Die deutsche Gesinnungsoligarchie: Gleichschaltung der Parteien, Medien und Meinungen
Wie steht es in Deutschland um die parlamentarische Parteiendemokratie?© John MACDOUGALL / AFP
Nach mehr als anderthalb Jahrzehnten Angela Merkel haben die ehemaligen Volksparteien wohl nun endgültig Abschied vom „Volk“ genommen. Die vormalige Kanzlerin richtete sich in ihrer Politik weder an den Kerninhalten ihrer bislang konservativen CDU noch am Mehrheitswillen des Volkes, sondern an der grün-linken Gesinnungsoligarchie in den Leitmedien aus. Dabei übernahm sie die Ideologien der SPD und vor allem der Grünen teilweise so sehr, dass diese kaum noch Anlass zur Opposition fanden. Machtstrategisch mag dies erfolgreich gewesen sein. Im Grunde hinterließ diese Strategie aber Erosionen in der politischen Mitte und in ihrer eigenen Partei. Keine wirklich hilfreiche Sinnesumkehr stellt auch das Verhalten des sich als konservativ gerierenden neuen CDU-Parteivorsitzenden Friedrich Merz, der seine Partei keinesfalls konsistent in Richtung ihrer ehemaligen Werte führt, sondern der umgehend widerruft und sich der grün-linken System-Change-Propaganda anpasst, sobald ihn die dortigen Gesinnungswächter zur Ordnung rufen. (JR)
Die Kennzeichnung der Bundesrepublik als parlamentarische Parteiendemokratie ist heute nur noch formal zutreffend, weil diese längst nicht mehr vom offenen Wettbewerb gekennzeichnet ist. Vielmehr herrscht ein faktischer Zusammenschluss der einstmals konkurrierenden Parteien zu einer Allparteienkoalition vor. Sie sind im weltanschaulichen Kern durch eine moralische Gesinnung verbunden, die partikulare Interessen – auch die ihrer jeweiligen Wähler – globalen Erwägungen unterordnet.
Da es sich nach ihrem Selbstverständnis um eine alternativlose Herrschaft der guten Gesinnung handelt, gilt im Umkehrschluss jede Kritik an ihrer Politik als böse. Die in anderen westlichen Ländern gängige Polarisierung nach Globalisten und Protektionisten ist durch die Abdrängung der Protektionisten verhindert worden. Diese Oligarchie wechselt nur Personen, aber keine Inhalte aus, denn kontroverse Diskurse würden dem Bösen nur Spielräume gewähren. Für die oligarchischen Minderheiten als moralische Eliten sind nicht Kompetenz oder Verfahren, sondern ist nur die Haltung entscheidend.
Die Selbstbehauptung des Gemeinwesens wird dem nachgeordnet. Die verblüffende Weigerung fast aller Parteien im Wahlkampf 2021, offenkundige Fehlentwicklungen auch nur anzusprechen, ergab sich aus ihren vorangegangenen machtpolitischen Verstrickungen. Jede Kritik wäre zur Selbstkritik geworden, die – wird sie dennoch geäußert – als Verrat betrachtet und sanktioniert wird, ob bei einem Verfassungsschutzpräsidenten oder bei einem Bundesbanker.
Die Volksparteien haben vom „Volk“ Abschied genommen, um sich problemlos in die Gesinnungsoligarchie einfügen zu können. Merkel richtete sich in ihrer Politik weder an ihrer Partei noch am Mehrheitswillen des Volkes, sondern an der Gesinnungsoligarchie in den Leitmedien aus. Mit ihrer asymmetrischen Demobilisierung konnte sie sich mit den Stimmungen der SPD und Grünen so gemein machen, dass diese keinen Anlass mehr zur Opposition fanden. Machtstrategisch war dies erfolgreich, aber geistig hinterließ diese im Grunde nihilistische Strategie Auszehrungen, die differenzierte Problembewältigungen erschweren.
Die Lehen
Die Korruption in Deutschland ist gewiss subtiler als in Afrika, verfolgt aber die gleichen Ziele, nämlich die Sicherung der Eigengruppe als Mittel zur Loyalitätsgewinnung. Nur handelt es sich hier um Parteifreunde und nicht um die größere Familie. Und sie bedient sich anderer Mittel des Zusammenhalts, nämlich der nationalstaatlichen Füllhörner, während viele Afrikaner die globalen Hilfestellungen auszunutzen versuchen.
