Gutshof Neuendorf im Sande: Ein Ort der Erinnerung und der Zukunft

Wegweiser zum Gutshof Neuendorf im Sande

Rabbiner Igor Mendel Itkin begab sich für ein Seminar mit Kindern auf das ehemalige Hachschara-Lager „Gutshof Neuendorf im Sande“ bei Fürstenwalde in Brandenburg. Bis in die 30er Jahre diente das Hachschara als „Brücke ins Leben“, ein Ort, das Juden durch handwerkliche und landwirtschaftliche Ausbildung auf die Ausreise nach Palästina und andere Länder vorbereiten sollte. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde aus dem Landgut ein Zwangsarbeiterlager. Heute ist Neuendorf ein bemerkenswert kreatives Zentrum, wo für Alt und Jung eine Begegnung mit Juden möglich ist. (JR)

Von Igor Itkin

In den 1930er Jahren gab es in Brandenburg 15 Hachschara-Lager, wo Juden eine landwirtschaftliche Ausbildung durchliefen und sich auf die Auswanderung nach Palästina vorbereiteten. Hachschara bedeutet auf Hebräisch Vorbereitung, Ausbildung und so lernten sie Pflügen, Säen, Melken und Hebräisch mit dem Ziel das Land zu besiedeln und eine nationale Heimstätte für Juden aufzubauen. Das 1932 gegründete „Gut Neuendorf“ bei Fürstenwalde gehörte zunächst nicht zu solchen Stätten. Vielmehr war es eine Einrichtung der Jüdischer Arbeitshilfe e.V, wo junge arbeitslose Juden Landwirtschaft oder Handwerk erlernen konnten, mit dem Ziel, sich an die Folgen der Weltwirtschaftskrise anzupassen und Arbeit zu finden. Mit zunehmendem Antisemitismus wurde auch Neuendorf auf die Auswanderung umgestellt. 1941 wurde die Auswanderung von den Nazis verboten, alle Hachschar-Lager aufgelöst und Neuendorf in ein Zwangsarbeitslager umgewandelt. Zwei Jahre später wurden die Bewohner nach Ausschwitz deportiert und getötet. Nach dem Krieg wurde Neuendorf Volkseigenes Gut bis es 2018 von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben an den Verein ZuSaNe e.V. verkauft wurde. Dieser Verein hat sich zur Aufgabe gemacht, den Gutshof mit neuem Leben zu füllen, Wohnungen zu renovieren und Räume für handwerkliche, landwirtschaftliche, künstlerische und soziale Projekte zu schaffen.

Und so wurde ich nach Neuendorf eingeladen einen Workshop für eine 5. Klasse zu leiten. Die Anforderung war: Das Thema sollte eine Verbindung mit der Geschichte des Ortes haben, etwas traditionell jüdisches sein und einen praktischen wie theoretischen Teil haben. Um sich in die Geschichte des Ortes einzulesen, bekam ich einen elektronischen Stapel Papier, darauf Interviews mit Zeitzeugen; wissenschaftliche Publikationen über Neuendorf fehlen bis heute. Ich begann die Interviews zu lesen und war von der Geschichte und den Schicksalen hingerissen.

 

Eingebettet in einer dörflichen Atmosphäre

Wer zum Landgut will, fährt mit der S-Bahn bis Fürstenwalde und danach mit dem Auto oder Fahrrad. Der Verein organisierte einen Bus, der mich und die Schüler eine Berliner Schule von Fürstenwalde abholte. Vor dem Krieg fuhr eine schmalspurige Kleinbahn nach Neuendorf aber von der sind kaum noch Gleise übrig. Dort angekommen fühlte ich sofort die dörfliche Atmosphäre: ungepflasterte Wege auf denen Traktoren fahren, Stahlpflüge und andere Gerätschaften verrosten unbekümmert an den Seiten und rundherum Felder, soweit das Auge reicht.

Der 30 Hektar große Gutshof teilt sich zur Hälfte in Ackerland und zur anderen Hälfte in ein Wohnbereich mit Wald. Von den 17 Gebäuden sind 9 bewohnbar, der Rest umfasst Scheunen und Garagen. Das größte Haus des Gutshofs, „Schloss“ genannt, wo noch Familien aus der DDR-Zeit wohnen, wurde auf dem Fundament des abgebrannten Vorgängers gebaut. Als 1943 die Juden nach Ausschwitz deportiert wurden, hat der nichtjüdische Werkmeister aus Protest die Scheune angezündet, das Feuer breitete sich aus und brannte „das Schloss“ nieder. Später beging er Selbstmord. In diesem Gebäude stellten sich die Seminarleiter vor und gaben den Kindern die Aufgabe, die Geschichte des Ortes an einem Zahlenstrahl anzuordnen. Da ich für meinen Workshop Teig vorbereiten musste, ging ich über den Hof in ein anderes, kleineres Gebäude, wo sich die Gemeinschaftsküche befindet. Dort gibt es auch Gästezimmer und ein Gemeinschaftsklo. Wie viele andere Gebäude, entstand auch dieses in der DDR und da der Gutshof leider noch nicht erforscht ist, ist seine frühere Funktion unbekannt.

