Ein Meer verschwindet

Die tiefst gelegene Bar der Welt: 420 Meter unter Normalnull
© WILIPEDIA

Das Tote Meer wird von drastischen Veränderungen und Wasserknappheit bedroht. Allein im vergangenen Jahr sank der Pegelstand um 1,10 Meter. Ginge es im gleichen Tempo weiter, könnte vom Toten Meer in 50 Jahren nur noch eine Pfütze Wasser übrig bleiben. Hilfe erwartet Israel in diesem Zusammenhang auch von der neuen Beziehung mit den Golfmonarchien. Die Vereinigten Arabischen Emirate sollen ein Pipeline-Projekt zwischen Israel und Jordanien mitfinanzieren, das die Wasserentnahme aller Beteiligten aus dem Jordan reduzieren und damit das Tote Meer retten soll. (JR)

Von Felix Lehmann

Am Kalya Beach, einem Strand am Nordende des Toten Meeres, ist viel los. Musik dröhnt aus den Lautsprechern, Menschen lassen sich auf dem Wasser treiben. Die Stimmung ist ausgelassen. Ein Transparent weist Badegäste darauf hin, dass sie die tiefst gelegene Bar der Welt erreicht haben, 420 Meter unter Normalnull. Der lange Weg zum Wasser führt durch eine Einöde aus Sand und Gestrüpp. Zum Schluss geht es noch eine Holztreppe hinab. An der Straße blickt Linda Stein über die Wüstenlandschaft und schildert das ökologische Drama, das sich seit Jahrzehnten am Toten Meer abspielt. „1973 war das Wasser hier, wo ich stehe. Jetzt müssen wir noch einen Kilometer laufen, bevor wir an den Strand gelangen.“ Jahr für Jahr dokumentiert die rüstige Seniorin und Umweltschützerin aus dem nahe gelegenen Kibbuz Kalya den Rückzug des Wasserspiegels. Jedes Jahr aufs Neue müssen die Bars und Geschäfte näher an die Uferlinie heran verlegt werden. „Wenn ich Menschen zum Meer bringe, frage ich sie: Was wollt ihr in 20 Jahren sehen? Das hier?“ Sie deutet auf die Einöde aus Sand und Gestrüpp, die noch vor wenigen Jahren vom Meerwasser bedeckt war. „Oder den Badestrand?“

Das Tote Meer entstand vor rund zwei Millionen Jahren als Überbleibsel des Tethys, dem Vorläufer des Mittelmeers. Als sich die Arabische und die Afrikanische Kontinentalplatte voneinander trennten, ließen die tektonischen Verschiebungen die Jordansenke entstehen, die tiefstgelegene Region der Welt. Aufgrund der hohen Verdunstung durch das Wüstenklima liegt der Salzgehalt im Toten Meer bei rund 34 Prozent, das ist zehnmal so viel wie im Mittelmeer. Wegen der vielen Mineralien ist die Wasserdichte höher als in den Weltmeeren, sodass die Schwerkraft hier nach anderen Regeln spielt: Wer in das Wasser eintaucht, treibt wieder an die Oberfläche, als trüge er Schwimmflügel an Armen und Beinen.

 

Wasserverlust beschleunigt sich

Aber am Toten Meer findet eine ökologische Katastrophe statt. Anfang 2022 lag der Wasserspiegel am tiefsten Punkt der Welt nach Angaben der israelischen Wasserbehörde 436 Meter unter Normalnull. Bis in die 1930-Jahre war das Niveau der Wasseroberfläche relativ konstant bei etwa minus 390 Metern. Forscher warnen, dass sich der Wasserverlust weiter beschleunigt. Allein im vergangenen Jahr sank der Pegelstand um 1,10 Meter. Geht es so weiter, wird vom Toten Meer in 50 Jahren nur noch eine Pfütze Wasser übrig sein.