Die Ernennungen hoher Beamter nach ihrer parteipolitischen Ausrichtung war immer ein Ärgernis. Solange die Parteien aber noch in Konkurrenz zueinander standen, blieben sie doch im Sinne des eigenen Interesses an Kompetenzen rückgebunden. Im heutigen Parteienkartell ist dies nicht mehr nötig. Jede Reise mit der Bundesbahn zeigt dessen ruinöse Folgen.
Dem Ahrtal wurde ein regelrechtes Kartell des Versagens zum Verhängnis, angefangen beim Bundesamt für Katastrophenschutz, geleitet von einem ehemaligen Bundestagsabgeordneten, bis zu den lokalen Größen, die nicht in der Lage waren, die Warnungen des Deutschen Wetterdienstes und des Europäischen Hochwasserwarnsystems an die Bevölkerung weiterzugeben.
Die Parteien in Deutschland haben sich nicht nur dem öffentlichen Dienst, sondern auch halbstaatliche Stiftungen und den öffentlichen Rundfunk zu Lehen genommen. Die an die hundert öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehstationen sichern die Macht vor dem Volk ab, welches mangels geistiger Alternativen die absurdesten Erklärungen der Regierungen nachreden müssen. Die von den Zwangsgebühren (9 Milliarden Euro im Jahr) finanzierten Sender beschallen die Massen mit den von der Oligarchie vorgegeben Meinungen.
Durch die Corona-Pandemie konnten auch noch die privaten Zeitungen des Landes mit Ersatzleistungen von 250 Millionen Euro „unterstützt“ werden, auf den Zusammenhang muss man erst einmal kommen. Die Medien, einst angeblich vierte Gewalt im Staat, sind heute ein Teil eines neofeudalen Staatswesens. Sie sind mit „der rhythmischen Fabrikation von öffentlicher Meinung zum direkten Widersacher der Meinungsfreiheit geworden.“ (Egon Flaig)
Eine wichtige Absicherung der Scheineliten gegenüber nachrückender Konkurrenz bilden die milliardenschweren Parteienstiftungen. Jedes kleine Amt hält eine ansonsten potenzielle innerparteiliche Opposition bei der Stange. Abweichungen werden umgehend mit Ausgrenzung beantwortet. So wurde ich von der liberalen Friedrich-Naumann-Stiftung aus ihrem Pool an Vortragsrednern aussortiert, weil ich bei ihr nicht genehmen Medien publiziere, wo sich Parteivorsitzende in der APO-Zeit beklagten, dass sie nicht mehr eingeladen werden. Mitgeteilt wurde mir dies nur vertraulich hinter der vorgehaltenen Hand.
In der bürgerlichen Agenda hatte immer die Selbstbehauptung des Gemeinwesens eine herausragende Rolle gespielt. Aber gegenüber der neuen Oligarchie ist sie selbst zum Opfer geworden, exemplarisch ist auch das Verhalten des als konservativ geltenden Friedrich Merz, der umgehend widerruft, sobald ihn die Gesinnungswächter zur Ordnung rufen. Er weiß, dass die Macht nicht mehr von der Mehrheit, sondern von den Medien als Hüter der Gesinnungsoligarchie vergeben wird.
Weltoffenheit als Ideologie
Die grüne Bewegung tritt gesellschaftspolitisch sowohl für eine entfesselte Individualisierung bis hin zu unzählbaren, biologisch gar nicht vorhandenen Geschlechtervarianten als auch für eine globalistische Menschheitspolitik ein. Ihre Gegnerschaft gegen alle Zwischeninstanzen von der Familie über den Nationalstaat bis zur westlichen Kultur sind folgerichtig.
Deshalb fanden die vorgeblichen Natur- und Umweltschützer, die in erster Linie Antikapitalisten waren, beim Kampf gegen den globalen Klimawandel erst zu sich selbst. Die kollektiven Instanzen zwischen Individuum und Globalität finden sie „zum Kotzen“ (Robert Habeck zu Deutschland), weil sie einer radikalen Entfesselung des Individuums und den One-World-Phantasien im Wege stehen. Gemäß einer am Überleben der Menschheit ausgerichteten Politik sind Verbraucherinteressen auch von sozial Schwachen, wenn sie der Ökosphäre schaden, moralisch illegitim.