 

Ein Ort der Begegnung

Die Idee zu meinem Workshop war die folgende: Aus den Interviews erfuhr ich, dass es mehrere Gruppen unter den Lehrlingen gab. Die größte von ihnen bestand aus assimilierten Berliner Juden. Ursprünglich wollten sie in Deutschland Landarbeiter werden, später aber wollten sie nur weg, nach Argentinien, Großbritannien oder Palästina. Der andere Teil der Gruppe bestand aus Zionisten, sie wollten nach Palästina auswandern, um dort eine Heimatstätte für Juden aufzubauen. Manchmal gingen sie die anderen Juden an, weil diese ihre zionistische Leidenschaft nicht teilten und nicht nach Palästina wollten. Ein kleiner Teil von etwa 30 Personen gehört zu der Agudat Israel, einer politischen Bewegung der jüdischen Orthodoxie. Auch sie wollten nach Palästina, doch mit dem Unterschied zu den säkularen Zionisten, waren sie religiös. Sie hielten Schabbat und arbeiteten dafür am Sonntag, auch hatten sie eine eigene koschere Küche, buken an Pessach Mazot und hatten am Abend Tora-Unterricht. Ich, selbst orthodoxer Rabbiner, zog es vor, mich auf diese Gruppe zu konzentrieren und mit den Kindern Challah zu backen. Challah ist ein Zopfbrot aus Hefeteig mit Sesam, das Juden am Schabbat traditionell essen (mein Lieblingsrezept verlinke ich im Anhang). Da ich jeden Freitag Brot für Schabbat backe hielt ich es für eine gute Idee.

Mit Improvisation schafft man alles

Wenn man über den Hof geht, muss man vor vorbeifahrenden Traktoren aufpassen. Neben Pferden und Ziegen, gehören sie dem „Bäuerinnenkollektiv Lawine“. Diese Frauengruppe bewirtschaftet das Ackerland in Form einer solidarischen Landwirtschaft. Das bedeutet, die Abnehmer der Gemüseernte aus den umliegenden Dörfern zahlen einen monatlichen Festbetrag, unabhängig davon wie der Ertrag ausfällt. Darüber hinaus ist es ihr Ziel naturnahe Weideflächen aufzubauen und eine und eine Käseproduktion zu betreiben.

 

Improvisation und Gelassenheit

Im Flur des einstöckigen Gebäudes mit der Gemeinschaftsküche hängt ein Plan wer und wann die Böden gewischt, die Toiletten gereinigt werden und so weiter. Hier ist alles gemeinschaftlich organisiert. Neben den 20 Familien, die seit der DDR in ihren Wohnungen wohnen, sind die 25 Vereinsmitglieder teilweise auf Wohnwagen, Wohnung und Scheune verteilt. Die Gebäude sehen verkommen aus, die letzten Renovierungsarbeiten waren in den 60gern. Der Verein ist bemüht mit kleinen Schritten und Investitionen alles instand zu setzten, vieles durch eigene Improvisation und genau das verleiht dem Ort seine besondere Atmosphäre. Deshalb will ich von den kleinen Pannen und Improvisationen erzählen, die ich erlebt habe, damit die Leser einen Eindruck von der Gelassenheit der dort lebenden Gemeinschaft bekommen.

In dem Flur, der zur Küche führt, steht gegenüber den Toiletten ein Klavier. Die Tür zur Küche war geschlossen, doch neben der Tür war eine Bresche in der Wand, durch die man in den Raum reinschauen konnte. Aus der Bresche führten Schläuche in den Flur und dann in die Wand gegenüber. Diese Schläuche waren an einem zum Kamin umgebauten Traktor Motor angeschlossen und sollten die Wärme in andere Räume tragen. Die Idee war gut, nur leider waren die Schläuche undicht. Eine Funktion hat diese Konstruktion nicht mehr, ein Kunstwerk ist es allemal.