Östlich der Straße 90, Israels Nord-Süd-Verbindung entlang der Grenze zu Jordanien, warnen signalgelbe Schilder vor der Mondlandschaft, die sich vom Ufer des Toten Meeres landeinwärts erstreckt. Das Betreten ist lebensgefährlich. Grund sind die Sinkholes, die sich tausendfach im Boden rund um das Tote Meer auftun. Diese Verwerfungen im Erdreich sind eine Folge der Bodenerosion. Durch den sinkenden Wasserspiegel zieht sich auch das Meerwasser aus dem Untergrund in der Umgebung zurück. Die Salzablagerungen bleiben. Strömt Grundwasser aus den unterirdischen Quellen nach, werden die Salze ausgewaschen. So entstehen Hohlräume, die mit der Zeit einbrechen und riesige Erosionstrichter hinterlassen. Seit den 1980er-Jahren sind rund 6000 solcher Dolinen am Toten Meer entstanden, und jedes Jahr kommen 700 neue hinzu. Spaziergänger sind schon vom Untergrund verschluckt worden. Manche Krater sind sogar so groß, dass ganze Gebäude darin verschwinden könnten. In dem Ort Mitzpe Shalem, rund 20 Kilometer südlich von Kalya, stürzte vor sieben Jahren der Parkplatz in ein riesiges, fünf Stockwerke tiefes Loch.

 

Erinnerungen bewahren

In einem Hummus-Restaurant in Tel Aviv wartet Ari Leon Fruchter. Der Mittvierziger, der eigentlich aus dem Softwaremarketing stammt, erinnert sich noch gut an seine Aufenthalte am Toten Meer. Als Kind war er oft mit seinen Eltern dort. Als er von einem Freund und Fotografen von der ökologischen Katastrophe erfuhr, beschloss er, die Dinge in die eigene Hand zu nehmen. So entstand das Dead Sea Revival Project. „Dass etwas stirbt, bedeutet nicht, dass man davor weglaufen sollte. Im Gegenteil: Wenn du es liebst, dann möchtest du mehr Zeit damit verbringen, du möchtest sein Leben verlängern, so gut du kannst“, erzählt er.

Wenige Kilometer von den Ufern des Toten Meeres entfernt, in der Kleinstadt Arad, plant Fruchter die Errichtung eines Museums. Doch da für den geplanten Bau noch Investoren fehlen, erschuf er kurzerhand ein virtuelles Museum im Internet. Auf der Fahrt von Jerusalem ans Tote Meer sei der Wasserverlust gar nicht erkennbar. „Doch was vielen nicht bewusst ist: Es gibt keinen Zugang zu den Stränden mehr.“ Ausgerechnet am Mineral Beach bei Mitzpe Shalem wollte Fruchter ein Kunstprojekt realisieren, doch die Anwohner warnten ihn vor der Gefahr durch die Sinkholes. „Fünf Jahre später ist dann der gesamte Strand weggebrochen“, erinnert er sich.

 

Das Meer hat sich geteilt

Durch die zunehmende Wasserverdunstung hat sich das Meer in ein Nordbecken und ein Südbecken aufgeteilt. Im Südbecken hat der israelische Chemiekonzern Israel Chemicals Limited, kurz: ICL, künstliche Terrassen angelegt, an deren Ufern die beliebten Badeorte En Bokek und Neve Zohar mit ihren luxuriösen Wellnesshotels liegen. Damit der Pegelstand bei den Hotels konstant bleibt, pumpt das Unternehmen Wasser aus dem Nordbecken durch einen Kanal in die Badepools. Dort steigt der Wasserstand sogar. Unbehelligt von der Verwüstung im Nordabschnitt können die Badegäste in dem künstlich geschaffenen Areal im Wasser treiben und Zeitung lesen. Am Südende des abflusslosen Beckens, wo sich der Legende nach das biblische Sodom befunden haben soll, betreibt der ICL die Kalisalzanlage Dead Sea Works. Gemeinsam mit der jordanischen Arab Potash Company leitet das Unternehmen Wasser in Verdunstungsbecken, um die wertvollen Mineralien des Toten Meeres auszubeuten, vor allem Kalium, Bromid und Magnesium. Die verbliebene Salzlake wird zurückgepumpt und dient den Touristen als Badewasser. Die dafür notwendigen Konzessionen erteilt die israelische Regierung.