Im Globalismus tritt die eigene moralische Selbstüberhöhung an die Stelle einer schon evolutionär gebotenen Selbstbehauptung. Das größenwahnsinnige Anliegen, sich für die ganze Menschheit zuständig zu fühlen, entlastet Globalisten im Umkehrschluss aber von der konkreten, lokalen Sorge. Statt um entsprechende Kompetenzen appellieren sie lieber an moralische Gebote hinsichtlich weltweiter Ziele. Für die Sorge um Rückhaltebecken und funktionierende Warnsysteme im Ahrtal blieb der grünen Umweltministerin keine Zeit.
Die Konzentration auf lokale, regionale und nationale Interessen steht unter dem Verdacht des Protektionismus, die auf nationale Interessen steht unter dem Verdacht des Nationalismus. Die politischen Koordinaten haben sich so verrückt, dass das Streben nach Selbstbehauptung einer Region oder Nation als rechts und damit als böse gilt.
Zur ideologisierten Weltoffenheit gehört die spiegelbildliche Verachtung von Grenzen. Im Kampf gegen den Schutz des Eigenen hat die links-grüne Bewegung ihre vordringlichste innenpolitische Aufgabe gefunden. Jede konkrete Abwägung über die Vorteile von globaler Offenheit oder lokalem Schutz wird unterbunden. Die Strafen für abweichende Gesinnung werden stetig erhöht. Das maoistische Prinzip „Bestrafe Einen, erziehe Hundert“ hat sich als wirksam erwiesen, dass von denjenigen, die noch was werden wollen, keine Widersprüche mehr zu erwarten sind. Die „offene Gesellschaft“ wird statt gegenüber ihren äußeren Feinden nur gegenüber denjenigen verteidigt, die mehr Protektion des Eigenen einfordern. Ihre einst offenen Diskurse sind im gleichen Maße verschwunden, wie die Weltoffenheit zugenommen hat.
Die ersatzreligiöse Bereitschaft zum Selbstopfer beruht immer auf dem Glauben an die Universalität des Fortschritts – eine Art profanierter „Vorsehung“. Wenn dieser Glaube etwa in Afrika ständig wiederlegt wird, so liegt dies an unserer kolonialen Schuld. Statt Selbstverantwortung herrscht Fremdverantwortung.
Herrschaft des akademischen Prekariats
Der Verlust der offenen Rede schlägt in die Herrschaft der radikalen Vereinfacher um, der „terrible simplificateur“, etwas variiert: der schrecklichen Vereindeutiger. Mangels eigener Kompetenzen entwickeln diese Politiker eine Art „Kompetenzsimulationskompetenz“, bis hin zu abgeschriebenen Doktorarbeiten. Die Hauptvereindeutigung erfolgt über die Moralisierung nahezu aller Sachverhalte.
Angesichts der oligarchischen Verstrickungen ist es nur folgerichtig, dass der Niedergang des einen mit dem Niedergang anderer Funktionssysteme verbunden ist. Die gegenseitige Absicherung der Oligarchien hebelt neben der Eigenlogik der Funktionssysteme zunehmend die Gewaltenkontrolle aus. Selbst im Bundesverfassungsgericht wurden die vorherrschenden Staatsrechtsprofessoren durch Parteisoldaten ersetzt.
Unterdessen ist das akademische Prekariat bis in die höchsten Ämter und schließlich bis in die Regierung vorgestoßen. Alexis de Tocqueville hat die Demokratie als „Herrschaft der Mittelmäßigen“ gekennzeichnet, was nicht abwertend gemeint war. In der derzeitigen Oligarchie des akademischen Prekariats droht aber ein solides Mittelmaß zur Ausnahme zu werden. Das Niveau sinkt immer tiefer, weil Prekarier schon aus Selbstschutz keine exzellenten Mitarbeiter neben sich dulden.