Die Küche war sehr groß und führte ohne Trennung in einen länglichen Raum, in dem ich den theoretischen Teil meines Workshops durchführen sollte. Im theoretischen Teil wollte ich den Kindern den Ablauf der Brotherstellung zeigen, wie es zur biblischen Zeit vom Pflügen, Säen, Ernten bis zum Backen stattgefunden hat. Hierzu habe ich eine Präsentation vorbereitet mit Bildern von originalen Artefakten, die man in Israel ausgegraben und die sich im biblischen Museum in Jerusalem befinden. Der Verein hat mir einen Beamer zur Verfügung gestellt. Die Steckdosen in diesem Zimmer waren mit Spinnennetzen überzogen und funktionierten nicht, zum Glück gab es ein Verlängerungskabel.

 

Zusammen Brot backen

Alle Zutaten für den Teig hatte ich schon vorher bestellt, denn die nächste Einkaufsmöglichkeit lag 5 km entfernt. Für den Teig brauchte ich 1 kg Mehl, 2 Säckchen Trockenhefe und 500ml warmes Wasser. Das warme Wasser ist nötig, damit die Hefe gärt, doch aus dem Wasserhahn kam nur kaltes. Man sagte mir, dass das Warmwasser vor längerer Zeit ausgefallen und noch nicht repariert wurde und dass ich den Wasserkocher benutzen soll. Zum Glück hatte jemand einen Thermometer, schließlich wollte ich die Hefe nicht abtöten. Ich steckte den Thermometer in den Wasserkocher und zog den Stecker bei 40° heraus. Dann gab ich die restlichen Zutaten dazu und der Teig war angesetzt. Damit die Hefe gärt, braucht es Wärme. Im Gegensatz zum „Schloss“ gab es in diesem Gebäude keine Heizung, außer das erwähnte Kunstwerk, das zwar beim Anblick das Gemüt wärmte, aber meinem Teig nichts nutzte. Da fiel mir auf, dass der Beamer eine angenehme Wärme ausstößt, der einzige Ort im Gebäude, wo ich mir die Hände wärmen konnte. Ich stellte die Schale mit dem Teig direkt neben dem Beamer, wo er während meines theoretischen Teils eineinhalb Stunden Zeit zum Gehen hatte. Die Kinder schauten immer wieder in die Schale hinein, um das Wachstum des Teiges zu beobachten und dieser wuchs vortrefflich. Neben der Herstellung des Brotes in der Antike erzählte ich den Kindern von einigen jüdischen Feiertagen und wie diese mit der Landwirtschaft und dem Zyklus der Jahreszeiten verbunden sind. Auch hatten wir Zeit für das hebräische Alphabet, jedes Kind schrieb eigenständig seinen Namen auf Hebräisch, zu meiner großen Überraschung schrieben die Kinder schöner als ich selbst.

Nach dem theoretischen Teil gab es eine kurze Pause, dann ging es ans Kneten und Backen. Hierbei hatten die Kinder Schwierigkeiten. Keiner hatte Erfahrung mit Teig, obwohl sie von einer Montessori-Schule stammen. Zwar waren sie am Anfang etwas ungeschickt, doch mit der Zeit gelangen es ihnen die Zöpfe zu kneten und zu flechten. Als alles fertig war, musste das Brot nur noch gebacken werden. Doch schon stand ich vor dem nächsten Problem. Der Backofen war groß und geräumig, doch er hatte zwei Mängel. Zum einen ließ er sich nicht komplett schließen, zum anderen schaltete er sich alle paar Minuten ab. Um den Ofen komplett zu schließen, gab man mir einen Balken, den ich gegen die Ofentür und den Boden anlehnte. So war die Tür zwar zu, aber dicht war sie trotzdem nicht. Am Balken hingen eine Schraube und ein Dübel, über ihre Funktion rätsele ich bis heute. Die automatische Abschaltung des Ofens war etwas kniffliger. Man sagte mir, dass der Ofen ständig auf Timer läuft; um ein Ausschalten zu verhindern musste man den plus Knopf mehrmals betätigen und den Timer auf diese Weise verlängern. Das Problem war, es gab keinen plus Knopf, es gab nur eine leere Öffnung aber da war kein Knopf drin und mir wurde schnell klar warum. Als ich nämlich auf den minus Knopf drückte, um zu sehen was passiert, sprang dieser heraus und landete auf dem Boden. Er war klein, schwarz und aus Plastik. Es kostete mir Zeit ihn finden. Als ich ihn fand, steckte ich ihn in die plus Öffnung und verlängerte so den Timer. Während der 30-minütigen Backzeit musste ich immer wieder den Balken entfernen und nach dem Brot schauen, da ich bereits gute Gründe hatte dem Ofen zu Misstrauen. Als das Brot endlich fertig war, waren alle erleichtert und kosteten das Brot, außer mir, denn der Ofen war nicht koscher, aber es machte mir nichts aus, da ich dieses Brot jeden Freitag zuhause backe.

