Rettung jüdischer Kulturschätze: Die „Papier-Brigade“ des Ghettos in Wilna

Szmerke Kaczerginski und die von ihm geretteten Bücher 
© Wikipedia / Jewish Museum with books saved by the Paper Brigade from Vilna Ghetto


Das litauische Wilna galt bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs als kulturelles Zentrum des ost-europäischen Judentums. Das „Jerusalem Europas“ beherbergte das YIVO, das Jiddische Wissenschaftliche Institut, wo tausende jüdische Bücher und Kunstschätze aufbewahrt wurden. Zur Erforschung der „Judenfrage“ wollten die Nazis 30 Prozent der Bücher einbehalten, der Rest sollte vernichtet werden. Eine Gruppe mutiger jüdischer Intellektueller aus dem Ghetto, die zur Arbeit im YIVO eingeteilt waren, schmuggelte unter Lebensgefahr Bücher, historische Schriften, Lieder, sowie auch Werke von Marc Chagall und retteten so einen Teil des jüdischen Erbes vor der Zerstörung. (JR)

Von Petr Lukimson

Die Geschichte der „Papierbrigade”, deren Mitglieder ihr Leben aufs Spiel setzten, um die kostbaren jüdischen Bücher vor den Nazis zu retten – diese Geschichte ist eine der erstaunlichsten und absolut jüdischen Geschichten, die mit der Shoa im Zusammenhang stehen. Sie bleibt bis heute nicht entsprechend erforscht. Aber die Tatsache bleibt die Tatsache: in den Tagen, als in Ghetto Wilna Hunger, Kälte- und Hungernot herrschten, retteten Juden als erstes nicht sich selbst, sondern ihre Bücher. Und für die Bücher waren sie bereit zu Sterben, denn sie wussten: ohne diese Bücher hat das jüdische Volk keine Zukunft. Im Jahr 2017 kam das Buch “The Book Smugglers: Partisans, Poets, and the Race to Save Jewish Treasure from the Nazis” von David Fishman heraus, in welchem das Geschehen von damals detailliert beschrieben wird. Dem folgte dann das Theaterstück „Die Geschichte der Papierbrigade“, das Hadas Kalderon, Enkelin des Dichters Avrom Sutzkever und Schauspielerin des israelischen Theaters „Bejt Lessin“ schrieb. Sutzkever war Mitglied der Papierbrigade und ist somit eine der Hauptfiguren in diesem Stück. Eine, aber bei weitem nicht die einzige.

Wenn Sie Wilna kennen, ist es sehr wahrscheinlich, dass Sie einmal an dem Wohnhaus in der Vivulskio Straße vorbeigingen, auf dessen Stelle sich einst das Gebäude des YIVO befand – der jüdischen Forschungseinrichtung, die 1935 zu einem der wichtigsten Zentren der jüdischen Kultur wurde. Hier wurden wissenschaftliche Magazine herausgegeben, fanden internationale Konferenzen statt, wurden Wissenschaftler ausgebildet. Und eine der umfangreichsten jüdischen Bibliotheken befand sich ebenfalls hier. Lucy Dawidovicz, die 1938 extra aus New York nach Wilna kam, um an diesem Institut zu promovieren, beschrieb es folgendermaßen: „Auf den Regalen lagen Drucke soweit das Auge reicht – hier wurden 200.000 registrierte Magazinartikel aufbewahrt. Dann warfen wir einen Blick in die Bibliothek, die 40.000 Bücher in ihrem Bestand hatte, darunter auch äußerst seltene. Das Pressearchiv in einem separaten Raum beinhaltete 10.000 Ausgabensammlungen der jüdischen Zeitungen aus aller Welt. In anderen Räumen befanden sich Archivsammlungen mit den Handschriften, Flyern, Broschüren, alten Dokumenten der jüdischen Gemeinde von Wilna. Kalmanowich erzählte mir auch von den ganz besonderen Sammlungen, die sich in YIVO befanden: dem Archiv von über 300 Autobiografien der jungen europäischen Juden – einer eigentümlichen und sehr wohl auch folkloreartigen sozialwissenschaftlichen Datensammlung. Wir sahen uns das Theatermuseum an. Hier waren Theaterplakate und -programme, Manuskripte und Arbeitstexte und -handschriften der jüdischen Theaterstücke gesammelt“.