Die Herrschaft des akademischen Prekariats lässt das Niveau des Staatsdienstes immer tiefer sinken. Für den Erwerb von Kenntnissen über die Weltkulturen fänden Politiker in den Parteigliederungen keine Anerkennung. Dementsprechend gibt es im Bundestag (das zweitgrößte Parlament der Welt nach der chinesischen Volkskammer) kaum Experten für Außenpolitik. Und dies in einem Land, dem die äußeren Beziehungen immer wieder zum Schicksal geworden und in dem die meisten innenpolitischen Probleme Folgen internationaler Konstellationen sind.
Eine parlamentarische Demokratie beruht auf dem Ideal, dass beim Streit der Meinungen am Ende den Sachproblemen der Vorrang gebührt. Nur mit einem Primat der Sache – so Gerd Held – haben parlamentarische Debatte und Beschlussfassung einen grundlegenden Wert für das Staatswesen. Die offene Erörterung der Sachprobleme und der Alternativen bei der Lösung seien Schlüsselelemente der Entscheidungsfindung.
Unsere Oligarchen suchen aber nach konflikt- und schmerzfreien Lösungen wie denen des billigen Geldes durch künstliche Geldvermehrung. Diese erweckt den Eindruck, man könne sich die Mühen der Kapitalbildung durch Wertschöpfung ersparen.
Nachdem die politische Linke dem Volk die Kündigung ausgesprochen hat, kam im Gegenzug der sogenannte Populismus auf, in dem sich die lokalen und nationalen Interessen neu zu artikulieren versuchten. Die Berufung auf das Volk gilt, ganz anders als im Grundgesetz, aber als „völkisch“ und bietet damit neuen Anlass zur Ausgrenzung. Die Populisten lassen sich nicht mehr nach einem horizontalen Links-Rechts Schema einordnen, eher schon in ein vertikal verlaufendes: das Volk gegen die Schein-Eliten.
Selbstbehauptung als neuer Minimalkonsens
Uns droht der Übergang vom Niedergang der westlichen Kultur zum Untergang der westlichen Zivilisation. Die Zivilisation als Summe aller Funktionssysteme hat nach dem Dahinschmelzen ihrer kulturellen Voraussetzungen noch einige Jahrzehnte standgehalten. Jetzt sind ihre kulturellen Voraussetzungen soweit aufgebraucht, dass nur ein Wideraufbau der kulturellen Voraussetzungen neue Chancen bietet.
Eine Realität, die nicht mehr am Ideellen teilhat, ist laut Hegel dem Untergang geweiht. Für die Zeit danach würden vor allem neue Eliten gebraucht und ihre Heraufkunft müsste in Akademien und Tagungen vorbereitet werden. Letztlich brauchen wir nicht weniger als eine neue, diesmal bürgerliche Kulturrevolution, die Innovation durch Konservierung hervorbringt. Nationales Interesse, Familie, christliche Wurzeln, Europa, Natur, Freiheit, also Rückschritte zu den besseren Elementen unserer Kultur.
Die unverhohlene Herausforderung des Westens durch China und der ruchlose Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine haben die Hoffnungen auf eine regelbasierte und wertegestützte Weltordnung zerstört. Der Globalismus ist zwar tot, aber dessen Widergänger regieren noch immer. Mit der Fühlbarkeit der lange nur abstrakten Gefahren könnten sich Panik, aber auch eine gegenseitige Nachdenklichkeit verbreiten.
In dieser „Zeitenwende“ (Olaf Scholz) treten neue Formen der Selbstbehauptung auf, wenn etwa Sozialdemokraten in Dänemark den Sozialstaat durch eine Verschärfung des Asylrechts sichern wollen und „Sondervermögen“ für die Bundeswehr aufgelegt werden. Aus grünen Pazifisten wurden über Nacht die eifrigsten Befürworter von Waffenlieferungen. Wenn einstige Wehrdienstverweigerer in der deutschen Regierung wie der Kanzler und Vize-Kanzler für die nationale Selbstbestimmung der Ukrainer eintreten, können sie dies dem eigenen Staat nicht länger verweigern. Einen ähnlichen Gang nach Canossa steht den Globalisten bevor, wenn die Folgen der Migrationsströme die wohlhabenden Stadtteile der Gesinnungsethiker zu überfordern beginnen.
