Oberammergau: Die Passionsspiele waren und bleiben antisemitisch

Oberammergauer Passionsspiel, Kreuzigung, 1871.

Die Jahrhunderte alten Passionsspiele trugen wesentlich zur Entwicklung des Judenhasses im christlichen Europa bei und waren stets ein wirksames Werkzeug zur antisemitischen Indoktrination. Die Juden waren hier immer die Schurken, die Aufführungen brachial und antisemitisch. Im Anschluss kam es häufig zu aufgeheizten Stimmungen und zu Pogromen, bei denen nicht selten die ortsansässigen Juden wahllos getötet wurden. Zwar wurden die Passionsspiele in Oberammergau „überarbeitet“, die antisemitischen Botschaften sind aber offensichtlich untilgbar in der DNA des Stückes verwurzelt. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Evangelien und der Rolle der katholischen Kirche bei der Shoa, bei der auch die Passionsspiele als solche hinterfragt werden, sind daher mehr als überfällig. (JR)

Von Dr. Peter Gorenflos

Am Montag, den 13. August 1934, besuchte Adolf Hitler die Jubiläums-Passionsspiele in Oberammergau. Durch den gesamten gleichgeschalteten Blätterwald des Dritten Reiches schallte es, wie ergriffen der Führer gewesen sei und Einwohner und Besucher jubelten ihrem modernen Erlöser zu. Knapp zwei Wochen zuvor war Reichspräsident Hindenburg verstorben und sechs Tage später wurde die Volksabstimmung über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches durchgeführt, für die eine einfache Mehrheit erforderlich war. Mit diesem neuen Gesetz, das mit einer fast 90%-Mehrheit der Wähler bestätigt wurde, wurde das Amt des Reichspräsidenten mit dem Amt des Reichskanzlers zusammengelegt. Hitler nannte sich fortan offiziell Führer und Reichskanzler und saß nun endgültig fest im Sattel. Sechs Wochen zuvor hatte er seinen innerparteilichen Konkurrenten und ehemaligen Duzfreund Ernst Röhm im Rahmen des „Röhm-Putsches“ ausgeschaltet und die SA unter seine Führung gebracht. Der Reichspräsident, sei es Hindenburg oder ein Hohenzollernprinz als Nachfolger, hätte für Hitler durchaus gefährlich werden können, denn mit der Reichswehr im Rücken hätte man dem Emporkömmling ein schnelles Ende bereiten können.

Natürlich hätte er die Volksabstimmung auch ohne seinen Besuch in Oberammergau gewonnen, aber dieser hatte zumindest Symbolcharakter zu einem neuralgischen Zeitpunkt. Hatte Hitler die Passionsspiele für sich „instrumentalisiert“? Genauso gut könnte man behaupten, dass die Catholica den Nationalsozialismus für sich instrumentalisiert hätte. In der Weimarer Republik führte die Kurie durch Pacelli, dem päpstlichen Nuntius in Berlin und einem engen Freund des Partei-Vorsitzenden Ludwig Kaas, das Zentrum nach rechts und letztlich - gegen erhebliche Bedenken zahlreicher Mitglieder - zur Unterstützung Hitlers durch Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz.

 

Die Geschichte der Passionsspiele

Die Passionsspiele hatten eine lange Vorgeschichte. Sie begannen im 13. Jahrhundert und fanden im 14. Jahrhundert so viel Zuspruch, dass man sie an Beliebtheit mit den heutigen Fußballspielen vergleichen kann. Sie trugen wesentlich zur Entwicklung des Judenhasses bei und waren ein wirksames Werkzeug zur antisemitischen Indoktrination. Die Juden waren hier immer die Schurken, die Aufführungen brachial, derb und oft obszön, im Anschluss kam es häufig zu Pogromen, bei denen die ortsansässigen Juden wahllos getötet wurden, auch wenn die völlige Katastrophe meistens von der Obrigkeit verhindert wurde. Das Feilschen um das Blutgeld, das befremdliche Aussehen, die grotesken „jüdischen“ Charakteristika der Darsteller hinterließen einen bleibenden Eindruck, vor allem bei Kindern, die Juden sofort mit „Verräter“, „Mörder“ oder „Geizhals“ gleichsetzten.