 

Raubbau am Toten Meer

„Die Dead Sea Works sind die wahren Erben von Sodom und Gomorrha“, flucht Linda Stein. „Als die anfingen, das Wasser abzupumpen, hat niemand etwas gesagt. Damals dachten die Leute, das Wasser sei eh zu nichts nutze. Und sie müssen gar nichts dafür bezahlen.“ 985 Millionen Kubikmeter Wasser verliert das Tote Meer jedes Jahr. Davon sind 285 Millionen Kubikmeter direkt auf die Aktivitäten der Dead Sea Works und der Arab Potash Company zurückzuführen. Und je stärker der Wasserspiegel sinkt, desto höher wird die Konzentration der Mineralien und umso höher der Profit. Ein Teufelskreis. Bis mindestens zum Jahr 2030 läuft die Lizenz des Konzerns für den Raubbau am Toten Meer. Doch ICL ist der größte Arbeitgeber in der strukturschwachen Wüstenregion des Negev und einer der größten Konzerne Israels. Und die aus den Mineralien gewonnenen Düngemittel werden angesichts der Klimaveränderungen und der wachsenden Weltbevölkerung dringend in der Landwirtschaft benötigt.

Das Wasser zieht sich jährlich immer mehr zurück


 

Jordan einzige Süßwasserquelle

Banyas, am Fuß der Golanhöhen. Hier hat einer der wichtigsten Zuflüsse des Jordan seinen Ursprung. Die heißen Quellen am südwestlichen Ausläufer des mächtigen Hermon dienten schon vor 2000 Jahren dem römischen Statthalter Herodes als Erholungsort. Der Banyas entspringt tief im Gestein des 2814 Meter hohen Berges, rauschend und tosend bahnen sich die gewaltigen Wassermassen ihren Weg hinab ins Tal. Gemeinsam mit dem Dan und dem aus dem Libanon kommenden Hasbani vereinigt er sich wenige Kilometer flussabwärts in den Jordan, der noch etwas weiter südlich in den See Genezareth strömt. Die starken Regenfälle in den vergangenen Jahren haben den See gut gefüllt, doch der Degania-Damm am Südende bleibt geschlossen. Akribisch achtet die israelische Wasserbehörde darauf, dass Israels einziges natürliches Süßwasserreservoir gut gefüllt bleibt. Auf seinem Weg nach Süden passiert der Jordan die Mündung des Yarmuk, der aufgrund von Trockenheit und Staudämmen entlang der syrisch-jordanischen Grenze kaum noch Wasser führt. Für viele Menschen in der Region ist der Jordan die einzige Süßwasserquelle.

Der Zugang zu Wasserquellen entscheidet in dieser Weltgegend über Krieg und Frieden. Dürre, vertrocknete Grundwasserreservoirs, schlechte Ernten, hohe Lebensmittelpreise und die anhaltende Repression des Assad-Regimes bildeten das explosive Gemisch, das sich 2011 im syrischen Bürgerkrieg entlud. In Jordanien, Israels östlichem Nachbarn, aber auch in den „Palästinensischen“ Autonomiegebieten, ist die Wirtschaft schwach und die politische Stabilität fragil. Und überall ist das Wasser Mangelware, sowohl als Trinkwasser als auch für die Bewässerung der Plantagen. Das hat Folgen für das Tote Meer. Spülte der Jordan vor 100 Jahren noch rund 1300 Millionen Kubikmeter Wasser jährlich in den Salzsee, so ist der Zustrom heute auf weniger als 200 Millionen Kubikmeter gesunken. An der Jordanmündung rund 160 Kilometer südlich von Banyas tröpfelt nur noch ein schwaches Rinnsal ins Tote Meer.

 

Rettung muss profitabel sein

Die einzige Möglichkeit, das Tote Meer wieder mit Leben zu füllen, ist die künstliche Zufuhr von Wasser. Seit Jahrzehnten diskutieren Experten, Umweltschützer und Politiker über die Errichtung von Bewässerungsrohren und -kanälen, entweder vom Mittelmeer oder vom Roten Meer ausgehend, damit endlich die Trendwende eingeleitet wird. Eine Milliarde Kubikmeter Wasser pro Jahr werden benötigt, um den Pegelstand des Toten Meeres stabil zu halten. Und das für einen sehr langen Zeitraum. Samuel Willner von der Universität Haifa hat sich eingehender mit den Pipelineprojekten auseinandergesetzt. Diskutiert werden solche Pläne bereits seit den 1980er-Jahren, als noch die Energieerzeugung im Vordergrund stand. Der Grundgedanke ist einfach: Das Gefälle entlang der Jordansenke eignet sich ideal für die Erzeugung von Strom durch Wasserkraft. Für Willner der einzige Dreh- und Angelpunkt, um die Rettung des Toten Meeres auch für Investoren profitabel zu machen. Denn die Pipelineprojekte werden mit Gesamtkosten von rund zehn Milliarden US-Dollar veranschlagt, die Gewinnmarge ist gering.