Ist der Schutz des nationalen Sozialstaates links oder rechts? Ist die Gleichberechtigung der Geschlechter gegenüber der Scharia liberal oder konservativ? Die alten Begriffe helfen nicht mehr zu begreifen und gehen an den Themen der Zeit vorbei. Die wichtigste Unterscheidung verläuft zwischen Globalisten und sich vor der Weltoffenheit fürchtenden Protektionisten.
Der fortdauernde Bezug auf das alte Koordinatensystem behindert uns bei der Suche nach glokalen Mittelwegen. Aber am Ende werden auch diese Gegensätze zu Gegenseitigkeiten und glokalen Synthesen transformiert werden müssen, wie schon beim Konflikt zwischen Kapital und Arbeit in der Sozialen Marktwirtschaft.
Alternde Gesellschaften brauchen sowohl Einwanderung als auch Sozialstaatlichkeit. Eine gesteuerte Migration erfordert kontrollierte Formen der Offenheit und differenzierte Formen der Protektion. Die komparativen Kostenvorteile im Freihandel sind unabdingbar für die Entwicklung von Wohlstand. Über die Grenzen des weltweiten Wettbewerbs zugunsten lokaler Qualitäten könnten Kompromisse gefunden werden.
Auch der die Protektionisten spaltende Widerspruch zwischen nationaler und europäischer Akteursebene lässt sich im Paradigma der Selbstbehauptung aufheben. Die viel zu kleinen nationalen Staaten wären nur noch Anhängsel von imperialen Machtblöcken. Statt um den Ausstieg aus den bisher zu weltoffenen Bündnissen, sollte es um deren Transformation zu sich begrenzenden und uns darüber schützenden Bündnissen gehen.
Nur ein starkes Deutschland trägt zu einem „Europa, das schützt“ (Macron), bei und umgekehrt kann nur ein starkes Europa Deutschland schützen. Die nationalen Ängste vor dem Verlust von Souveränität ließen sich durch subsidiäre Strukturen relativieren. Je mehr Kompetenzen die EU nach außen benötigt, desto mehr Kompetenzen sollte sie den Nationalstaaten nach innen überlassen.
Globalismus und Nationalismus heben sich in einem neuen Großraum auf, der sich aus seiner Leistungsfähigkeit in der Problembewältigung definiert. Dieser Großraum könnte sich zudem in eine multipolare Welt besser einfügen. Die gegenseitige Eindämmung, Koexistenz und Kooperation zwischen den Machtpolen würden von der gescheiterten globalen zu einer multipolaren Weltordnung überleiten.
Europäische Nachbarn gehen uns mit neuem Realitätssinn voran. Ihre Bereitschaft zum Grenzschutz könnte die Deutschen vor sich selbst retten. Aber warum erweisen sich die Deutschen als so besonders realitätsfern? Neben geistesgeschichtlichen Erklärungen von der traditionellen deutschen Veranlagung zur romantischen Überhöhung der Wirklichkeit, die sich heute in einem naiven Welt- und Menschenbild niederschlägt, dürfte dies mit der guten wirtschaftlichen Lage Deutschlands in den vergangenen Jahrzehnten zu tun haben.
Wohlstand und Sicherheit haben den Sinn für Notwendigkeit und Selbstbehauptung verkümmern lassen. Das gute Leben wurde als voraussetzungsloses Recht wahrgenommen, wodurch die Pflicht des Bewahrens des von Vorfahren mühsam Erreichten vergessen wurde.
Heraufziehende Nöte könnten noch mehr Konflikte, aber auch neue Bescheidenheit und Dankbarkeit hervorrufen. Wenn aus dem Zerplatzen der ersatzreligiösen Utopien neues Denken über unsere Grenzen und unsere Endlichkeit gerinnt, wird auch die Sorge um das Eigene wieder als moralische Pflicht gelten. Nach all der Dekonstruktion muss – mit oder ohne die alte Oligarchie – mit der Rekonstruktion und Selbstbehauptung unserer Ordnung begonnen werden.
Heinz Theisen ist Professor für Politikwissenschaft. Zuletzt erschien von ihm: „Selbst Behauptung – Warum Europa und der Westen sich begrenzen müssen“
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