 

Beginn des 2. Weltkriegs

Der Zweite Weltkrieg bricht aus. Litauen geht an die Sowjetunion und das Gebäude von YIVO verwandelt sich in das Institut der Lituanistik, in welchem nur eine jüdische Abteilung unter der Leitung von Noyekh Prilucki übrigbleibt. Jedoch wird der ganze Schatz, die jüdische Büchersammlung so weit unangerührt erhalten und Prilucki bündelt alle Kräfte darauf, um sie zu erhalten und zu schützen. Er organisiert weiterhin wissenschaftliche Konferenzen und Seminare, wenn auch die Hauptaktivität von YIVO nun in die New Yorker Filiale verlegt ist, die heute als Hauptsitz von YIVO weiter existiert.

Dann aber marschierten die Deutschen in Wilna ein und alles wurde auf einmal ganz schlimm. Für die Kommunisten war die jüdische Kultur „nur“ etwas abgelebtes, das nur auf den Müllhaufen der Geschichte gehört, für die Deutschen war sie aber als Begründung dessen bestimmt, warum man das jüdische Volk komplett auslöschen sollte. Alle Bücher und Materialien, die für die Bekräftigung dieser Vernichtunsidee benutzt werden konnten, galt es nach Deutschland zu überführen um in Frankfurt das „Museum der untergegangenen Rasse“ zu gründen. Alle sonstigen Materialien, vor allem die, die als „geistige Waffen“ gegen den Nationalsozialismus benutzt werden konnten, unterlagen der Vernichtung. Mit der Selektion war der Stab von Reichsleiter Alfred Rosenberg beauftragt und Wilna sollte neben Prag zu einem der wichtigsten Orte dieser Operation werden. Das ist der Grund, warum kurz nach der Besetzung der Stadt ein gewisser Dr. Johannes Pohl dort ankam. Ein fanatischer katholischer Priester, der zwei Jahre in Jerusalem verbrachte – dort studierte er Hebräisch und die Bibel an dem Orient-Institut der Hebräischen Universität. Nun war Dr. Pohl nach Wilna, in dieses „Jerusalem Litauens“, wie man es nannte, abkommandiert, um die Operation durchzuführen.

Seine Tätigkeit begann er damit, dass er die ins Ghetto verbrachte Bibliothek besuchte. „Mein Gott, dieser Deutsche spricht Jiddisch wie ein Jude, liest fließend Hebräisch und kennt nicht nur die Tora, sondern auch den Talmud!“ – sagte mit Erstaunen einer der Mitarbeiter der Bibliothek nach Pohls besuch.

Als er mit der Begutachtung des Bücherbestandes der Bibliothek und des YIVO-Institutes fertig war, realisierte Johannes Pohl, dass es alleine dafür weder zehn noch zwanzig Jahre ausreichen würden. Nein, er brauchte mindestens zehn, wenn nicht mehr Mitarbeiter, die sich auch noch in der jüdischen Welt- und Sakralliteratur auskennen würden. Und so beschloss Dr. Pohl, die Gefangenen des Ghettos für diese Arbeit heranzuziehen. Darunter waren ehemalige YIVO-Mitarbeiter Zelig Kalmanovich, Uma Olkienicka, Herman Kruk und viele andere. Die von ihm zusammengestellte Gruppe versuchte er, davon zu überzeugen, dass sie eine Art Retter des jüdischen Kulturschatzes sind, dass die Bücher nur in Deutschland, weit von der Front in Sicherheit verwahrt werden können. „Ich weiß nicht, ob Kalmanovich und wir alle die Retter oder die Totengräber unserer Kultur sind“, schrieb Herman Kruk damals in sein Tagebuch.

 

Rettungsplan für die Bücher

Da das weitere Schicksal der auszusortierenden Bücher schleierhaft war, beschlossen Kruk und seine Kollegen, die wertvollsten von ihnen in ein speziell dafür vorbereitetes Versteck im Ghetto zu bringen. Als am 3. März zum ersten Mal in Ghetto Purim gefeiert wurde, brachte Kruk die einzigartige Ausgabe des „Megilat Esther“ aus der Bibliothek heraus. Ein anderes Mal erwischte er einen Kollegen dabei, als dieser eine alte illustrierte Pessach-Hagada aus dem 18.Jahrhundert vernichten wollte. Als Kruk ihn fragte, was ihn zu diesem Schritt bewogen hat, antwortete der Mann: „Da sind auf einem der Bilder die ägyptischen Bogenschützen, die auf die Juden schießen. Ich wollte den Deutschen keine neue Idee geben“.