Neben den Kosten ist auch der genaue Verlauf der Bewässerungsrohre umstritten. Eine Wasserzufuhr vom Roten Meer durch den Golf von Akaba macht eine enge Abstimmung mit Jordanien erforderlich. Gemeinsame Projektideen gab es, doch die politischen Beziehungen zwischen Israel und dem haschemitischen Königreich sind seit Jahren belastet. Vergangenes Jahr zog Amman den Stecker und stieg aus dem Projekt aus. Als Grund wurden die politischen Turbulenzen in Israel genannt. Denn in Jerusalem herrscht jahrelanger politischer Stillstand. Lange Zeit konnten weder Ex-Premier Benjamin Netanyahu noch sein Herausforderer Naftali Bennett eine Parlamentsmehrheit erringen. Als es Bennet zwischenzeitlich gelang, eine fragile Regierungsmehrheit zu schmieden, fanden sich in der neuen Regierung viele Minister, die der Umweltbewegung nahestehen. Der Wille zur Problemlösung ist da, doch Bennets hauchdünne Mehrheit in der Knesset, dem israelischen Parlament, ist bereits wieder perdu. Die nächsten Wahlen stehen an. Und für den Mittelmeerkanal fehlt der israelischen Regierung das Geld. Ein künstlicher Zufluss vom Mittelmeer birgt zudem Risiken für das Ökosystem der Jordansenke. Die Folgen eines solchen Experiments könne niemand absehen, fürchtet Willner. Durch die Vermengung des sulfatreichen Mittelmeerwassers mit der kalziumhaltigen Sole des Toten Meeres könnten sich Gipskristalle bilden. Ebenso besteht das Risiko, dass sich das salzärmere Wasser des Mittelmeeres als oberste Schicht auf dem Toten Meer ablagert und dessen besondere Eigenschaften zunichtemacht. Die berühmten Bilder von Menschen, die im Toten Meer treiben und Zeitung lesen, könnten dann für immer der Vergangenheit angehören.

Rettung aus dem Golf?

Einen Hoffnungsschimmer gibt es. Im vergangenen November unterzeichneten Israel und Jordanien eine Absichtserklärung zur Wassernutzung: Israel liefert dem Königreich 200 Millionen Kubikmeter Trinkwasser pro Jahr aus seinen Entsalzungsanlagen am Mittelmeer, im Gegenzug stellt Jordanien Solarenergie bereit. Das könnte dazu führen, dass das Königreich weniger Trinkwasser aus dem Jordan entnehmen muss und die Wassermenge, die ins Tote Meer fließt, dadurch steigt. Finanziert wird der Deal von den Vereinigten Arabischen Emiraten.

Doch das wird bei Weitem nicht ausreichen. Die Hoffnungen ruhen auf einer politischen Revolution im Nahen Osten. Und die findet bereits statt. Von europäischen und insbesondere deutschen Beobachtern weitgehend ignoriert, zeichnet sich in der arabischen Welt eine der größten diplomatischen Umwälzungen seit mehr als 70 Jahren ab. Im September 2020 schlossen die Vereinigten Arabischen Emirate und das Königreich Bahrain Frieden mit Israel. Vier Monate später folgte der Sudan. Saudi-Arabien hält sich noch bedeckt, gilt aber als nächster Friedenskandidat. Gegenstand der Abraham-Abkommen genannten Verträge sind nicht nur die Normalisierung der diplomatischen Beziehungen mit dem jüdischen Staat, sondern auch der Ausbau der wirtschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Zusammenarbeit. Die Finanzierung der Pipelineprojekte rückt damit näher.

In der Bar am Strand von Kalya wird immer noch gefeiert. Linda Stein blickt über das Meer. „Wir können das Meer nicht vollständig wieder auffüllen, aber wir können den weiteren Verfall stoppen. Es ist unsere Entscheidung, ob wir das Tote Meer retten wollen oder nicht.“

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