Die Passionsspiele gründen auf der Passionsgeschichte, der zentralen Erzählung der Evangelien. Die Evangelien wiederum sind eine religiös intendierte Geschichtsfälschung der Extraklasse. Soweit es die historische Quellenlage hergibt, war Jesus ein Tora-treuer Anhänger des Judentums, der zunächst als Prophet und später als Messias-Anwärter auftrat. Seine Mission war die Wiederherstellung der jüdischen Monarchie und die Vertreibung der römischen Besatzer und „Götzendiener“. Er scharte Jünger um sich, die Nazarener, und war Teil der Pharisäer-Bewegung, der geistigen und politischen Vertreter der einfachen Leute. Seine Lehre von der Nächstenliebe, seine Sabbath-Heilungen standen in vollem Einklang mit der pharisäischen Lehrmeinung. Im Gegensatz zu den Zeloten, militante „Republikaner“, hoffte er naiverweise, wie bei Sacharjas prophezeit, auf ein göttliches Wunder, auf einen Sieg gegen die Invasoren auf dem Ölberg, bei dem Schwerter nur eine symbolische Rolle spielten. Seine Hoffnungen zerschlugen sich, er wurde von den Römern gefasst, von dem römischen Prokurator Pontius Pilatus, einer Art Gauleiter, verurteilt und am Kreuz hingerichtet. Dabei spielte auch der sadduzäische Hohepriester Kaiphas eine Rolle, ein Kollaborateur, der als jüdischer Polizeichef der Römer fungierte. Ging es um religiöse Vergehen wie Gotteslästerung oder Götzendienst, wurden die Angeklagten an den von den Pharisäern dominierten Sanhedrin übergeben, das jüdische Gericht, dessen Höchststrafe der Tod durch Steinigung war. Ging es um politische Vergehen, insbesondere die Aufwiegelung gegen Rom, so wurden sie vom Polizeichef an die Römer übergeben, deren sadistische Höchststrafe der Tod am Kreuz war, zu dem zahlreiche Juden vor und nach Jesus verurteilt worden waren.

 

Rom wird entlastet

Was machen die Evangelien daraus? Sie entlasten Rom sorgfältig. Pilatus, historisch ein skrupelloser, korrupter Schlächter, wäscht seine Hände in Unschuld. In der Barabas-Legende fordern „die Juden“ die Freilassung eines Verbrechers und die Kreuzigung Jesu. Pilatus sagt: „Soll ich Euren König kreuzigen?“ Die Hohepriester antworten: „Wir haben keinen König außer dem Kaiser“. Pilatus soll völlig ahnungslos gewesen sein, welche Gefahr für Rom von Jesu Anspruch, König der Juden zu sein, ausging. Ausgerechnet er muss sich von „den Juden“ sagen lassen: „Wenn Du ihn freilässt, bist Du kein Freund des Kaisers, jeder, der sich als König ausgibt, lehnt sich gegen den Kaiser auf“. Die ganze Szene wird nur noch von der Unwahrscheinlichkeit übertroffen, dass Pilatus im Gegensatz zu den groben weltlichen Juden anerkennt, dass Jesu Königtum nicht von dieser Welt sei. Zuvor hatten „die Juden“, abwechselnd mit „den Hohepriestern“, die zu einer Einheit fusionieren, ihren angeblich wahren Grund für die Beseitigung Jesu aufgedeckt: „Wir haben ein Gesetz, und nach diesem Gesetz muss er sterben, weil er sich als Sohn Gottes ausgegeben hat“.

Die Juden wollen Jesus aus religiösen Gründen töten, weil sein Anspruch auf Göttlichkeit „blasphemisch“ sei. Sie erfinden deshalb einen politischen Grund, um ihn bei den Römern zu denunzieren, obwohl sie wissen, dass Jesus keine politischen Ziele hat. Pilatus, der weiß, dass Jesus unpolitisch ist, beugt sich dem falschen jüdischen Vorwurf, Jesus sei eine politische Bedrohung, während er ehrfürchtig davon überzeugt ist, Jesus sei tatsächlich Gottes Sohn. Eine unwahrscheinlichere Verdrehung historischer Fakten ist kaum vorstellbar.

