hat Staatspräsident Isaac Herzog ein riesiges Buch seiner Bestimmung übergeben, das die Namen von 4,8 Millionen Opfern der Shoa auflistet.

„Mein Vater war ein Mensch, er war nicht nur Luft“, unterstreicht die Holocaust-Überlebende Giselle (Gita) Cycowicz. Der Name von Giselles Vater, Willhelm Friedman, ist dank einer von Giselle zu seinem Gedenken ausgefüllten Seite in das Buch der Namen eingetragen.

Die Namen, die in Yad Vashems zentraler Datenbank enthalten sind und die bisher nur auf der Website von Yad Vashem zugänglich waren, werden nun auf dem „Berg der Erinnerung“ in greifbarer Form ausgestellt. Besucher können die Namen anfassen und so das Ausmaß des persönlichen und kollektiven Verlusts des jüdischen Volkes und der gesamten Menschheit besser begreifen. Die Namen selbst wurden in den vergangenen sieben Jahrzehnten akribisch zusammengetragen und von Experten von Yad Vashem sorgfältig überprüft. Im vergangenen Jahr gelang es Yad Vashem, etwa 40 000 neue Namen ausfindig zu machen.

Nach Schätzungen der Gedenkstätte werden in den kommenden Jahren etwa 200.000 bis 300.000 weitere Namen in die zentrale Datenbank aufgenommen werden, so dass insgesamt mehr als fünf Millionen Identitäten der schätzungsweise sechs Millionen Opfer des Holocausts erfasst werden.

 

Herzog: Nazis wollten Identität auslöschen

„Der Nazi-Satan hat versucht, das Bild Gottes im Menschen auszulöschen“, machte Staatspräsident Isaac Herzog deutlich. „Indem man seine Identität auslöscht, indem man seinen Namen mit Füßen tritt - indem man ihn in eine Nummer verwandelt - ist der Mensch wie ein Tier. Der Kern dieses heiligen Berges des Gedenkens, auf dem wir mit Mut und Zittern stehen, ist der Aufruf: ‚Und ihnen will ich in meinem Haus und in meinen Mauern ein Denkmal und einen Namen geben (ein Yad Vashem)... der nicht ausgerottet werden soll.' Wir erinnern uns nicht an Zahlen. Wir erinnern uns nicht an namenlose Gefangene, sondern an Leben, an menschliche Wesen: Mütter und Schwestern, Väter und Söhne.... Wir erinnern uns an das Leben - und das ist unser großer Sieg. Denn jeder jüdische Name, der in Flammen aufging und achtzig Jahre später in Jerusalem, im demokratischen Nationalstaat des jüdischen Volkes, laut verlesen wird, ist der größte Sieg der Welt... Gerade in diesen Tagen, in denen die Erde bebt, muss uns das Buch der Namen daran erinnern, woher wir kommen, und - was noch wichtiger ist - uns zum Nachdenken bringen, wohin wir gehen.“

„Jeder Jude, der während des Holocausts ermordet wurde, hatte einen Namen, ein Gesicht und eine einzigartige Lebensgeschichte“, erklärte Dani Dayan, Vorsitzender von Yad Vashem. „Sie waren keine anonymen Opfer, wie die Nazideutschen sie uns vorgaukeln wollten. Siebzig Jahre später bleibt es unsere Pflicht, weiterhin jedes Archiv zu durchsuchen, jede Dokumentationsquelle zu durchforsten und jeden Stein umzudrehen, um jeden Namen zu finden, der dem Vergessen entrissen werden kann. Das ‚Buch der Namen‘ soll die Identität der ermordeten Juden schwarz auf weiß wiederherstellen und der ganzen Menschheit zeigen, dass sie nicht nur Opfer waren, sondern auch Menschen wie du und ich.“

 

Forschung wird immer schwieriger

„Je weiter wir uns von den Ereignissen des Holocaust entfernen, desto schwieriger wird unsere Aufgabe des Erinnerns und Gedenkens“, erläuterte der Direktor der ‚Halle der Namen‘ von Yad Vashem und Leiter des Projekts, Dr. Alexander Avram: „Es ist zwar immer noch möglich, neue Namen zu sammeln, aber die Geschwindigkeit, mit der wir dazu in der Lage sind, wird in den kommenden Jahren drastisch abnehmen. Es liegt auf der Hand, dass die Zahl der Überlebenden des Holocaust und ihrer Zeitgenossen abnimmt, und diejenigen, die es nie geschafft haben, Zeugnis abzulegen oder Namen zu nennen, werden dazu nicht mehr in der Lage sein. Die Dokumentation der Namen aus der Zeit des Holocausts ist in Osteuropa am unvollständigsten: Wir stehen in Kontakt mit vielen Archiven und Einrichtungen, die sich weltweit mit dem Erinnern und Gedenken befassen, aber wir sind nahe daran, dass all diese Möglichkeiten ausgeschöpft wurden.“

 

Kindernamen eine Herausforderung

Avram wies auch auf objektive Schwierigkeiten bei der Suche nach den Namen hin. „Von Anfang an war uns klar, dass die Suche nach den Namen von Kindern eine besondere Herausforderung darstellen würde, da sie in vielen Fällen nicht erfasst wurden, als sie mit ihren Familien ermordet wurden. Wir werden nie alle Namen vollständig erfassen können, denn die Nazis waren bewusst nicht daran interessiert, ihre Verbrechen zu dokumentieren und versuchten sogar, sie zu vertuschen. Deshalb ist jeder neue Name, den wir entdecken und verewigen können, ein weiterer kleiner Sieg über die Nazis und ihre Komplizen und ihren Versuch, die Juden und die jüdische Religion vom Angesicht der Erde zu tilgen.“

Soweit bekannt, enthält das Buch auch die Geburtsorte, Geburtsdaten und Orte der Ermordung.

Die Namen der Opfer sind auf Seiten gedruckt, die einen Meter breit und anderthalb Meter hoch sind. Die Gesamtlänge des Buches beträgt etwa acht Meter. Seine gewaltigen Ausmaße verweisen auf den kollektiven, unvorstellbaren und enormen Verlust. Die letzten Seiten des Buches sind leer. Sie stehen für die Namen derer, die noch nicht ausfindig gemacht, dokumentiert und verewigt wurden und vielleicht nie ausfindig gemacht werden können. Das Buch ist eine Antwort auf das emotionale Bedürfnis der Angehörigen nach einem physischen Ort, an dem die Namen gesehen und berührt werden können: ein symbolischer kollektiver Grabstein.

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