Indessen war Dr. Pohl äußerst unzufrieden mit dem Tempo der Arbeit. Er vermutete sehr wohl, dass die Bücher entführt werden, dass die Gruppe die ganze Arbeit sabotiert, er aber wollte selbstverständlich, dass diese Arbeit nach den höchsten Maßstäben der „deutschen Ordnung“ durchgeführt wird. Deswegen erweiterte er die Gruppe um vierzig weitere Arbeiter, darunter waren die jungen Dichter Avrom Sutzkever, Szmerke Kaczerginski, und, auf Kruks Bitte, Rakhele Pupko-Krinski. Alle Arbeiter mussten Intellektuelle sein, ihnen wurden entsprechende Arbeitsbedingungen geschaffen – geheizte Arbeitsräume, ausgestattet mit elektrischem Licht und eine weitere Essensportion, die Tee, Brot, ein Ei und Kartoffeln beinhaltete. Gleichzeitig waren sie unter ständiger Beobachtung gestellt und an den Gebäudeausgängen waren litauische Wächter platziert, die als „Polizajen“ im Ghetto fungierten. Die Brigade arbeitete in drei Gruppen geteilt: die eine sortierte die Bücher und Handschriften, die andere verpackte sie für den Abtransport nach Deutschland und die dritte hatte die grausamste Aufgabe bekommen, die Bücher, die als „unnötig“ eingestuft wurden, mit dem Papierwolf zu vernichten.

Mitglieder der Papierbrigade (von links nach rechts): Avrom Sutzkever, Rakhele Pupko-Krinski und Szmerke Kaczerginski im Ghetto Wilna, 20 Juli 1943.
© vilnacollections.yivo.org

Am 27 April 1942 bekam Pohl die Anordnung aus Berlin mit der genauen Proportionenangabe der Menge der auszusortierenden Bücher, nämlich 30:70. Nicht mehr als dreißig Prozent der Bücher sollten bewahrt werden, alle anderen unterlagen der Vernichtung. „Ich sortierte die Bücher die ganze Woche lang,“ schreibt Kalmanovich in sein Tagebuch, „mit meinen eigenen Händen schickte ich tausende von ihnen zur Vernichtung“.

Die Meinungen der Brigaden-Mitglieder bezüglich dessen, wie man sich nun in dieser Situation verhalten soll, teilten sich. Einige glaubten aufrichtig, dass sie Gutes tun indem sie das retten, was man retten kann, denn in Deutschland würden die Bücher ja in Sicherheit sein. Jedoch waren Sutzkever, Kaczerginski, Kruk und Pupko-Krinski sich darüber einig, dass die wichtigsten Schätze, Inkunabeln, die in der ersten jüdischen Bibliothek in Venedig herausgegeben wurden, die seltensten Tora-Ausgaben mit den Kommentaren von Raschi, die Tagebücher des Gaon von Wilna, das Tagebuch des jungen Theodor Herzls, die heiligen Tora-Rollen – dass das alles nicht in die Hände der Deutschen fallen durfte. Und so begannen Sutzkever und Kaczerginski mit der Ausarbeitung des Plans zu deren heimlichem Wegschaffen aus dem Bücherlager.

Es schien, dass man kaum zwei mehr unterschiedliche Typen wie diese Beiden finden konnte. Politisch und künstlerisch vertraten sie diametral entgegengesetzte Positionen und konnten sich vor dem Krieg gegenseitig nicht ausstehen. Der Krieg machte sie nun zu trauten Freunden.

 

Lebensgefährliche Schmuggelei

Die Methode, um die Raritäten aus dem Bücherlager herauszubringen, war einfach: Kaczerginski bastelte sich eine Art Bauchgürtel aus dem Tora-Мantel und brachte darin bis zu vier Bücher am Tag aus dem Bücherlager heraus. Auch Sutzkever nahm Bücher mit. Es gab noch eine weitere Methode: die Bücher wurden in großen Packpapierrollen herausgeschmuggelt. „Die Juden im Ghetto sahen uns an, als wären wir verrückt. Sie überlegten sich, wie man das Essen oder irgendwelche Sachen an den Deutschen vorbeischmuggeln kann, während dessen schmuggelten wir Bücher ins Ghetto“, erinnerte sich später Kaczerginski.