Wie kam es zu dieser grotesken Geschichtsfälschung, die zur fragwürdigen Grundlage einer Weltreligion wurde? Die Initialzündung kam von Paulus, dem Erfinder des Christentums, der den gekreuzigten Jesus zum Mysterien-Gott transformierte. Zum bösen Gegenspieler des geopferten Helden wurden „die Juden“ auserkoren, während die Römer opportunistisch entlastet wurden. Ohne den Sieg Roms über Judäa 70 n.d.Z. hätte dieser Mythos, der später von den Evangelisten nach hellenistischem Muster weiter ausgebaut wurde, keine Chance gehabt.

 

Überarbeitung der Passionsspiele

Zurück zu Oberammergau. Vor allem nach der Shoa wurden die antisemitischen Aspekte der Passionsspiele zunehmend zur Belastung. Es gab zunehmend Kritik und einige der offenkundigsten antisemitischen Aspekte wurden verändert. Nicht nur forderten jüdische Künstler wie Leonard Bernstein, Arthur Miller oder Billy Wilder entsprechende Änderungen, auch der American Jewish Congress, die Anti-Defamation League und das American Jewish Committee machten Druck und 1970 kam es zum ersten Mal zu einem Boykott der Spiele und ganze Sitzreihen im Passionstheater blieben leer. Der ursprüngliche Text von Joseph Daisenberger (1799-1883) musste entsprechend entschärft werden, zahlreiche Passagen wurden entfernt oder modifiziert, wie z.B. der Fluch, den die Juden laut Matthäus auf sich laden: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“. Unter der Leitung von Christian Stückl und Otto Huber wurde diese Entwicklung seit 1990 in Absprache mit Vertretern jüdischer Organisationen weiter vorangetrieben. Mit welchem Ergebnis? Judas mutiert zu einem Verräter aus guter Absicht, er will als Zelot seinen Meister zu größerer politischer Aktivität bewegen, ist entsetzt, als er sieht, was er anrichtet und begeht Selbstmord. Geldgier spielt keine Rolle mehr als Motiv. Historisch gab es aber überhaupt keinen Verräter. Diese Figur wurde erst von den Evangelisten eingeführt, nachdem die paulinische Idee vom göttlichen Sühneopfer Jesu einen mystischen Gegenspieler erforderlich machte. Judas wurde nur wegen seines Namens für diese undankbare Rolle ausgesucht, einem Eponym für das ganze jüdische Volk.

Beim Abendmahl rezitiert Jesus jüdische Segenssprüche am Sedertisch, wie beim Kiddusch. Das Abendmahl, das zentrale Sakrament des Christentums, hat aber mit dem Kiddusch gar nichts zu tun, wurde niemals von Jesus und seinen Jüngern praktiziert. Es ist eine paulinische Erfindung, die direkt auf die Mysterienreligionen zurückgreift. Hostie bedeutet Opfer. Die Vorstellung, dass der Wein Jesu Blut sei, das Brot sein Leib, hätte den Nazarener vermutlich entsetzt. Der Kiddusch ist ein einfaches Dankgebet an Gott für das Mahl, das - paulinische - Abendmahl ein mystisches Opferritual. Aus dem Konflikt zwischen Juden und frühen Christen sollte ein innerjüdischer Konflikt gemacht werden. Aber genau das war er nicht. Es war ein Konflikt zwischen den römischen Besatzern und deren jüdischen Kollaborateuren, zu denen die Sadduzäer mit dem Hohepriester gehörten, auf der einen Seite. Und der jüdischen Bevölkerung, deren politische und geistige Führer die Pharisäer waren, zu denen der Tora-treue Jesus gehörte, auf der anderen Seite. Der Hohepriester Kaiphas ist von den Ideen Jesu fast begeistert und wird von Pilatus gezwungen, ihn den Römern auszuliefern? Nein, Kaiphas war der Polizeichef von Pilatus und hat Jesus genau diesem, seinem Vorgesetzten, ausgeliefert zwecks Hinrichtung am Kreuz, nachdem er ein politisches Verbrechen feststellte: Die Aufwiegelung gegen Rom.