Während die Kinder meiner Gruppe mit Brotbacken beschäftigt waren, nahmen die anderen Kinder an unterschiedlichen Workshops teil. Manche schnitzten einen Wegweiser aus einem Baumstamm und bemalten ihn, andere flochten einen Sichtschutz, andere wiederum jäteten Unkraut. Alle diese Arbeiten haben einen Zweck. Sie verschönern den Gutshof und hinterlassen bei den Kindern einen bleibenden Eindruck von der Handarbeit.

Der ganze Gutshof bedarf einer Renovierung. Gegenwärtig werden Spenden gesammelt für Fenster des denkmalgeschützten Stalls. Das Obergeschoß wurde bereits von Wandergesellen aufgebaut. Der Stall soll in Zukunft für Seminare Sportveranstaltungen genutzt werden. Im Grunde ist es eine unendliche Baustelle. Es erinnert mich ein bisschen an einen Hippie-Kibbuz, indem alle an einem Lebensraum locker arbeiten und zugleich das Leben genießen.

Viele Hände arbeiten am Aufbau der Bildungsstätte

Nachdem alles verzehrt wurde, machte ich mich an den Abwasch. Wie zu Beginn fehlte mir heißes Wasser, doch diesmal hatte jemand eine Lösung. Eigentlich gibt es heißes Wasser, nur dauert es bis man es hat und das funktioniert so: man geht auf die Toilette, wo die Dusche ist, stellt den elektrischen Durchlauferhitzer in die Steckdose, wartet eine Stunde, schraubt den Duschkopf ab, steckt den Schlauch in einen Eimer und füllt ihn mit heißem Wasser. Mit solchen Kleinigkeiten muss man sich in Neuendorf abmühen, aber es hat mir viel Spaß gemacht. Durch den Verzicht lernt man die selbstverständlichen Dinge höher schätzen.

 

Ein Ort der Erinnerung und der Zukunft

Der Gutshof hat auch einen großen Waldabschnitt. Dort gibt es eine Steinformation, wo Clara Grunwald, die Vorreiterin der Montessori-Pädagogik in Deutschland, Kinder unterrichtete und das Schreibverbot der Nazis umging, indem sie die Kinder mit Stöcken in den Sand schreiben ließ. Der ganze Ort ist ein Paradies für Kinder, sie können sich austoben oder ein Baumhaus bauen. Die Geschichte des Ortes ist im Museum dokumentiert. Es befindet im schwülen Keller und besteht aus Infotafeln über den Gutshof und über die Biografien einiger Überlebender. Eine von ihnen war die bekannte Zeitzeugin Esther Bejarano, die bis zu ihrem Tod mit der Band „Microphone Mafia“ in Neuendorf auftrat. Durch das Jahr finden Nachbarschaftsfeste, Theateraufführungen und Workshops statt.

Am Abend saß ich mit dem Vorstand zusammen, wir tranken Bier und sprachen über diesen wunderbaren Ort. Tanja Tricarico und Bernd Picker sind Journalisten bei der „taz“, Julia Cartarius ist Historikerin und Schullehrerin. Sie erzählten mir, welche Bedenken sie hatten, so einen Ort mit jüdischer Geschichte zu übernehmen. Aber letztendlich haben sie sich dafür entschieden, weil es für die meisten Juden ein Ort der Autonomie und Freiheit war, wo sie eine Zeitlang auch unter Nazi-Herrschaft sich selbst versorgen konnten und Juden unter Juden sein konnten. Das ist nicht nur ihre Perspektive. Nachkommen von Überlebenden reisen aus Israel nach Neuendorf, um die Lebensrealität ihrer Vorfahren zu begreifen. Einige von ihnen haben ein Denkmal errichtet und kommen jährlich.

Am nächsten Tag kam eine andere Klasse, der ich das gleiche Programm anbot. Am Nachmittag wurde ich nach Fürstenwalde gefahren und von dort aus nahm ich den Zug nach Berlin. Neuendorf, das neue und das alte, wird mir immer in Erinnerung bleiben, ich empfehle jedem, der an jüdischer Geschichte Interesse hat oder einfach nur aufs Land will, oder beides, einen Abstecher dorthin zu machen und dieses Hippie-Kibbuz zu erleben.

Mein Lieblingsrezept: https://mondaymorningcookingclub.com.au/recipe/ultimate-challah-recipe/

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