Die Freunde waren sich bewusst: sollten sie erwischt werden, wird man sie an der Stelle umbringen oder totprügeln. Sie machten jedoch weiter. Jeder von ihnen wurde aber tatsächlich je einmal erwischt. Bei Kaczerginski fand man bei einer Durchsuchung die „gestohlenen“ Bücher und Sutzkever verlor einmal den Briefwechsel von Scholem-Alejchem und Bialik – das Buch fiel aus seinem Hemd, als er die Wache passierte. Sie beide bekamen glücklicherweise nur „eine letzte Warnung“.

Die Ironie des Schicksals ist es, dass gerade Kaczerginski, der ein überzeugter Atheist war, in erster Linie religiöse Bücher rettete, weil er sich bewusst war, dass gerade diese das geistige Fundament der Nation bilden.

 

Schicksale

Die Beziehung zwischen Rakhele Pupko-Krinski und Schmerke Kaczerginski ist ein Kapitel für sich. Ein Jahr vor Kriegsbeginn heiratete Rakhele ihren Liebsten – Jozef Krinski, der wegen ihr seine Frau verlassen hat. Im August 1941 bekam das frischgebackene Ehepaar ihre Tochter Sara, und kurz darauf wurde Jozef in Ponara umgebracht. Rakhele schaffte es, das Mädchen an die Polin Wika Rodzewicz abzugeben, diese gab dem Kind den Namen Irene und gab die Kleine nun für ihre eigene Tochter aus. Von Zeit zu Zeit kam sie mit ihr zu dem Bücherlager und übergab sie an Rakhele, damit sie miteinander Zeit verbringen konnten. „Mama, diese Tante gefällt mir sehr!“, sagte Irena oft zur Wika über ihre Mutter.

Ab einem bestimmten Moment rückte der Verlustschmerz in den Hintergrund und Rackhele stellte fest, dass sie sich in Kaczerginski verliebt hat. Sein Mut und seine wundervollen Gedichte eroberten ihr Herz. Und er, ebenfalls ein junger Witwer, verliebte sich in Rakhele. Jedoch weigerte sie sich, das Andenken ihres Mannes zärtlichst aufbewahrend, das Bett mit Szmerke zu teilen.

Den beiden war es bestimmt, zu überleben. Als Szmerke jedoch nach dem Krieg Rakhele einen Heiratsantrag machte, sagte sie unter Tränen „nein“. Später reiste sie in die USA aus zusammen mit ihrer Tochter, die sich dort wieder Sara nennen konnte. Rakhele heiratete und wurde Inhaberin einer großen Geflügelfarm. Die Beziehung zur Wika Rodzewicz hielt sie bis zum Tod aufrecht und lud sie oft zu ihr nach Amerika ein. Szmerke Kaczerginski hingegen bekam keine Einreiseerlaubnis in die USA. Grund dafür waren seine zahlreichen Verbindungen zur kommunistischen Partei. Er wanderte nach Argentinien aus und wurde dort zu einer bedeutenden Figur der dortigen jüdischen Gemeinde. Er heiratete und bekam Kinder. Bei einem Flugzeugunglück kam er 1954 ums Leben. Bis zu seinem Tod schrieb er wunderschöne Gedichte für Rakhele. Diese Gedichte gehören heute der Klassik der jiddischen Dichtung an. Avrom Sutzkever schrieb zum Tod seines Freundes: „Ich küsse dein Leichnam und begieße deinen Leib mit Tränen“.

Das Schicksal Sutzkevers ist hingehend bekannt. Er überlebte, trat als Zeuge bei den Nürnberger Prozessen auf (dabei stand er immer und stoß einmal demonstrativ einen ihm gereichten Stuhl mit dem Fuß von sich), trug in sich einen Plan zu einem Anschlag auf den auf der Anklagebank sitzenden Göring aus, war jedoch durch Ilja Ehrenburg von diesem Plan wieder abgebracht worden. Dann kam er nach Israel, schrieb zahlreiche wirklich und ohne zu übertreiben große Dichtungen, Gedichte und Prosabücher, wurde mit allen erdenklichen Literaturpreisen ausgezeichnet und für den Nobelpreis für Literatur nominiert. Avrom Sutzkever starb in Tel Aviv im Alter von 96 Jahren.