 

Grobe Geschichtsfälschung

Auch im aktuellen Stück schreien „die Juden“ nach Jesu Tod, wenn auch vorsichtig vermischt mit Stimmen, die sich für ihn einsetzen. Aber das Szenario bleibt unverändert und ist eine grobe Geschichtsfälschung, wie die gesamte Barabas-Legende, denn das „Passahprivileg“ ist nachweislich ahistorisch. In Wirklichkeit gab es keinen Stimmungswechsel in der jüdischen Bevölkerung. Sie waren beim Einzug Jesu in Jerusalem, vermutlich zur Zeit des Laubhüttenfestes, begeistert, erhofften sich von Jesus eine Befreiung vom imperialistischen Joch, bei seiner Kreuzigung ein halbes Jahr später, zur Zeit des Passahfestes, waren sie nicht hasserfüllt, sondern niedergeschlagen und enttäuscht und betrachteten ihn, wie so viele seiner Vorgänger, voller Mitleid als Märtyrer. Als gescheiterter Messias-Anwärter wäre er schnell in Vergessenheit geraten, wenn seine unmittelbaren jüdischen Anhänger nicht an eine Wiederauferstehung von den Toten durch ein göttliches Wunder geglaubt hätten. Und auch diese Vorstellung hätte sich nach dem jüdischen Krieg zerschlagen, wenn sich nicht der paulinische Mythos von Jesu Göttlichkeit und seiner Auferstehung im Sinne der Mysterienreligionen durchgesetzt hätte. Erst jetzt begann der Konflikt zwischen Christen und Juden.

Die Quadratur des Kreises, die Passionsspiele von antisemitischen Tendenzen zu befreien, mag gut gemeint sein, ist aber faktisch unmöglich. Deshalb forderte der bekannte britische Talmudphilologe Hyam Maccoby einen Verzicht auf kosmetische Korrekturen und ihre völlige Abschaffung als einzige angemessene Lösung, denn ihre Rolle bei der Belebung des Hasses und der Paranoia, die schließlich zum Holocaust führten, war zu offenkundig. Selbst der persönlich sympathische Christian Stückl stellt in einem Interview resigniert fest, „dass wir einen bestimmten Antisemitismus nie ganz rauskriegen, weil die 2000-jährige Beziehung der Christen zum Judentum so verpestet ist“.

 

Maccobys Theaterstück

Vielleicht gibt es zu einem Verbot eine vernünftige, liberale Alternative. Man könnte als Kontrast zu den Passionsspielen Maccobys Theaterstück „Die Disputation“ aufführen, zeitgleich, z.B. im Kleinen Theater in Oberammergau und auch unabhängig davon in allen kleinen und großen Städten der Bundesrepublik. Dieses Theaterstück basiert auf Maccobys Forschungen zu den historisch belegten und von der Obrigkeit geforderten mittelalterlichen Disputationen zwischen einem Rabbi und einem Priester, mit dem Zweck, die jüdische Bevölkerung zur Konversion zu bewegen, was als Voraussetzung für die Wiederkehr Christi betrachtet wurde. Nur eine der drei bekannten „Disputationen“ verdiente allerdings ihren Namen. Sie wurde im Jahre 1263 in Barcelona unter dem toleranten König Jakob von Aragon durchgeführt, der faire Bedingungen garantierte. Moses ben Nachman, mit seiner Bildung, seiner intellektuellen und moralischen Brillanz, geschult durch kämpferische Debatten mit anderen Rabbis, gewann diese Auseinandersetzung gegen den konvertierten Kleriker Pablo Christiani. Es ging um die Frage, ob der Messias schon gekommen sei und um die Frage nach der Göttlichkeit Jesu. Die Dominikaner verbreiteten nach ihrer Niederlage eine Schrift, die den Sachverhalt völlig verdrehte. In seiner „Vikuah“ stellte Moses ben Nachman das Ergebnis der Disputation richtig und musste daraufhin auf Druck von Papst Urban Spanien verlassen. In den USA und dem Vereinigten Königreich war dieses Theaterstück unter Leitung von Bob Kalfin und Theo Bikel als Rabbi ein echter Publikumserfolg und wurde von der BBC mit Christopher Lee als König Jakob sogar verfilmt.

Der Kontrast beider Theaterstücke, der Vergleich des jüdischen mit dem christlichen Blickwinkel auf die zentralen Vorstellungen beider Religionen, wäre sicher ein ideales Mittel zur Aufklärung. Kosmetische Maßnahmen, die zu „politisch korrekten“ Passionsspielen führen sollen, sind eher kontraproduktiv und gefährlich, vertuschen einen Antisemitismus, der doch nur überwunden werden kann, wenn man ihn freilegt und damit der Kritik zugänglich macht.

 

Peter Gorenflos, Berlin, November 2022, Herausgeber einer Maccoby-Trilogie bei Hentrich & Hentrich

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