Im Bücherlager ging es nicht nur um Rettung der Bücher. Einmal wurde dorthin ein Маschinengewehr verfrachtet, welches es weiter ins Ghetto zu überbringen galt. Genau in dem Moment, als Sutzkever das Maschinengewehr auseinandernahm, stürmten die Deutschen mit einer Kontrolle herein und der Dichter versteckte die Waffe hinter einem Gemälde von Chagall. Unglücklicherweise erwiesen sich die Deutschen als Kunstgenießer und fingen an, sich die Gemälde im Raum näher anzusehen. Da fing Sutzkever an konvulsiv zu Husten, sank zu Boden und die Deutschen zogen sich aus Angst, sich mit einer schlimmen Krankheit anzustecken, zurück.

Szmerke machte mit dem Herausschmuggeln der Bücher selbst dann weiter, als die Inspektion und Kontrolle an Wilhelm Keitel weitergegeben wurde. Der Keitel, der ein distinguierter Musikliebhaber und selbst kein schlechter Pianist war. Der Keitel, der gerne durch das Ghetto spazieren ging, um einem vorbeigehenden Juden eine Zigarette anzubieten. Als dieser die Zigarette nahm, fragte Keitel, ob sein Gegenüber auch Feuer wünsche. Wenn dieser nickte, schoss ihm Keitel in den Kopf.

Insgesamt hat die Papierbrigade während ihrer Tätigkeit die von ihr geretteten Bücher in mehr als zehn Verstecken sichergestellt. Dabei wurden die bestmöglichen Bedingungen für die Erhaltung der Bücher geschaffen sowie detaillierten Kataloge aller versteckten Bücher erstellt.

Die Bücher, die durch den Stab von Rosenberg nach Deutschland gebracht wurden, wurden 1945 von den Amerikanern in einer riesigen Lagerhalle in Offenbach bei Frankfurt gefunden. Im September 1946 wurde die einstige Doktorandin und inzwischen Mitarbeiterin des YIVO in New York Lucy Dawidowicz nach Deutschland geschickt, um die ehemaligen KZ-Gefangenen zu betreuen, die sich nun in der amerikanischen Besatzungszone befanden. Im Februar 1947 betrat sie die Lagerhalle in Offenbach – und sah tausende von Bücher, die in Holzkästen lagen. Diese zogen sich in einer langen Reihe über zwei Stockwerke. Da war alles, was geraubt wurde: die Inkunabeln, die Handschriften, die Tora-Rollen, sowie zahlreiche silberne Kerzenständer und Schmuckstücke für die Tora. “Von den hunderten von tausenden Büchern und Kultusgegenständen, diesen stummen obdachlosen Waisen, die ihre ermordeten Besitzer überlebten, kam ein schwerer Geruch des Todes. So wie die Menschen, haben auch diese traurigen Reste der einst blühenden Zivilisation ein Heim im Land des Amaleks gefunden. Das Blut erfror in meinen Adern bei dem Anblick all dieser Gegenstände“, schreibt Dawidowicz in ihrem Buch.

Das Gebäude von YIVO 1933.
© vilnacollections.yivo.org

Lucy kontaktierte sofort die Jewish Agency und teilte mit, dass sie die Bücher aus der Wilnaer YIVO-Bibliothek fand und bis Ende Februar machte sie 5000 Bücher für den Transport bereit. Man bat sie weiterzuforschen um noch weitere Bücher zu finden, die aus „Litauens Jerusalem“ geraubt und weggebracht wurden. Am 21 Juni 1947 wurden 420 Kisten mit Büchern in drei Waggons auf den Weg zum YIVO geschickt.

Ein etwas anderes Schicksal hatten die Bücher, die in Litauen blieben. Ein Teil von ihnen wurde an das litauische Staatsarchiv übergeben. Ein anderer Teil an die staatliche Bücherkammer. Die Sowjetunion weigerte sich beständig, die Bücher an ihre rechtmäßigen Eigentümer zurückzugeben. Auch die heutige litauische Regierung zählt diese Bücher zum litauischen Kulturschatz und verwehrt die Rückgabe. Nur das Kopieren der Bücher wurde „barmherzigerweise“ bewilligt.

 

Anmerkung des Übersetzers:

Heute setzt der Schauspieler und Sänger Mendy Cahan heldenhafte Aufgabe zur Rettung der alten jüdischen Bücher fort. In seinem Kulturzentrum „Yung Yidish“, das sich heute unter dem Dach der Zentralbusstation in Tel Aviv befindet und zu einem der spannendsten und wertvollsten Kulturorten Israels zählt, sammelte er in 30 Jahren an die 60.000 Bücher, sowie Zeitungen und Handschriften die in der jiddischen Sprache verfasst wurden.

 

Aus dem Russischen von David Serebryanik

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